Medien
Gnose Belarus

Die Stadt Polazk

Polazk war eines der wichtigsten Zentren der früheren Rus’. Im Spätmittelalter entwickelte sich dort ein Ständesystem mit Teilhabe. Erst 1772 beziehungsweise 1793 wurde die Stadt Teil des Russischen Reichs. Die Umwälzungen von Polazk im 19. Jahrhundert sind Beispiel für die russische Kolonisierungspolitik an der Peripherie des Zarenreichs. 

Gnose

Der Holocaust in der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten

Etwa sechs Millionen Juden wurden während des Holocaust umgebracht, davon etwa drei Millionen in Polen, viele von ihnen in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern. Die systematische Ermordung der europäischen Juden begann jedoch schon mit dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges im Juni 1941. Eine Gnose von Dieter Pohl.

 

Gnose

Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

Gnose

Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

Gnose

Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

Gnosen
en

Die Stadt Polazk

Polazk ist ab dem 7. Jahrhundert zunächst als sehr kleine Siedlung an der mittleren Düna nachweisbar. Im 9. Jahrhundert festigte sich dort unter dem Eindruck von Warägerüberfällen eine weiträumige Herrschaft über Balten und Slawen. Der Ort blieb im 11. Jahrhundert in der Hand einer warägischen Fürstendynastie. Im 12. Jahrhundert war Polazk als Bischofs- und Fürstensitz neben Kyjiw und Nowgorod einer der ältesten, wichtigsten und insgesamt wenigen wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkte der Rus’. Über skandinavische und polnische Kontakte kam die Stadt früh und in der Folge immer stärker mit lateineuropäischen Einflüssen in Berührung, welche die gesamte weitere Entwicklung von Polazk prägten. Nachdem es erst im ausgehenden 18. Jahrhundert Teil des Russländischen Imperiums geworden war, folgte im 19. Jahrhundert eine imperiale Politik der Russifizierung. Die Umwälzungen, die Polazk erlebte, dienen als Beispiel für die russische imaginierte „innere Kolonisierung“ an der neuen Peripherie des Reichs. 

Die Sophienkathedrale von Polazk. Bild © CC-BY-SA 3.0/ Youdjin 

Große, zeitweise die meisten Gebiete der heutigen Republik Belarus lagen im Herrschaftsgebiet der Fürsten von Polazk, bis sie mit der Ausweitung des Großfürstentums Litauen im 13. und dauerhaft zu Beginn des 14. Jahrhunderts in dieses und sodann in Polen-Litauen übergingen. Polazk und ganz Ruthenien – das heißt die Ukraine, Belarus und große Teile Litauens – waren über die Jahrhunderte strukturelle Bestandteile der Vielvölkerrepublik Polen-Litauen: In ihr entstand eine transregional verflochtene, aber vor Ort verdichtete „Kommunikationsgemeinschaft“ von Katholiken, Orthodoxen, Unierten, Protestanten, Juden, Armeniern und auch muslimischen Tataren. Sie richteten ihre Lebensformen an den gemeinsamen Mustern des Ständestaates aus, der von mit Privilegien ausgestatteten Adligen und Stadtbürgern getragen wurde.1 Damit und im jeweils mehr oder weniger starken Rückbezug auf dieses Erbe unterschied und unterscheiden sich Polazk und die ganze Region vom Moskauer Herrschaftsbereich: In diesem gab es – bis zur Einverleibung eben dieser polnisch-litauischen Gebiete – neben der Orthodoxie und erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nur noch eine muslimische Bevölkerung, aber keine anderen zugelassenen christlichen Konfessionen oder Juden. Auch gab es bis ins 19. Jahrhundert keine vergleichbar mit Privilegien verbürgte, wenigstens teilweise autonome lokale ständestaatliche adlige und städtische, insgesamt republikanische Selbstverwaltung.   

