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„Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Prozesse und Urteile 3/3

Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen lassen nicht locker und zwingen die Strafverfolgungsbehörden praktisch dazu, weiter zu ermitteln, bis Urteile gesprochen werden können.  

Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter und Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. Dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025. 

 

Teil 1: Das Attentat 

Teil 2: Die Suche nach den Hintermännern

Teil 3: Prozesse und Urteile 

Quelle Graty

„Sie wurde ermordet“: Kundgebung vor dem Innenministerium in Kyjiw am 4. November 2018. An diesem Tag ist Kateryna Handsjuk den Verbrennungen durch einen Säure-Anschlag am 31. Juli 2018 in Cherson in einem Kyjiwer Krankenhaus erlegen. / © Danil Shamkin/ IMAGO / Ukrinform 

Ende Juli 2020 überwies die Staatsanwaltschaft den Fall von Olexii Lewin und Wladyslaw Manher ans Gericht. Die beiden wurden beschuldigt, den Säure-Anschlag auf die Chersoner Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Auftrag gegeben zu haben, an dem sie Tage später im Krankenhaus starb. Am 18. August 2020 eröffnete Richterin Julija Iwanina die Verhandlung des Falles. 

Zur Eröffnungsverhandlung erschien Lewin fast nackt. Auf der verglasten Anklagebank, dem Aquarium, hatte er nicht mehr als eine zerrissene blaue Unterhose an. Er behauptete, dass er in der Untersuchungshaftanstalt gezwungen worden sei, gegen Manher auszusagen. Bevor er zum Gericht gebracht wurde, habe man ihn ausgezogen und ihm nicht erlaubt, sich normal anzuziehen. Das Aufsichtspersonal versicherte jedoch, dass Lewin sich selbst entkleidet und sich danach geweigert habe, vor Gericht zu erscheinen. Deshalb habe man ihm in diesem Zustand bringen müssen. Lewins Körper wies keine Anzeichen von Einwirkung äußerer Gewalt auf.  

 

Druck 

Während des Prozesses gegen Manher und Lewin berichteten Ihor Pawlowsky sowie zwei weitere Zeugen erneut von Druck seitens der Angeklagten. 

Pawlowsky behauptete, er habe sich 2019 zunächst geweigert, dem Deal mit den Ermittlern zuzustimmen. „Ich wurde bedroht: Wenn ich im Prozess gegen Manher aussagen und ihn Mykolajowytsch nennen würde, würden meine Familie und die meiner Tochter Probleme bekommen“, so Pawlowsky vor Gericht. 

Im Januar 2020 war Pawlowsky erneut verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft verdächtigte ihn der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Vor Gericht sagte er aus, er sei in Untersuchungshaft von Leuten aufgefordert worden, nicht gegen Manher auszusagen. Andernfalls drohten sie ihm, das Genick zu brechen. 

„Wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen“ 

Aber Pawlowsky wurde nicht nur bedroht, sondern man habe auch versucht, ihn zu bestechen. Er behauptete, dass ihm Lewin persönlich nach seiner Festnahme 20.000 Dollar dafür angeboten habe, wenn er nicht gegen ihn und Manher aussagte, doch er weigerte sich. 

Zwei von Pawlowskys Mitarbeitern berichteten ebenfalls von Morddrohungen. Beide bestanden darauf, dass es Lewins Idee war, sich die Aktivisten vorzuknöpfen. Pawlowsky habe nur gelacht und gemeint, dies sei Unsinn.  

Die zwei behaupteten auch, dass sie kurz vor dem Angriff auf Handsjuk vor Pawlowskys Büro ein Gespräch zwischen Lewin und Torbin mithörten: „Serhii, wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen, Mykolajowytsch ist wütend“, berichtet Pawlowskys Mitarbeiter Pawlo Pylypenko später vor Gericht. Torbin habe Lewin gegenüber versichert, dass seine Jungs schon „arbeiten“ würden. 

Beide Mitarbeiter Pawlowskys betonten vor Gericht, dass sie bedroht würden.  

Pylypenko saß zu diesem Zeitpunkt wegen Ermittlungen zu gewaltsamen Protesten am 4. Mai 2018 vor der Bezirksverwaltung in Oleschky in Untersuchungshaft. Er behauptete, eines Tages sei ein Wachmann der Haftanstalt zusammen mit 14 anderen Personen in seine Zelle gekommen und habe gesagt, dass er in Schwierigkeiten sei. Er wählte die Nummer des stadtbekannten Banditen Wiktor Batar und stellte den Anruf auf laut.  

„Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann“ 

Batar drohte dann: Wenn Pylypenko „gegen einflussreiche Leute“ aussagen würde, würde er sich „kümmern“. Anschließend erhielt Pylypenko einige Ohrfeigen. Doch er ließ sich nicht beirren, stimmte einem Deal mit den Ermittlern zu und erhielt eine zweijährige Bewährungsstrafe. Im Gegenzug sagte er vor Gericht gegen Lewin und Manher aus. 

Als weiterer wichtiger Zeuge der Anklage sagte Serhii Torbin vor Gericht aus, dass Lewin ihn 2021 per Telefon gebeten habe, nicht auszusagen. Zu jenem Zeitpunkt befand sich Lewin in Untersuchungshaft und Torbin im Gefängnis. Torbin zeichnete eines dieser Gespräche auf und präsentierte es während seiner Vernehmung vor Gericht am 15. Juni 2022: 

„Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann. Mach verdammt nochmal keine Aussage. Lass dich nicht blicken, hau ab. Für mich gibt’s keinen anderen Ausweg. Gehe nicht vor Gericht“, zitierten Reporter des ukrainischen Onlinemediums Watchers die Stimme der Sprachaufnahme, welche der von Lewin ähnelt. 

Richterin Julija Iwanina fragte Lewin, ob er sich hierzu äußern wolle, woraufhin dieser sich auf sein Recht nach Artikel 63 der Verfassung berief, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage verweigerte. 

Nicht feststellen konnten die Ermittler, wie und wann Manher Lewin gesprochen und bezahlt hat 

Wladyslaw Manher und Olexii Lewin bestritten, Druck auf Zeugen ausgeübt zu haben. Wenn jemand Druck auf die Prozessbeteiligten ausgeübt habe, dann seien es die Ermittler und Staatsanwälte gewesen.  

Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass Wladyslaw Manher erstmals Anfang Juli 2018 an einen Angriff auf Kateryna Handsjuk gedacht habe. Er habe dann Lewin vorgeschlagen, den Anschlag zu organisieren. Danach wendete sich dieser an Torbin und der wiederum an seine Kameraden. Nicht feststellen konnten die Ermittler allerdings, wie und wann Manher mit Lewin kommuniziert hatte.  

Laut der Anklage bezahlte Manher die Dienste aller Beteiligten. Nicht festzustellen war jedoch, wie er Lewin bezahlt habe. 

 

Mykolajowytsch 

Serhii Torbin und Ihor Pawlowsky bezeugten vor Gericht, Lewin habe ihnen persönlich gesagt, dass Manher den Angriff auf Kateryna Handsjuk in Auftrag gegeben habe.  

Torbin wurde noch einmal am 15. Juni 2022 vor Gericht befragt. Ende Februar 2023 wurde er in die Streitkräfte mobilisiert.  

Torbin behauptete, dass Lewin und Manher eine „super Beziehung“ gehabt hätten. Oft habe man sie zusammen am Flussufer oder in Restaurants angetroffen. Torbin betonte, dass Lewin Manher oft Mykolajowytsch und manchmal Glatzkopf nannte.  

„Bei einem unserer Treffen fragte ich Lewin, wer es denn nötig habe, Handsjuk eins auszuwischen? Lewin meinte, ‚Mykolajowytsch will es‘. Als ich nachfragte, ob das Manher sei, sagte er ‚Ja‘“, so Torbin vor Gericht.  

Manher und Lewin bestritten nicht, dass sie sich kannten. Jedoch betonten sie, dass sie nicht befreundet seien, sondern sich nur gelegentlich über gemeinsame Freunde trafen, da ihre Ehefrauen befreundet waren.  

Lewin sagte, er habe Manher bei seinem Vor- und Vatersnamen genannt: Wladyslaw Mykolajowytsch. In seinem Telefon habe er ihn als „Boss“ abgespeichert, weil er bestimmte, was in der Region geschah. Beide bestritten, dass Lewin Manher beraten habe. Auch konnten sie sich nicht daran erinnern, worüber genau sie am Tag des Angriffs auf Handsjuk am Telefon gesprochen hätten. Doch sei es sicherlich um Fragen im Zusammenhang mit der Unterstützung von ATO-Veteranen gegangen.  

