Der belarussische Lyriker und Philosoph Ihar Babkou, geboren 1964 in der belarussischen Stadt Homel im Südosten des Landes, ist einer der prägendsten Denker und Intellektuellen der jüngeren Ideen- und Geistesgeschichte seiner Heimat. Für seine Lyrik und Essays wurde Babkou vielfach ausgezeichnet. Er hat sich eingehend beschäftigt mit der Bedeutung des belarussischen Kulturraums als europäischer Grenzregion und als Raum, der zwischen oder am Rande von Imperien lag und liegt. Dabei geht es ihm immer wieder um die Bedeutung für die Ausformung einer nationalen Identität und kulturellen Selbstverortung. Vor dem Hintergrund des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, erörtert Babkou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft in seinem Essay die ideengeschichtliche Einordnung dieser Zeitenwende, die Europa erschüttert. Es gehe vor allem um die Verteidigung der Diversität, schreibt er. Es sei „ein Krieg für die Diversität. Ein Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa“.
Русская Версия
„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
1. Krieg und Frieden
Es existiert die Ansicht, dass die Philosophie die Dinge komplizierter macht, als sie wirklich sind. Aber auch so etwas gibt es: Die Dinge an sich sind uns unbekannt, und die Philosophie zeigt sie komplizierter, als sie dem gewöhnlichen Menschen erscheinen.
Es gibt jedoch Kontexte, in denen möchte man klar und deutlich sein. Daher beginne ich mit Definitionen.
Wenn wir über die „Russische Welt“ sprechen, meinen wir eine bestimmte ideologische Doktrin und die ihr entsprechenden Praktiken des russischen Staates, die bereits seit einigen Jahrzehnten in latenter Form im politischen und kulturellen Bereich präsent sind, aber erst 2014/2015 vollständig zum Vorschein gekommen sind. Üblicherweise setzen wir diese neue „Russische Welt“ in Anführungszeichen und markieren damit die Abgrenzung zur ideologischen Bedeutung des Begriffs in der Zeit davor, in der er die „kulturelle und wirtschaftliche Unterstützung der Russen im Ausland“ bezeichnete, ebenso wie die allgemeine Bedeutung dieser Wortgruppe, die tatsächlich alles Mögliche heißen kann (darunter auch die schöne Utopie der russischen Kultur jenseits von Barrieren, Grenzen und Mächten).
Die heutige „Russische Welt“ umfasst Praktiken des brutalen und aggressiven Neoimperialismus, die vor allem gegen die direkten Nachbarstaaten gerichtet sind. Sie trägt aber auch eine allgemeine „geopolitische“ Vision von der ganzen Welt in sich. Die Vorstellung von einer Zukunft der Menschheit, in der starke Herrscher effektiv und straffrei Ressourcen und Territorien unter sich aufteilen. Die wichtigste konzeptionelle Emotion, die der „Russischen Welt“ zugrunde liegt, ist die postkoloniale Haltung eines Beleidigten, die an die Oberfläche tritt als ein „Warum mag man Russland nicht“, „Warum werden Russlands Interessen nicht berücksichtigt“ und „Warum haben sie Russland vergessen“. Daher sind die Kriege an der Peripherie und die Destabilisierungsversuche der globalen Ordnung nur als Instrumente von Bedeutung, um Russlands Eintritt in die schöne neue Welt zu ebnen, in der es auch „Rechte haben“ wird. Recht auf Krieg. Auf Lügen. Auf Mord und Inhaftierung kritischer Stimmen. Auf zynisches Ignorieren der öffentlichen Meinung. Auf eine Welt, in der mit Russland „gerechnet werden“ muss.
Diese postkoloniale Kränkung reift schon seit Längerem heran. Entsprechende Symptome findet man seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Doch der Übergang zur brutalen und aggressiven Phase geschah so abrupt und unerwartet, dass es ein wirklicher Schock für Intellektuelle war – sowohl in Russland als auch in Europa. Selbst heute kann ich nicht eine richtungsweisende Arbeit nennen, ob nun auf Deutsch oder Französisch, die über den Versuch der situativen Beschreibung der Ereignisse und Schuldzuweisungen hinausgeht und hinter dem ideologischen Konzept eine bestimmte Denkweise erkennt und ihre Funktionsweise versteht.
Beschreibt doch bitte Grundlagen und Konzepte und stellt dann endlich die Frage nach der neuen Epoche, in die wir aus unseren fröhlichen Postmodernismen und bedeutend weniger fröhlichen Postkommunismen nun hineingeraten sind.
Einen Text, der die Praktiken imperialen Denkens kritisch reflektiert oder gar dekonstruiert, anstatt nur Risiken und Folgen zu kalkulieren. Das Imperium findet zuallererst im Geiste, in den Köpfen und Texten statt, erst danach beginnt es sein Wirken in der politischen und wirtschaftlichen Realität. Das Imperium, das sind nicht nur Armee, Geheimdienste und Kolonialverwaltung. Es sind auch Werte, Emotionen und kulturelle Codes. Ein Weltbild, das als universell aufgedrückt wird.