Grundlegender Wandel der Kerngebiete der Rus’ in Polen-Litauen  

Anders war das in Polazk: Dort vollzogen sich nach 1380 tiefgreifende Wandlungen nach mitteleuropäischem Vorbild. Zu wesentlichen Veränderungen in den örtlichen gesellschaftlichen Handlungskontexten kam es, als der Großfürst den Teilfürsten Ende des 14. Jahrhunderts durch einen Statthalter ersetzte. Weil dieser häufig nicht in der Polazker Burg residierte, und auch der orthodoxe Adel und die Städter nach 1430 mit Privilegien ausgestattet wurden, erhielten diese mehr Freiraum: Im Widerspruch zu Thesen belarusischer und russischer Historiker ‚überlebte‘ das „Wetsche“ – das waren burgstädtische Versammlungen des 12. Jahrhunderts – nicht. Diese Versammlungen hatten damals dafür gesorgt, dass schwächere Fürsten in Krisensituationen abgesetzt und neue ernannt werden konnten. Nach 1380 bildeten sich aber neue Versammlungsformen, mit ganz anderen Zuständigkeitsbereichen heraus: Sie befassten sich jenseits von Herrschaftskrisen mit alltäglichen, insbesondere handelsrechtlichen Dingen einer sich herausbildenden städtischen Gemeinde. Als wichtigstes Vorbild dienten damals die Selbstverwaltungseinrichtungen westlich gelegener Nachbarstädte wie Riga und Vilnius. Schließlich, allerdings erst mit der Verleihung des Magdeburger Stadtrechts 1498, gab es auch in Polazk ein Organ, das die weitreichenden Befugnisse und festen Konturen eines typischen Stadtrates aufwies.  

Im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts versammelte sich der Adel des Landes Polazk in der Burg nach polnischem Muster zu Landtagen. Nachdem er sich infolge der Standesprivilegien vom Träger der lokalen Macht gelöst hatte, begann er sich politisch zu emanzipieren. Nach Vorbild des polnischen Adels entwickelte sich die zuvor gefolgschaftlich auf den Fürsten fixierte Bojarenschaft zum staatstragenden Stand. 

Der orthodoxe Klerus verlor im Zuge dieser Entwicklung schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Monopol über Bildung und Religion: In der Stadt entstanden zwei katholische Klöster und eine calvinistische Kirche. Es erscheinen erste Hinweise auf eine jüdische Gemeinde. Einzelne Mitglieder der ruthenischen Elite studierten an den Universitäten Mitteleuropas. Zu ihnen zählte auf Polazker Seite der später bedeutende Sohn eines Kaufmanns: der Buchdrucker Franzysk Skorina. Im Zuge der Gegenreformation festigten sich in der Stadt der Frühneuzeit zahlreiche konfessionelle Identitäten in wechselseitiger Konkurrenz. Die Union von Brest 1596 erfolgte dabei nicht unmittelbar als staatliche Maßnahme, sondern als Initiative, die genauso auf die orthodoxen Bischöfe zurückging. Damit entstand die griechisch-katholische Kirche, die dem Papst von Rom unterstellt war. 

Eine Gravur von Giovanni Battista Cavalieri (von 1580) – gemäß einer Abbildung von Stanisław Pachołowiecki – zeigt Polazk im 16. Jahrhundert. Bild © gemeinfrei

Wettstreit der Konfessionen 

Im folgenden konfessionellen Konflikt wurde der unierte Erzbischof Josafat von Polazk 1623 durch Orthodoxe in Wizebsk getötet. Er hatte die griechisch-katholische Kirche – auch mit unnachgiebigen Mitteln – vorangetrieben. Die Umsetzung der Union war tatsächlich erst im ausgehenden 17. Jahrhundert auf breiter Ebene erfolgreich, sodass bis zu den Teilungen Polen-Litauens diese griechisch-katholische Kirche im heutigen Belarus’ und in der Ukraine – neben der römisch-katholischen Kirche – gegenüber der Orthodoxie vorherrschte. In diesem zwischenkonfessionellen Streit und Austausch entstanden nach dem lateinischen, gegenreformatorischen Muster nach 1600 zahlreiche orthodoxe Laienbruderschaften, die sich für die Verbesserung von Bildung und für den Buchdruck in der Nachfolge von Skorina einsetzten. 

Solche, im Vergleich zu Moskau ältere ruthenische Regionen wie Polazk grenzten sich seit dem 13. und 14. Jahrhundert im Großfürstentum Litauen und später, ab 1569, innerhalb der politischen Nation Polen-Litauens als Bewohner der Rus’ und Rutheniens von den Bewohnern des Moskauer Herrschaftsbereichs, das heißt gegenüber den „Moskauern“ und später den „Russen“, klar ab.2 Ihr Selbstverständnis war es, sich als „rusisches“ oder „ruthenisches Volk“ zu betrachten. Innerhalb Litauens, dann Polen-Litauens, handelten diese Regionen politische Partizipation aus – auf der Grundlage von Privilegien nach lateineuropäischem Muster. Diese ständestaatliche Teilhabe, von der – anders als die Bauern – Städter und Adlige sowie Kleriker profitierten, stand im Gegensatz zur Moskauer Gesellschaft, wo sich die Autokratie durchsetzte.  