Richter beraten sich im Handsjuk-Prozess gegen Wladyslaw Manher 2019 in Kyjiw.  / © Sergii Kharchenko / IMAGO / Ukrinform 

Ihor Pawlowsky bestätigte, dass Lewin Manher Mykolajowytsch nannte. Vor Gericht erinnerte er sich daran, dass er Manher nach der Kundgebung vor der Regionalverwaltung kennengelernt habe. Damals hatten Lewin und Torbin am 6. Juli 2018 die Kundgebung zur Unterstützung der Stadtoberen organisiert. Lewin hingegen bestritt, dass er die Kundgebung vor der Regionalverwaltung von Cherson organisiert und den Teilnehmern Geld gezahlt habe. Er habe lediglich bei den Unterstützern von Manher gestanden. Einige Tage nach der Kundgebung erhielt Pawlowsky einen Anruf von Lewin, dass er und Mykolajowitsch bald in seinem Büro vorbeischauen würden.  

Während des Treffens, erinnert sich Pawlowsky, kamen sie auf Handsjuk zu sprechen, die Manher öffentlich der Korruption und illegalen Abholzung beschuldigte. „Genau kann ich mich nicht erinnern, ob es Manher oder Lewin war, der meinte, dass es Zeit sei, ihr das Maul zu stopfen“, sagte Pawlowsky vor Gericht. Er habe den Drohungen gegenüber Handsjuk aber keine Bedeutung beigemessen. 

Lewin bestand darauf, dass sie bei diesem Treffen nicht über Handsjuk gesprochen hätten. Er wiederholte vor Gericht abermals die Geschichte, die er noch in Bulgarien den Journalisten von slidstvo.info über das Treffen in Pawlowskys Büro erzählte hatte. Er sei lediglich dafür gewesen, Handsjuk mit Seljonka zu übergießen. Pawlowsky und Torbin waren schließlich dafür gewesen, sie mit Fäkalien zu übergießen und anschließen zu fotografieren.  

„Wir haben den Angriff bestellt. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht“ 

Vor Gericht erinnerte sich Pawlowsky an einen anderen Vorfall, da Lewin in einem Gespräch mit ihm Mykolajowytsch erwähnte – am 3. August, dem Tag, an dem der erste Verdächtige, Nowikow, verhaftet wurde. An jenem Tag sei er mit einem Assistenten in seinem Büro gewesen. Plötzlich stürmte ein aufgeregter Lewin herein. Vor Gericht gab Pawlowsky das Gespräch wieder: 

„Er fragte, ob wir einen Anwalt hätten und ob wir wüssten, was passiert sei. Wir fragten: ‚Was ist passiert?‘ Er sagte: ‚Sie haben Torbin verhaftet.‘ Ich stellte die Frage: ‚Warum wurde gerade der festgenommen?‘ Er antwortete: ‚Weißt du das denn nicht? Die haben Kateryna Handsjuk übergossen‘. Ich fragte: ‚Warum haben sie das getan?‘ Und ich zitiere hier wörtlich. Er antwortete: ‚Nun, wir haben einen Angriff auf Kateryna Handsjuk bestellt.‘ Ich fragte ihn: ‚Wer ist wir? Und warum?‘ Er antwortete: ‚Ich und Mykolajowytsch. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht.“ 

Pawlowsky rief dann Torbin an, doch der nahm nicht ab. Schließlich erreichte er Torbins Frau, die ihm mitteilte, dass er betrunken sei und zu Hause schlief. Als Lewin feststellte, dass die Polizei Torbin nicht verhaftet hatte, beruhigte er sich. 

„Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?“ 

Lewin bestritt das Gespräch nicht, sagte aber, es habe nur unter vier Augen stattgefunden. Als Pawlowsky Torbin weiter nicht erreichen konnte, sei er nervös geworden. 

„Ich sagte ihm: ‚Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?‘ Als es ihm klar wurde, liefen seine Lippen blau an und sein Gesicht wurde bleich. Er hatte schon immer Probleme mit seinem Blutdruck und ich fragte ihn, ob ich einen Krankenwagen rufen solle. Doch er machte nur eine Geste mit der Hand: ‚Setz dich“, so Lewins Version des Gesprächs. 

