Wie viele Aidskranke es in Russland gibt, vermag keiner genau zu sagen. Es fehlt ein landesweites Register. So gehen selbst offizielle Zahlen auseinander: Etwa 742.000 AIDS-Infizierte meldete das Gesundheitsministerium Ende 2015. Das föderale AIDS-Bekämpfungszentrum hatte im Januar 2016 sogar die Daten von einer Million HIV-Infizierten erfasst – und geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl noch höher ist und bei rund 1,5 Millionen liegt. Einig sind sich die Experten allerdings darin, dass sich die Epidemie tendenziell ausbreitet. So warnte das Gesundheitsministerium vor einem „katastrophalen Anstieg“ der HIV-Infektionen in Russland um etwa 250 Prozent bis zum Jahr 2020.
Abgeordnete der Moskauer Stadtduma nahmen sich Ende Mai der Problematik an und diskutierten, wie die Verbreitung der Immunschwächekrankheit in der russischen Hauptstadt zu stoppen sei. Dafür luden sie allerdings keine Mediziner, sondern Mitarbeiter des Russischen Instituts für Strategische Studien ein.
Alexander Tschernych berichtet für Kommersant von einer höchst ungewöhnlichen Anhörung.
Ludmilla Stebenkowa, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, eröffnete die Anhörung. Sie erinnerte daran, dass die Abgeordneten bereits vor einem Jahr das Thema HIV erörtert hatten, „weil uns in der Presse laufend angedichtet wurde, dass es bei uns Unmengen von HIV-Infizierten gäbe“. Tatsächlich hatte im Mai vergangenen Jahres der Vorsitzende des Föderalen AIDS-Bekämpfungszentrums Wadim Pawlowski von einer HIV-Epidemie im Lande gesprochen und die Situation als „nationale Katastrophe“ bezeichnet (siehe Kommersant vom 15. Mai 2015).
Damals hatten die Abgeordneten um eine Prüfung der Daten und ein „Grundlagenpapier zur HIV-Infektion“ gebeten. Hierfür wandte sich die Moskauer Regierung allerdings nicht an Mediziner, sondern an das Russische Institut für Strategische Studien (RISS), ein staatliches Analysezentrum, das 1992 durch einen Erlass des russischen Präsidenten gegründet worden war. Wie es auf der Website des RISS heißt, befasst sich das Institut mit „Fragen der nationalen Sicherheit“ sowie mit der „Verhinderung von Geschichtsverfälschung“. Und wie Ludmilla Stebenkowa erklärte, habe das Institut bislang „ein hervorragendes Papier zur Arbeit vom Westen finanzierter NGOs“ vorgelegt.
An der Erstellung des HIV-Papiers hatte das RISS beinahe ein Jahr gearbeitet – am 30. Mai wurde es von Tamara Gusenkowa, der Vize-Direktorin des Instituts, präsentiert. Wie aus der RISS-Website hervorgeht, hat Frau Gusenkowa keinen Bezug zur Medizin: Sie ist promovierte Geschichtswissenschaftlerin, kritisiert in ihren Publikationen die neue Regierung der Ukraine und äußert sich zum „Niedergang der EU“.
AIDS als Teil des Informationskriegs gegen Russland
Sie nähert sich dem Thema HIV aus einer gewohnten Perspektive und erklärt, dass „das HIV- bzw. AIDS-Problem als Element des Informationskriegs gegen Russland eingesetzt wird“. Im Papier des RISS heißt es, es gäbe zwei Konzepte der HIV-Bekämpfung: Im westlichen Konzept finde sich „neoliberaler, ideologischer Content, ein unsensibler Umgang mit nationalen Besonderheiten und eine Priorisierung der Rechte von Risikogruppen – Drogenabhängigen und LGBT“. Das Moskauer Konzept hingegen „berücksichtigt kulturelle, historische und psychologische Besonderheiten der russischen Bevölkerung und stützt sich auf eine konservative Ideologie und traditionelle Werte“.
Die internationale Gemeinschaft lege Russland beim Kampf gegen die Erkrankung den westlichen Ansatz nahe und verwandle damit – Gusenkowa zufolge – das Thema der Epidemie „in ein politisches Problem der Konfrontation mit Russland, da Russland es sich erlaubt, eine eigenständige Außen- und Innenpolitik zu betreiben“.