Dieser Gegensatz war zentral für lokales Geschichtsbewusstsein und wurde auch bewusst inszeniert, wie das Beispiel von Polazk zeigt: Unter der Überschrift „Vom Polazker Venedig oder über die Polazker Freiheit“ („O Polockoj Venecei abo svobodnosti“) berichtet etwa ein Abschnitt einer Chronik der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert in ruthenischer Sprache von der legendären Freiheit, derer sich die Polazker „Republik“ im 13. Jahrhundert erfreut haben soll. Tatsächlich aber pries man so in Form der lokalen, frühneuzeitlich-humanistischen Aneignung einen idealen Republikanismus im Sinne der Adelsrepublik Venedig.3  

Erfundene Ansprüche Russlands und Russifizierung im 19. Jahrhundert 

Ukrainische und belarusische Geschichte steht auch in Deutschland bis heute weithin im Schatten nationalimperialer, russländischer Aneigungserzählungen. So waren die erst seit dem 19. Jahrhundert als „Westrussland“, „Nordwest-“ oder „Südwestrussland“ bezeichneten Gebiete genauso wenig frühere Bestandteile des Moskauer Herrschaftsgebietes, wie die ebenfalls mit den Teilungen Polen-Litauens neu geschaffenen Provinzen „Südpreußen“ und „Neuostpreußen“ (anders als diese Namen suggerieren sollten) einmal angestammte Teile „Deutschlands“ oder Preußens gewesen waren: Bei all diesen Regionen handelt es sich vielmehr um historische Kerngebiete der Vielvölkerrepublik Polen-Litauen. Die neuen Provinzen des Imperiums wurden als wiedergewonnene, vor Jahrhunderten angeblich verlorengegangen Gebiete imaginiert. Unter diesem Vorwand wurden sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts wie im Falle von Belarus’ und der Ukraine schließlich russisch, imperial (sowie vermehrt national) kolonialisiert. 

Diese Politik wurde nach dem ersten polnischen Aufstand von 1831 und insbesondere nach dem zweiten Aufstand von 1863 massiv verstärkt. So wie die neue Provinz Posen innerhalb des Deutschen Kaiserreichs nach 1866 einer starken Germanisierungspolitik ausgesetzt wurde, überzog das Russländische Imperium die neuen Gebiete der „Russifizierung (obrusenie)“. Diese Politik wurde durch die imperiale russischnationale Erzählung legitimiert, Polen-Litauen sei im Spätmittelalter vorübergehend in Gebiete vorgestoßen, die eigentlich zu Russland gehörten – denn tatsächlich müsse man die mittelalterliche Rus’ mit Russland gleichsetzen. Dabei handelt es sich um eine klassische „erfundene Tradition“: Gerade die erwähnten frühneuzeitlichen orthodoxen Bruderschaften dienten der im 19. Jahrhundert entstehenden russischen nationalen Geschichtsschreibung und in deren regionaler Spielart, im „Westrussismus“ („Sapadnorussism“), dazu, zur ganzen Region einen russischen Bezug herzustellen. Ihr Ursprung, so wurde fälschlich behauptet, reichte bis in die Zeit der Rus’ zurück. Sie galten ihnen demnach als wichtige Zeugen eines „Kampfes“ der orthodoxen Bevölkerung Polen-Litauens gegen das „Lateinertum“ („latinstvo“), den Moskau unterstützt habe – und der dann mit den Teilungen Polen-Litauens sowie der Auflösung der Union 1839 in Russland (aber nicht im habsburgischen Galizien) siegreich ausging.  