Er behauptete, dass Pawlowsky mit Hilfe einer Wahrsagerin nach Torbin suchte. Die Frau hieß Anna, war zwischen 30und 35 Jahre alt und laut Torbin Pawlowskys Lebensgefährtin. Nach einigen Prozeduren versicherte sie Pawlowsky, dass Torbin nicht verhaftet worden sei. 

„Als wir nach einiger Zeit Torbin fanden, sagte Ihor: ‚Siehst du, Anna hat es vorausgesagt. Sie sieht alles‘“, erklärte Lewin. Er bestritt, Pawlowsky gesagt zu haben, dass er und Manher Torbin den Angriff Handsjuk befohlen hätten.  

 

Motiv 

Manher betonte vor Gericht immer wieder, dass er den Angriff auf Handsjuk nicht befohlen habe und sie nicht mal gut kenne und deshalb kein Motiv gehabt habe, sie zu töten.  

Doch der Staatsanwaltschaft zufolge wollte Wladyslaw Manher Handsjuk für eine Weile aus dem öffentlichen und politischen Leben der Region Cherson verschwinden lassen. Deshalb habe er den Angriff auf sie angeordnet. 

Auch laut Kateryna Handsjuks Aussage im Krankenhaus hatte er ein Motiv, allerdings machte sie vor ihrem Tod keine näheren Angaben zum Konflikt mit Wladyslaw Manher. Erst ihr Vater Wiktor Handsjuk sowie mehrere Unterstützer berichteten Details  vor Gericht. 

Der renommierte Chersoner Journalist Serhii Nikitenko erinnerte daran, dass der Konflikt bis ins Jahr 2014 zurückreichte. Nach dem Sieg der Revolution der Würde fanden im Frühjahr vorgezogene Präsidentschafts- und Kommunalwahlen statt. Im Herbst gab es Neuwahlen zur Werchowna Rada. Damals gab Kateryna Handsjuk ihre Arbeit in der regionalen Sportförderung auf und kehrte in die Politik zurück. Und kandidierte für die Partei Batkiwschtschyna für den Stadtrat und das Regionalparlament von Cherson.  

Handsjuk war bereits nach der Orangenen Revolution 2006 in die Partei von Julija Timoschenko eingetreten und Stadträtin in Cherson geworden. Nach den Kommunalwahlen 2012 verließ Handsjuk jedoch die Politik und begann als Journalistin und Selbstständige mit internationalen humanitären Organisationen zusammenzuarbeiten.  

Während des Euromaidan trat Kateryna Handsjuk häufig bei Protesten gegen prorussische Einflussnahme auf. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Herbst 2014 kandidierte sie nicht mehr, dafür aber Wladyslaw Manher. 2016 wurde sie Mitglied, Beraterin und Abteilungsleiterin im Chersoner Stadtrat. 

Vor Gericht erklärte Nikitenko, dass Manhers Wahlkampfstab das vom Zentrum für politische Studien und Analysen entwickelte Konzept der Rechenschaftspflicht für öffentliche Gelder gestohlen habe, in welchem Nikitenko als Experte und Handsjuk als regionale Vertreterin tätig waren.  

„Es war ein großes Projekt, an dem wir lange gearbeitet haben und in der Presse darüber berichteten. Später fanden wir auf Wahlkampfmaterialien heraus, dass Wladyslaw Manher das Konzept als das seine deklarierte“, so Nikitenko vor Gericht.  

Jedoch half das Manher nicht. Er wurde nur Dritter bei der Wahl. 

Wladyslaw Manher in der MOST-Recherche ”Es gibt Grenzen: Wer sind Sie, Mister Manher?” / Screenshot Youtube-Kanal MOST 

Im folgenden Jahr, 2015, beschloss Wladyslaw Manher, für das Amt des Bürgermeisters von Cherson zu kandidieren. Nach der schlechten Erfahrung wollte er diesmal als Kandidat einer politischen Partei antreten. Im Sommer desselben Jahres bewarb er sich um die Mitgliedschaft in der Partei Batkiwschtschyna.  