Den Vergleich zwischen den zwei Konzepten präsentierte die Vize-Vorsitzende des RISS Oxana Petrowskaja, ebenfalls promovierte Geschichtswissenschaftlerin mit Schwerpunkt in süd- und westslawischer Geschichte. Auf der Website des Instituts sind ihre Arbeiten veröffentlicht, zum „Schicksal russischer Nekropolen im Ausland“ und zur Identitätskrise in Polen.
Frau Petrowskaja berichtete, dass man HIV in Moskau besser im Griff habe als in St. Petersburg, und bot dann auch eine Erklärung: „Die Gründe liegen nicht nur in geographischen und regionalen Besonderheiten, sondern auch in der Traditions- und Werteorientierung“, sagte sie. „Moskau kann man als Symbol für ursprünglich russische Werte ansehen, St. Petersburg dagegen steht für westeuropäische kulturelle Werte.“
Der RISS-Bericht fasst dies noch konkreter: „Die erdverbundene Ursprünglichkeit des naturgewaltig erwachsenen heiligen Moskauer Bodens steht dem künstlich und rational organisierten St. Petersburg gegenüber, dessen konstituierender Mythos die Apokalypse einer dem Untergang geweihten Stadt ist.“
Eine Quelle der HIV-Übertragung: die Verhütungsmittel-Industrie
Der dritte Co-Autor des Papiers, Igor Beloborodow, ist promovierter Soziologe und leitet am RISS den Bereich Demographie, Migration und ethnisch-religiöse Probleme. Er liefert eine Auflistung von Quellen der HIV-Übertragung: „Da ist die Verhütungsmittel-Industrie. Sie ist am Absatz ihrer Produkte interessiert und daher auch daran, dass möglichst viele Minderjährige früh sexuelle Kontakte eingehen. Und was die Pornoindustrie angeht: Trotz all unserer Gesetze kommt man mit zwei Klicks an sämtliches Material.“
Herr Beloborodow kritisierte auch die Sexartikel-Industrie und sprach von „Lobbyisten, die direkt am Moralverfall der Gesellschaft interessiert sind“. Er äußerte sogar die Annahme, dass Sexualkundeunterricht für Schüler vom Westen aufgedrängt werde, um „Länder, die als geopolitische Konkurrenten angesehen werden, demographisch einzudämmen“.
Bislang gibt es keinen wirksameren Schutz vor AIDS als eine monogame Familie – eine heterosexuelle Familie, wenn ich unterstreichen darf –, in der man sich die Treue hält
Hauptfeind sind für den RISS-Mitarbeiter jedoch Kondome. Beloborodow berichtete über sein Gespräch mit dem spanischen Epidemologen Jokin de Irala: „Er geht davon aus, dass Verhütungsmittel den Selbsterhaltungstrieb im eigenen Verhalten außer Kraft setzen. Und fünf Kontakte mit Kondom sind bei Jugendlichen gleichzusetzen mit einem ungeschützten Kontakt [...] Wie dem auch sei, bislang gibt es keinen wirksameren Schutz vor Geschlechtskrankheiten, und insbesondere vor AIDS, als eine monogame Familie – eine heterosexuelle Familie, wenn ich unterstreichen darf –, in der man sich die Treue hält. Etwas wirksameres wurde bislang nicht erfunden“, führte der Experte aus dem präsidialen Analysezentrum aus, „und ich hoffe, dass auch nichts erfunden wird.“
Man muss hinzufügen, dass der RISS-Mitarbeiter die Position des spanischen Professors de Irala recht freizügig interpretiert: Der betont in Interviews, dass Enthaltsamkeit allein nicht helfe und vertritt das Konzept „Enthaltsamkeit und Kondome“.
Die Abgeordnete Stebenkowa unterstrich, sie habe nichts gegen Kondome als Verhütungsmittel, glaube aber nicht an deren Wirksamkeit gegen HIV. Sie sagte, man habe ihr vor Kurzem die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die Sex mit Kondom gehabt hatte – trotzdem habe man bei ihr den HI-Virus festgestellt. „Aber das Risiko sinkt“, bemerkte plötzlich der bei der Anhörung anwesende Leiter des Moskauer AIDS-Zentrums Alexej Masus. „Absoluten Schutz kann ein Kondom aber nicht bieten“, schnitt ihm die Abgeordnete das Wort ab.
Der Widerspruch des Mediziners blieb aus. Zu guter Letzt teilte Ludmilla Stebenkowa den Anwesenden mit: „Dieses Papier wird unsere weiteren Schritte maßgeblich beeinflussen. [...] Im Grunde muss man nicht AIDS bekämpfen, sondern Drogen und Sittenverfall“, sagte sie.