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„Man muss Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft“

Sasha Filipenko hat sich seit den Ereignissen im Jahr 2020 in Belarus auch in der internationalen Welt zu einer der wichtigsten belarussischen Stimmen entwickelt. Der Schriftsteller, der in Sankt Petersburg studierte und lange in Russland als Drehbuchautor, Fernsehmoderator und Autor arbeitete und lebte, äußert sich regelmäßig zu den politischen Entwicklungen in seiner Heimat. Seine Literatur schreibt er auf Russisch. Nun sind zwei seiner Romane auf Belarussisch erschienen. Aus diesem Anlass hat sich Kazjaryna Kulakowa für das Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by mit Filipenko unterhalten – über die Sprachenfrage in Belarus, über das Leben im Exil und darüber, warum über Belarus in unseren Breiten so wenig bekannt ist.

Quelle Salidarnasc/Gazeta.by

Sasha Filipenko: Die Übersetzung meiner Bücher ins Belarussische ist natürlich ein sehr bedeutendes Ereignis für mich. Fast ein Jahr lang haben wir versucht, das möglich zu machen, es war nicht leicht. Die Leute sehen nur: Da ist ein neues Buch erschienen, aber damit es dazu kommen konnte, haben wir viel gearbeitet. Und ich bin sehr froh, dass es gelungen ist. 

Salidarnasc: Worin bestanden die Schwierigkeiten?

Einige belarussische Verleger sagten, das Buch sei schon auf Russisch erschienen, es sei sehr bekannt, und alle, die es lesen wollen, hätten es wohl schon gelesen, deshalb würde es sich schwer verkaufen lassen. Es war also schwierig, einen Verlag zu finden, weshalb ich dem Gutenberg Verlag sehr dankbar bin, dass es nun endlich so weit ist. 

Für mich ist die Sprache eine Frage des Werkzeugkastens

Die Übersetzung ist, wie ich finde, sehr gut geworden. Ich schreibe nicht auf Belarussisch, mein Gefühl für die Sprache ist nicht so gut. Als die Übersetzerin und die Lektorin mit der Arbeit begannen, merkte ich, dass sie das Belarussische sehr viel besser beherrschen als ich. Für mich ist das einfach eine Frage des Werkzeugkastens.

Die belarussische Ausgabe von Filipenkos „Der ehemalige Sohn“ / Foto © gutenbergpublisher.eu
Empfehlen Sie den Belarussen, die die Bücher bereits auf Russisch gelesen haben, sie noch einmal auf Belarussisch zu lesen?

Natürlich, ich finde das sehr interessant. Man liest diese Geschichte nicht anders, aber wie mit einem anderen Blick. Für mich selbst war es sehr spannend.

Die Sprachenfrage ist unter den Belarussen gerade ein heißes Thema: Viele Belarussen gehen zum Belarussischen über, der zukünftige Status unserer Sprache wird diskutiert. Wie denken Sie darüber?

Ich sehe, dass die Mehrheit der Belarussen, die zum Belarussischen wechseln, im Ausland lebt. In Warschau und in Tbilissi. Ich weiß nicht, wie das der belarussischen Sprache im Inland helfen kann. Ich denke, es wäre gut, wenn die Belarussen in Belarus belarussisch sprechen würden. Zweitens scheint mir, dass viele Belarussen, die vorher nie belarussisch gesprochen haben, damit jetzt beginnen, weil das Russische toxisch geworden ist, die belarussische Sprache aber nicht – mit Belarussisch ist alles in Ordnung, damit ist man sozusagen ein guter Mensch und ein echter Belarusse.

Doch für mich selbst existiert die Sprachenfrage nicht. Mir ist es gleich, wer ihr seid und welche Sprache ihr sprecht. Entsprechend sind für mich Belarussen nicht besser oder schlechter, je nachdem, ob sie belarussisch oder russisch sprechen. Diese Entscheidung trifft jeder für sich.

Wir müssen zuallererst mit unseren Kindern belarussisch sprechen

Die Situation ist jetzt so, dass die belarussische Sprache mit jedem Tag weiter vernichtet wird, das ist uns klar. Wenn wir wollen, dass sie nicht zerstört wird, dann müssen wir zuallererst, das ist das Wichtigste, mit unseren Kindern belarussisch sprechen. Danach kann jede Person schon selbst entscheiden, welche Sprache sie verwenden möchte. 

Sprechen Sie belarussisch mit Ihrem Sohn, oder lernt er vielleicht belarussisch?