Dies rief den heftigen Protest einiger Parteimitglieder hervor, darunter von Kateryna Handsjuk. Auf einer Parteiversammlung, auf der über die Aufnahme von Manher in die Partei entschieden wurde, veranstaltete Handsjuk ein regelrechtes Verhör. Außerdem nahm sie die Sitzung auf und gab die Aufnahme später an Nikitenko weiter.  

Handsjuk befragte da Manher zu seiner Mitgliedschaft in der Partei der Regionen und zu seiner Tätigkeit als Mitarbeiter von deren Abgeordeneten Shurawko.  

Manher selbst sagte später vor Gericht, dass er nie Parteimitglied und nur elf Tage Assistent von Shurawko gewesen sei. Dies habe ihm 2013 geholfen, den Leitungsposten der Agrarinspektion in der Region Odesa zu bekommen. Da er Mitarbeiter eines Abgeordneten war, durchlief er ein vereinfachtes Auswahlverfahren. Gleichzeitig betonte er weiterhin, dass er sich an eine solche Befragung nicht erinnern könne und Handsjuk nicht kenne.  

Manher kandidierte für Batkiwschtschyna, Handsjuk leitete Wahlkampf eines Konkurrenten. 

Katerynas Vater und ihre Unterstützer betonten jedoch, dass Kateryna und mehrere andere Kollegen ihre Mitgliedschaft im September 2015 eben wegen der Aufnahme Manhers in die Partei beendet oder ausgesetzt hätten.  

Daraufhin kandidierte Manher als Batkiwschtschyna-Kandidat für das Bürgermeisteramt in Cherson. Handsjuk leitete den Wahlkampfstab ihres ehemaligen Parteikollegen Wolodymyr Nikolajenko. Dieser kandidierte jedoch als parteiloser Kandidat und erhielt im ersten Wahlgang die meisten Stimmen, jedoch weniger als 50 Prozent, sodass ein zweiter Wahlgang die Entscheidung brachte. 

Wladyslaw Manher belegte im ersten Wahlgang den dritten Platz, während der zweite Platz an den damaligen Bürgermeister Wolodymyr Saldo ging, der als Kandidat für die Partei Nasch Kraj antrat. Vor dem zweiten Wahlgang zog Saldo seine Kandidatur zurück, sodass am Ende Manher gegen Nikolajenko antrat. Doch die Intrige scheiterte und Nikolajenko gewann die Stichwahl. Manher wurde Mitglied des Regionalparlaments. Die Konfrontation zwischen Handsjuk und Manher blieb bestehen.  

Nach der Wahlniederlage strebte Manher den Posten des Vorsitzenden des Regionalparlaments an. Handsjuk ihrerseits versuchte, ihn daran zu hindern. Sie schrieb kritische Beiträge über ihn auf Facebook und unterstützte den Journalisten Nikitenko bei investigativen Recherchen, die er unter anderem über Manher in seinem Nachrichtenportal MOST veröffentlichte. Dennoch wählten ihn die Abgeordneten am 27. September 2016 mit einer Mindestzahl an Stimmen zum Parlamentssprecher.  

Kateryna Handsjuk führte ihre Kritik an Manher fort. Auf ihre Anregung hin veröffentlichte Nikitenko auf dem gemeinsamen YouTube-Kanal MOST einen mehrteiligen Investigativfilm mit dem Titel Es gibt Grenzen über den Kampf lokaler Clans um die Kontrolle der städtischen Wasserversorgers von Cherson.  

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich MOST bereits zu einem ernstzunehmenden Investigativmedium entwickelt. Handsjuk und Nikitenko widmeten den letzten Teil der Reihe ausschließlich dem Parlamentsvorsitzenden Manher. Die Folge Wer sind Sie, Mr. Manher? erschien am 16. Juli 2017. Kateryna Handsjuk, die offiziell Verwaltungsbeamtin war, wird im Abspann nicht erwähnt. 

Kateryna ließ den Film direkt auf das Parlamentsgebäude projizieren. Darin behauptet Nikitenko, dass Manher den Posten des Vorsitzenden der Regionalversammlung durch politische Korruption erlangt habe und den Abgeordneten im Gegenzug für ihre Zustimmung die Kontrolle über kommunales Land und Unternehmen versprochen habe.  