Im Jahr 2000 errichtetes Denkmal der Polazker Fürstentocher Euphrosyne vor dem Gebäude der heutigen Stadtverwaltung. Bild © CC BY-SA 3.0/Andrej Kuźniečyk 

Dieser konstruierte Rückbezug auf eine angeblich russische Geschichte der Region sollte zur Handlungsanweisung werden: In der Unterdrückung des Aufstands von 1863 wurde die explizite „Russifizierung“ dieses so genannten „Westlichen Gebiets“ („Sapadny krai“) zur offiziellen regionalen Politik. Im Mai 1864 wurde gerade zu diesem Zwecke eine von höchster Stelle gutgeheißene Musterordnung für neue „kirchliche Bruderschaften“ publiziert. Mit der „Nikolaj-und-Evfrosinija-Bruderschaft“ wurde bereits drei Jahre später die 19. dieser daraufhin neu gegründeten Bruderschaften gegründet. Sie bestand unter dem Dach eines nach preußischem Vorbild eingerichteten Militärgymnasiums, dem Polazker Kadettenkorps. Zuvor war in dem Gebäude noch die Jesuitenakademie untergebracht gewesen. Parallel zu diesen Entwicklungen reagierte auch die römisch-katholische Kirche auf die neue Welle der Orthodoxie, die die neue Zarenherrschaft über das Gebiet gebracht hatte: Im Juni 1867 folgte der Vatikan dem Wunsch polnischer Magnaten, Josafat von Polazk heiligzusprechen. Der Heilige Stuhl kanonisierte Josafat als Reaktion auf die russische Drangsalierung der katholischen Polen.  

Der frühneuzeitliche konfessionelle Zusammenhang war damit vergegenwärtigt worden, jedoch unter neuen, nationalen Vorzeichen. Josafats Todestag jährte sich 2023 zum mittlerweile 400. Mal: Die Feierlichkeiten standen für eine Rückbesinnung auf die griechisch-katholische Kirche, die heute in der Ukraine wieder bedeutsam ist. 

Das imaginierte „russische Volkstum“ im Polazker Land 

Laut der Satzung der „Nikolaj-und-Evfrosinija-Bruderschaft“ war es ihr unmittelbares Ziel, „der Regierung in der schweren Aufgabe der Russifizierung (obrusenie) dieser Gegend [zu] helfen“. Das Interesse des imaginierten „russischen Volkstums“ wurde an dem Vorbild ausgerichtet, das den russischen Wortführern vor Ort andere ethnokonfessionelle Gruppen im lokalen Alltag vorlebten: Nach Polazk zugezogene orthodoxe Lehrer und Militärs sowie Geistliche beschreiben das kollektive Handeln ihrer lokalen Glaubensgenossen im Vergleich zu dem der anderen ethnokonfessionellen Gemeinschaften vor Ort in zahlreichen Quellen als „schlecht organisiert“. In Konkurrenz zur nationalpolnisch geprägten katholischen Vereinsbewegung sowie zu den Bruderschaften der jüdischen Bevölkerung der Stadt, die zu diesem Zeitpunkt die absolute Mehrheit stellte, hielten die Autoren die Mobilisierung der „eigenen“ Gruppe für notwendig. Denn die stand nur für einen kleinen Teil der Stadtbevölkerung (1852: 19,5 Prozent, 1897: 27,5 Prozent). Bis zum Zusammenbruch des russischen Kaiserreichs blieb dies ihr erklärtes Ziel.  

Der Ausschluss jüdischer Vertreter aus der städtischen Selbstverwaltung 1892 sowie die Überführung der Gebeine der Euphrosyne, einer Polazker Fürstentocher des 12. Jahrhunderts, aus Kyjiw im Jahr 1910 nach Polazk bekräftigten diese Bemühungen zur Wiederherstellung eines vermeintlich nationalen Urzustandes. Euphrosyne war seit dem 12. Jahrhundert als heilig verehrt worden. Ihr Kult wurde im 18. Jahrhundert in Polen-Litauen von der Unierten Kirche stark gefördert und erst nach 1863 von russischen Wortführern für die Russifizierung von Polazk instrumentalisiert. So wurde das Eintreffen von Euphrosynes Gebeinen als so bedeutsam inszeniert, dass auch Mitglieder der Zarenfamilie dafür angereist waren. Im Fokus der nationalen und zugleich imperialen Imagination stand dabei ein als orthodox und rein russisch imaginiertes Mittelalter, in dem es in der Stadt Polazk keine dauerhaft ansässige jüdische oder katholische Bevölkerung gegeben hatte. Dieses Vorhaben der Russifizierung entsprach auch ganz den slawophilen Vorstellungen, was Iwan S. Aksakows Mitgliedschaft in der „Nikolaj-und-Evfrosinija-Bruderschaft“ bezeugt – von der Gründung der Bruderschaft bis zu seinem Tod 1886. Dieser Vorgang stand als imaginierte innere Kolonisierung des eigentlich Äußeren im direkten Zusammenhang mit der Politik Preußens. Diese hatte das Ziel, ehemals zentrale polnische Gebiete zu germanisieren: Im Unterschied zu den klassischen Kolonien in Übersee handelt es sich im östlichen Europa ähnlich wie in Irland in der Regel um imaginierte „innere Kolonisierungen“ vormalig äußerer Gebiete durch moderne und expansive, sich nationalisierende Imperien beziehungsweise sich imperial inszenierende Nationalstaaten.4