Er lernt nirgends Belarussisch, aber er schaut sich belarussischsprachige Videos auf YouTube an. Natürlich unterhalten wir uns auf Belarussisch, und er hört auch, wie wir mit Freunden belarussisch sprechen. Ich spreche mit meinem Sohn englisch, französisch und russisch. Später, wenn er entscheidet, wo er leben möchte, wird er schon selbst wählen, welche Sprache er sprechen möchte. 

Er weiß, dass er belarussische Wurzeln und auch diese Sprache hat. Aber jetzt ist es schwierig für ihn, sie zu lernen, auch Russisch lernt er nirgends, weil wir in der Schweiz leben. 

Die belarussische Übersetzung Ihrer Bücher wird online auf der Verlagswebsite zugänglich sein. Das ist eine gute Neuigkeit für die Menschen in Belarus, denn sie können die Bücher ohne irgendwelche Hindernisse lesen. Halten Sie Kontakt zu Belarussen im Land und können Sie etwas über das Verhältnis der Menschen untereinander sagen?

Ich spreche mit vielen Leuten in Belarus, allein schon für die Arbeit, da ich auch als Journalist tätig bin und für die europäische Presse schreibe. Im Moment sind alle sehr still geworden. Aber das bedeutet keinesfalls, dass sie sich aufgegeben haben. Sicher, es gab eine Niederlage (im Jahr 2020, Anm. d. Red.), es ist uns nicht gelungen, unser Ziel zu erreichen. 

Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange

Aber ich weiß, dass die Belarussen wieder protestieren werden, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, in diesem Sinne ist nichts vorbei. Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange, und deshalb gehen auch täglich die Repressionen weiter. Diejenigen, die weiterhin an der Macht festhalten, spüren: Würden die Repressionen aufhören, wäre den Belarussen klar, dass eine Art Tauwetter beginnt, und dann könnten sie wieder auf die Straßen gehen.

Die größte Auszeichnung für mich war übrigens (darüber habe ich kürzlich in Berlin berichtet, wo ich zum ersten Mal Romanauszüge auf Belarussisch vor Publikum las), dass Menschen, die 2020 in Haft kamen, dort mein Buch Der ehemalige Sohn gelesen und es von Zelle zu Zelle weitergereicht haben. Ich weiß, dass dieses Buch den Menschen etwas bedeutete, dass es für sie wie eine Therapie hinter Gittern war.

In der französischen Zeitschrift Kometa haben Sie ein Art Reiseführer für das heutige Belarus geschrieben. Was überrascht Ausländer in Bezug auf Belarus am meisten, und was verwundert Sie in diesem Kontext wiederum?

Mich wundert, dass niemand irgendetwas über Belarus weiß. Aber mir scheint, daran tragen wir auch selbst Schuld. Es fällt sehr schwer zu beschreiben, was da gerade vor sich geht. Und den Menschen in Europa fällt es ebenso schwer, das zu glauben. In der Schweiz habe ich von Leuten gehört, die drei Tage bei uns waren: in Belarus gäbe es gute Restaurants, saubere Straßen und man könne nicht sagen, dass Lukaschenka ein Diktator sei. Die Menschen begreifen also nicht wirklich, was im Land passiert.

Vor einer Woche, bei einem Auftritt in Basel, begann eine Schweizerin plötzlich zu erzählen, dass sie sich für das belarussische Rentensystem interessiere und es für viel besser als das der Schweiz halte. Bei uns würde es den Rentnern besser gehen, als denen in der Schweiz, sie hätten zudem die Möglichkeit, ins Sanatorium zu fahren. Ich hörte mir das an und überlegte, ob diese Frau wohl einen Monat lang so leben könnte, wie ein belarussischer Rentner.

Eine weitere dringliche Frage ist die nach den politischen Gefangenen. Es gibt keine einheitliche Lösung, wie man die Menschen aus der Haft befreien könnte. Sie sind in dieser Frage nicht mehr nur Beobachter, denn vor Kurzem wurde Ihr Vater verhaftet. Was denken Sie über die Frage der politischen Häftlinge?

Ich sehe, dass Leute jetzt sagen, man müsse Zugeständnisse machen, die Sanktionen beenden, um die politischen Gefangenen freizubekommen. Als würden die Mächtigen nach der Freilassung nicht einfach andere festnehmen. Ich denke, dass noch am selben Tag neue Leute hinter Gitter kämen, denn das Regime hätte die Bestätigung: ja, es funktioniert.

Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt

Meine Eltern sind aktuell Geiseln in Minsk. Aber dennoch weiß ich, dass es nur eine einzige Option gibt: Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt. Den Machthabern muss klar sein, dass es keinerlei Verhandlungen geben wird: Die Leute müssen einfach nur freigelassen werden. Jemand hat gesagt, dass selbst im Krieg beide Seiten Gefangene austauschen. Aber wir haben keine Kriegsgefangenen hier, in Warschau gibt es keinen Asarjonak oder jemanden von deren Seite. Und die Abänderung der Sanktionen im Austausch gegen Gefangene – das ist auch keine Option.

Wir können uns vorstellen, dass Kalesnikawa und Babaryka freigelassen werden, und jeder Belarusse wünscht sich, dass das geschieht. Aber es gibt dabei einen Preis, den es zu zahlen gilt, wenn am nächsten Tag ein anderer Mensch dafür verhaftet wird. Wie kann man das nicht berücksichtigen? Und warum heißt es, man habe kein Herz und kein Mitgefühl, wenn man die Idee der Zugeständnisse nicht mitträgt? Im Gegenteil, man hat sehr wohl Herz und Mitgefühl, nur muss man eben Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft.

Sie haben viele Male gesagt, dass vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine das belarussische Thema in Vergessenheit gerät. Ändert sich das in letzter Zeit?

Ja, jetzt gerät auch das Thema Ukraine in Vergessenheit. Es gab die Ereignisse in Israel und andere. Ich glaube, dass die Ukrainer sich jetzt allmählich so fühlen, wie wir uns gefühlt haben. Ich arbeite mit Journalisten zusammen, die über die Vorwahlkampagne in den USA berichten, und bei all den Kandidaten und den Kommunalwahlen kommt die Ukraine auf dem zehnten oder elften Platz. Natürlich werden die Nachbarländer die Ukraine weiter stark unterstützen. Aber für die Menschen, die in Portugal, Spanien oder Italien leben ... Mein Sohn kommt aus seiner Schweizer Schule und erzählt, dass die Leute in der Schweiz nicht wissen, dass in der Ukraine Krieg ist. 

Wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien

Mir scheint, wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien: Komm, lass uns die zweite Staffel schauen. Aber dann ist es nicht mehr spannend, und los, wir schauen einfach eine andere Serie. Was wir also tun können, ist, weiterhin darüber zu berichten, dass sich nichts geändert hat. 

Sie erzählen viel über Ihre Arbeit als Journalist. Aber schreiben Sie gerade auch Bücher?

Ja, ich habe begonnen, an einem neuen Buch zu arbeiten. 

Vor etwas mehr als einem Jahr sagten Sie, dass Sie keine Bücher schreiben können – was hat sich geändert? Und worum geht es in dem neuen Buch, wenn man fragen darf?

Das ist noch geheim. Einige Zeit lang war ich erschöpft und konnte nicht schreiben. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, ein neues Buch zu beginnen. Es ist eine schwierige Frage, ob es gerade überhaupt einen Sinn hat, Bücher zu schreiben, denn du begreifst, dass Bücher überhaupt nichts bewirken. Aber andererseits beeinflussen sie dich selbst und viele Leser, oder sie werden zu Theaterstücken. Wenn ich mir also anschaue, was gerade auf unserer Welt passiert, dann wird mir klar, dass nur darin Sinn steckt – Kultur, Literatur, Theater.

In Berlin gab es eine Inszenierung auf der Grundlage von Kremulator. Das hat sehr stark auf mich gewirkt, nicht in dem Sinne, dass ich stolz bin, weil mein Buch inszeniert wurde, sondern weil der Regisseur Maxim Dsidsenka und alle Mitwirkenden aus eigener Kraft, ohne Unterstützung eines Theaters oder so, ein großartiges Stück auf die Beine gestellt haben. 

Kunst zu schaffen ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben

Für mich ist es sehr wichtig und wesentlich, dass Menschen sich der Kunst widmen – trotz allem. Dann beginne ich auch zu denken, dass ich schreiben muss, und schreibe. Deshalb finde ich, dass es gerade jetzt sehr wichtig ist, Kunst zu schaffen – es ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben. 

In Ihrem Roman Rückkehr nach Ostrog haben Sie den großangelegten Krieg Russlands gegen die Ukraine vorausgesagt. Was denken Sie heute über die Zukunft: Stehen wir an der Schwelle zu einer großen Katastrophe oder kommen doch positive Veränderungen auf uns zu?

Darf ich die Frage nicht beantworten? Alles, was ich sage, wird nachher wahr. Noch vor Ostrog habe ich 2015/16 in einem Interview gesagt, dass ein großer Krieg kommen wird. Was ich jetzt sehe und fühle ... Ich habe keine guten Prognosen. Daher lassen Sie mich bitte diese Frage nicht beantworten.

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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