Kateryna sagte nach dem Angriff auf Nikitenko, sie sei als Nächste dran 

Manher gefiel der Film nicht, und er klagte gegen MOST und Nikitenko. Nachdem die Journalisten die ersten beiden Instanzen verloren, entschied im Mai 2018 der Oberste Gerichtshof zu Gunsten der Journalisten und wies Manhers Klage wegen Verleumdung ab. Einen Monat später, am 18. Juni, wurde Nikitenko von Unbekannten überfallen und verprügelt. Handsjuk und er vermuteten Manher hinter dem Angriff. 

Katerynas Vater Wiktor Handsjuk erinnerte sich vor Gericht daran, dass seine Tochter nach dem Angriff auf Nikitenko sagte, sie sei als Nächste dran.  

Wladyslaw Manher betonte dagegen vor Gericht, dass er Handsjuks kritische Veröffentlichungen nicht ernst genommen habe. Er habe auch nicht gewusst, dass Kateryna Mitautorin von Nikitenkos Film war. „Das war eine einzige Lüge, deshalb rieten mir die Anwälte dies nicht zu ignorieren und wie zivilisierte Menschen vor Gericht zu ziehen“, betonte Manher vor Gericht und fügte hinzu, dass er nach der Entscheidung des Obersten Gerichts den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen habe, der seine Klage zur Prüfung angenommen habe. 

Im Januar 2020 wandte sich Manhers Anwalt tatsächlich an den EGMR. Doch konnte in keiner öffentlich zugänglichen Quelle eingesehen werden, ob das Gericht Manhers Klage annahm. 

Manher bestand darauf, dass er nichts mit dem Angriff auf Nikitenko zu tun hatte.  

 

Der General 

Bei seiner Anhörung vor Gericht am 13. Februar 2019 präsentierte Wladyslaw Manher gar noch eine alternative Überlegung darüber, wer den Angriff auf Kateryna Handsjuk beauftragt habe. Er beschuldigte den SBU-General Danylo Dozenko für das Verbrechen verantwortlich zu sein.  

Dozenko war 2017 Leiter der Hauptabteilung des SBU in der Region Cherson, zuvor Leiter des Geheimdienstes für die Krim, aber in Cherson stationiert. Im Jahr 2018 beförderte der Präsident Dozenko in den Rang eines Generalmajors. Zuvor war er als Offizier der Spionageabwehr nach Kyjiw versetzt worden, wo er schließlich die Abteilung für den Schutz der nationalen Staatlichkeit leitete. 

„Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“ 

Manher behauptete, dass Kateryna Handsjuk mit dem SBU zusammengearbeitet habe und Dozenko direkt unterstellt gewesen sei. Laut Manher habe der Chersoner SBU-Chef kriminelle Vereinigungen gebildet, die in illegale Abholzung und Erpressung verwickelt gewesen seien. Dies sei der Grund, warum Dozenko in Konflikt mit der Polizei geriet.  

„Ich glaube, dass Danylo Dozenko den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen hat, um die Polizei zu diskreditieren. Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“, sagte Manher und behauptete, „unwiderlegbare Beweise“ zu haben.  

Eine SBU-Pressesprecherin bezeichnete die Aussage von Manher als absurd, unbegründet und verleumderisch. Und: „Ich schließe nicht aus, dass sein Ziel darin bestand, die zahlreichen Beweise, die der ukrainische Inlandsgeheimdienst gegen ihn gesammelt hat, zu diskreditieren, um zu erreichen das der Fall einer anderen Strafverfolgungsbehörde übergeben wird.“ 

Während des Prozesses erzählte Manher seine Version der Geschichte: Er behauptete, Dozenko habe den Film Wer sind Sie, Mr. Manher? bei dem Journalisten Nikitenko bestellt. Auf Anweisung der Präsidialverwaltung sollte Manher als Mitglied der Oppositionspartei Batkiwschtschyna diskreditiert werden. Deren Vorsitzende Julija Tymoschenko wurde seinerzeit bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen als Hauptkonkurrentin von Petro Poroschenko gehandelt. 

Manher behauptete, dass er nach der Veröffentlichung des Films den amtierenden Leiter der Agrarinspektion in der Region Odesa kontaktiert habe, der zuvor sein Stellvertreter gewesen sei. Dieser behauptete, er habe ein von Dozenko unterzeichnetes Schreiben erhalten, das Informationen über Strafverfahren gegen Manher abfragte. Da keine bekannt waren, schickte der Leiter der Agrarinspektion lediglich Informationen über Verfahren gegen Mitarbeiter der Inspektion.  