Anmerkung der Redaktion 

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 


Literatur in Auswahl 

 

Bartal, Israel. „Jews in the Crosshairs of Empire: A Franco-Russian Comparison“, in: E. Katz, L. M. Leff, M. S. Mandel (Hg.), Colonialism and the Jews, Bloomington 2017, S. 116–226. 
C’vikevič, Aljaksandr. „Zapadno-russizm“. Narysy z historyi hramadzkaj mys’li na Belarusi ŭ XIX i pačatku XX v, Mensk 1929, zweite Auflage Minsk 1993. 
Etkind, Alexander. Internal Colonization. Russia’s Imperial Experience, Cambridge 2011. 
Gasimov, Zaur. Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa im 19.–20. Jh. Göttingen, 2012.  
Healy, Róisín, Dal Lago, Enrico (Hg.). The Shadow of Colonialism on Europe's Modern Past. New York, 2014. 
Nelson, Robert. L. (Hg.). Germans, Poland, and Colonial Expansion to the East. 1850 through the Present, New York, 2009. 
Rohdewald, Stefan. „Vom Polocker Venedig.“ Kollektives Handeln sozialer Gruppen in einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914), Stuttgart 2005. Open Access der belarusischen Übersetzung (Minsk 2020). 
Rohdewald, Stefan. Medium unierter konfessioneller Identität oder polnisch-ruthenischer Einigung? Zur Verehrung Josafat Kuncevyčs im 17. Jahrhundert, in: Yvonne Kleinmann (Hg.). Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen, Stuttgart 2010, S. 271–290. 
Rohdewald, Stefan. Ukrainische Geschichte dekolonial, transimperial und transregional vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Ukraine und Ukrainische Geschichte unter Beschuss. Historische Perspektiven im transepochalen und transregionalen Zugriff. Gastherausgeber Stefan Rohdewald, Historische Mitteilungen 33 (2022 [erschienen 2023]), S. 7-32. 
Rohdewald, Stefan. „Vnešnjaja kolonizacija vnutrennego“ i „vnutrennjaja kolonizacija vnešnego“. oppozicionnye ėlity stolic vs. lojal’nye ėlity Zapadnogo kraja, 1830–1910, in: Aleksandr Ėtkind, Dirk Uffelmann, Il’ja Kukulin (Hg.). Tam, vnutri. Praktiki Vnutrennej kolonizacii v kul’turnoj istorii Rossii, (=Biblioteka žurnala neprikosnovennyj zapas, 23), Moskva 2012, S. 518–551. 
Rohdewald, Stefan / Frick, David / Wiederkehr, Stefan (Hg.). Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert)/ Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries), Wiesbaden 2007.  
Rohr, Eitel Karl. Russifizierungspolitik im Königreich Polen nach dem Januaraufstand 1863/1864, Berlin: Freie Univ., Diss., 2003. 
Rolf, Malte. Imperial Russian Rule in the Kingdom of Poland, 1864–1915. Pittsburgh 2021. 
Staliūnas, Darius. Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam, 2007. 
Staliūnas, Darius, Aoshima, Yoko (Hg.), The Tsar, The Empire, and The Nation. Dilemmas of Nationalization in Russia's Western Borderlands, 1905–1915, Budapest New York: Central European University Press, 2021. 
Stamatopoulos, Dēmētrios. Imagined Empires. Tracing Imperial Nationalism in Eastern and Southeastern Europe, Budapest New York, 2021. 