„Diese Zahlen wurden in Nikitenkos Film so präsentiert, als seien dies Verfahren gegen mich gewesen“, argumentierte Manher vor Gericht. 

Informationen über alle drei Strafverfahren, die laut Nikitenko während Manhers Tätigkeit bei der Agrarinspektion eröffnet wurden, waren im Register über Gerichtsentscheidungen nicht auffindbar. 

Kateryna arbeitete als Aktivistin mit dem SBU in der Region Cherson zusammen, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen 

Katerynas Vater Wiktor Handsjuk bestätigte vor Gericht, dass sowohl er als auch seine Tochter Danylo Dozenko kannten und ein gutes Verhältnis zu ihm hatten. Er erklärte, dass Kateryna als Aktivistin mit dem Leiter des SBU in der Region Cherson zusammengearbeitet habe, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen.  

Dozenko wurde vor Gericht als Zeuge der Verteidigung vernommen und bestätigte, dass er Kateryna Handsjuk kannte, betonte jedoch, dass er mit ihr ausschließlich über offizielle Angelegenheiten kommuniziert habe. Dabei ging es um kommunale Unternehmen und eine mögliche Finanzhilfe an den SBU durch den Stadtrat.  

Dozenko schloss nicht aus, dass er eine Anfrage an die Agrarinspektion des Gebiets Odesa bezüglich eines Strafverfahrens gegen Manher gestellt haben könnte, betonte aber, dass er keine Befehle erhalten habe, ihn zu diskreditieren.  

„Als der Angriff auf Handsjuk stattfand, arbeitete ich bereits in Kyjiw und machte zu jenem Zeitpunkt Urlaub im Ausland“, sagte Dozenko vor Gericht. 

Er betonte, dass er nicht schuldig sei. Einen Lügendetektortest lehnte er ab, weil er nicht glaube, irgendetwas beweisen zu müssen. 

 

Das Urteil 

Der Prozess gegen Lewin und Manher dauerte fast vier Jahre. Nach Russlands vollumfänglicher Invasion im Februar 2022 wurde er zunächst unterbrochen. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet Kyjiw wurden die Anhörungen fortgesetzt.  

„Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter“ 

Am 26. Juni 2023 befand die Richterin Julia Iwanina sowohl Wladyslaw Manher als auch Olexii Lewin für schuldig, den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen und organisiert zu haben und verurteilte beide zu je zehn Jahren Gefängnis. 

Das Gericht gab auch der Zivilklage des Vaters, der Mutter und des Ehemanns von Kateryna Handsjuk gegen Manher und Lewin statt und verurteilte sie zur Zahlung von 15 Millionen Hrywnja [rund 370.000 Euro – dek] an die Angehörigen des Opfers. 

Das Gericht beschlagnahmte das Eigentum der beiden Angeklagten. Da Manher außerdem gegen die Bedingungen seiner Auflagen verstoßen hatte, zog das Gericht den gesamten Betrag der Kaution zugunsten des Staates ein. 

Richterin Iwanina ließ Manher und Lewin bis zur Vollstreckung des Urteils in Untersuchungshaft. Das Gericht rechnete Manher und Lewin zwei bzw. zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft an. 

Aktion zum Gedenken an Kateryna Handsjuk vor dem Präsidialamt in Kyjiw  im April 2020 / ©  Henadii Minchenko / IMAGO / Ukrinform 

Staatsanwalt Andrii Sinjuk erklärte gegenüber Graty, er sei mit dem Urteil zufrieden. Das Gericht gab dem Antrag der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang statt. „Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter. Ihor Pawlowsky, der die Strafermittlungen vereiteln wollte, wurde ebenfalls bestraft“, kommentierte Sinjuk.  

Wiktor Handsjuk, der Vater der verstorbenen Kateryna, war im Gerichtssaal anwesend, als das Urteil verkündet wurde. Er lehnte es ab, das Urteil zu kommentieren und sagte er fühle nur Leere.  

Aktivisten von Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt? in T-Shirts mit dem Konterfei von Kateryna Handsjuk sowie ihre Freunde und Familie applaudierten nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. 

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Russki Mir

Das Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten. 

Gnosen

Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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