 


1 Vgl. Stefan Rohdewald, David Frick, Stefan Wiederkehr (Hg.). Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert) / Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries), Wiesbaden 2007. Open Access: https://www.harrassowitz-verlag.de/titel_1270.ahtml.
2 Frick, David. Meletij Smotryc’kyj and the Ruthenian Question in the Early Seventeenth Century. in: Harvard Ukrainian Studies 1984 8 (3/4), S. 351–375. 
3 „(...) sie herrschten in dieser Zeit frei über sich, und hatten keine Obrigkeit über sich, nur 30 Älterleute aus der Mitte ihrer Republik für das Gericht über die anstehenden Angelegenheiten, die sie sich als Senatoren gaben.“  
Wichtiger aber als diese Älterleute seien ihre Versammlungen gewesen, die zusammengerufen wurden „auf den Schlag der großen Glocke, welche in der Mitte der Stadt aufgehängt war, wo sie sich alle versammelten (...).“  
An diesen Zusammenkünften entschieden diese alle „über ihre Angelegenheiten und über die Notwendigkeiten ihrer Republik und ihrer Besitzungen. (...) Dieselbe Freiheit genossen damals Pskow und Groß-Nowgorod.“
 
Meine deutschen Sätze übersetzen hier, was ein unbekannter belarusischer Schreiber aus der 1582 in Königsberg in polnischer Sprache gedruckten polnisch-litauischen Chronik von Maciej Stryjkowski in die ruthenische Schriftsprache übersetzt hatte. Der Text dieses polnischen Renaissancehistoriographen beruhte seinerseits auf älteren rusischen Chroniken, in denen die Volksversammlungen in Polazk mit dem Verweis auf Nowgorod gerühmt worden waren. Der belarusische Übersetzer ließ diesen Bezug zu Nowgorod unverändert, beseitigte aber den von Stryjkowski in humanistischer Manier eingebrachten Vergleich von Polazk mit „griechischen Republiken“ wie Athen und Sparta. Stattdessen brachte er die Polazker Stadtgeschichte – ebenfalls ganz nach westeuropäischem Geschichtsverständnis – in den Zusammenhang mit Venedig, das im lateinischen Europa bereits im 15. Jh. als ideale Stadtrepublik galt. Damit überlagerten sich im Schreiben über Polazk durchaus glokal ostslawisch-osteuropäische Idealvorstellungen städtischen kollektiven Handelns (Nowgorod, Pskow) mit lateineuropäischen (Venedig).  
Nachweise zu diesen und den übrigen hier nur leicht veränderten Passagen zu Polazk: Rohdewald, Stefan. „Vom Polocker Venedig.“ Kollektives Handeln sozialer Gruppen in einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914), Stuttgart 2005. Open Access: https://elibrary.steiner-verlag.de/book/99.105010/9783515125659. 
Vgl. Rohdewald, Stefan. „Vnešnjaja kolonizacija vnutrennego“ i „vnutrennjaja kolonizacija vnešnego“. oppozicionnye ėlity stolic vs. lojal’nye ėlity Zapadnogo kraja, 1830–1910, in: Aleksandr Ėtkind, Dirk Uffelmann, Il’ja Kukulin (Hg.). Tam, vnutri. Praktiki Vnutrennejkolonizacii v kul’turnoj istorii Rossii, hg. v.  (=Biblioteka žurnalaneprikosnovennyj zapas, 23), Moskva 2012, S. 518–551. 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose Belarus

Francisk Skorina

Bibeldrucker, Unternehmer, der Johannes Gutenberg der Ostslawen: Francisk Skorina ist für Belarusen ein wichtiger Teil ihrer kulturellen Identität. Marion Rutz über den europäischen Grenzgänger, der die erste ostslawische Bibel druckte und außerdem das erste Druckwerk im Großfürstentum Litauen schuf – das jetzt zum 500. Jahrestag gefeiert wird. 

Gnose Belarus

Die Griechisch-Katholische Kirche in Belarus

Über Jahrhunderte war Religionszugehörigkeit auch eine Frage politischer Loyalität. So ist auch die griechisch-katholische Kirche in Belarus entstanden. Sie war im 16. Jahrhundert gegründet worden, als der belarussische Kulturraum zum katholisch geprägten Polen-Litauen gehörte. Von der orthodoxen Kirche wird sie bis heute als innerer Feind diffamiert. 

Gnose Belarus

Jüdisches Leben in Belarus bis 1917

Auf den Gebieten der heutigen Republik Belarus lebte früher ein großer Teil der weltweiten jüdischen Diaspora, zahlreiche Städte waren jüdisch geprägt. Dennoch zählt das jüdische Erbe zu den weniger beleuchteten Aspekten der belarussischen Geschichte. Eine Gnose von Anke Hilbrenner. 

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)