Noch bedeutsamer ist, dass in der aktuellen intellektuellen Sphäre Europas nicht nur reflektierende Texte fehlen. Es fehlt auch der Ort, von dem eine solche Reflexion ausgehen könnte. Und eine Sprache, in der diese kritische Reflexion stattfinden könnte.
Es mutet seltsam an, denn im gesamten 20. Jahrhundert war in Europa eine Überproduktion kritischer Theorie zu beobachten. Heute verstehen wir jedoch auch ohne weitere Argumente: die Hegemonie der Neomarxisten, die Frankfurter, die Baudrillardschen Simulacren, selbst Sloterdijks zynische Vernunft und Žižeks Glanznummern zu Lacan, sie alle sind nicht in der Lage, die neue Realität zu beschreiben, die der russisch-ukrainische Krieg und die belarussische Revolution freigelegt haben.
Und nun sind wir bereit, die Wahrheit auszusprechen: Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht, welche Epoche wir betreten haben.
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Hier entsteht die Verlockung zu sagen: Einer der Denkorte, von dem aus die Zukunft sichtbar wird, ist heute die osteuropäische Grenzregion.
Und die Sprache, in der man konzeptuell über die neue Epoche sprechen kann, kann die Sprache der belarussischen und ukrainischen (postkolonialen) Theorie sein, ihre formalisierende und konzeptualisierende Erfahrung in der Konfrontation mit dem Imperium. Das Überleben dieser Kollision. Die Verteidigung der eigenen Subjektivität und Andersartigkeit.
Denn gerade das ist das Erstaunlichste: Ungeachtet zweier Jahrhunderte permanenter Arbeit des Imperiums ist die osteuropäische Grenzregion nicht nur nicht verschwunden, nicht im Schmelztiegel des Imperiums und der sowjetischen Nation aufgegangen, sondern hat sogar ihre paradigmatische Andersartigkeit gestärkt.
So zeichnet sie sich heute weniger durch Regionalität, sondern als wirkliches Alternativkonzept zur „Russischen Welt“ aus.
In einem klassischen Text über die Tragödie Mitteleuropas stellte Milan Kundera das Paradigma der „maximalen Vielfalt auf geringstem Raum“, das er das mitteleuropäische nannte, dem Paradigma der „geringsten Vielfalt auf größtmöglichem Raum“ gegenüber, das er auf die damalige UdSSR bezog.
Wir könnten also sagen, dass das osteuropäische Grenzgebiet nicht nur für die Verteidigung der Ukraine bestimmt ist. Oder für die Unterstützung der belarussischen Revolution. Es geht vor allem um die Verteidigung der Diversität. Um einen Krieg für die Diversität. Einen Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa.
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In Belarus hat die kritische Dekonstruktion des östlichen Nachbarn eine lange intellektuelle Tradition, chiffriert in grundlegenden Mythen der Identität, sie beginnt letztlich mit dem belarussischen Projekt an sich. Letzteres ist nicht einfach ein Standardprojekt des Nation Building mit zentralem Fokus auf dem sozialen Aspekt (soziale Befreiung des belarussischen Dorfes), sondern auch ein explizit antikoloniales Projekt (diese Befreiung ist nicht möglich ohne die Strukturen des imperialen Jochs zu demontieren).
Begonnen bei Adam Mickiewicz, der als erster in der hiesigen Tradition das Imperium kritisiert (vor allem in der Ahnenfeier (Dziady), aber auch in den Büchern des polnischen Volkes und seiner Publizistik der 1830er Jahre), später Janka Kupala, dessen Tuteischyja (Die Hiesigen) ein klassisches Beispiel für Literatur ist, die ein koloniales Trauma bearbeitet, Ihnat Abdsiralowitsch und Uladsimir Samojla, die eine entsprechende Metaphysik der belarussischen anti- und postkolonialen Handlungsmacht erarbeitet haben, bis hin zu Sjanon Pasnjaks klassischem Text Über den russischen Imperialismus und seine Gefahren und eine ganze Reihe postkolonialer Analytik vom Ende der 1990er Jahre, – die belarussischen Intellektuellen stellen wieder und wieder die passenden Fragen und geben immer neue Antworten.
Hin und wieder glaubt man schon, dass es davon zu viel in der Kultur gäbe. Dass die zentrale Aufgabe sei, „das Imperium zu vergessen“, endlich zur Normalität überzugehen und zu erinnern, dass wir „alle gemeinsam zu den Sternen fliegen“.
Doch jedes Mal, wenn die Intellektuellen sich an die Umsetzung dieser Aufgabe machen, wendet sich die Geschichte erneut, und wie am Murmeltiertag wachen wir auf, im Bett mit dem Imperium, erinnern uns qualvoll an den Vortag und versuchen zu begreifen, wie all das noch enden wird.
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Vorreiter bei der Adaption der westlichen postkolonialen Theorie für die osteuropäische Grenzregion war die ukrainische Diaspora. Der Australier Marko Pavlyshyn, die Amerikanerin Oksana Grabowicz und andere verfassten zu Beginn der 1990er Jahre erste Texte, in denen sie aufzeigten, dass Frantz Fanon, Edward Said und sogar Homi K. Bhabha, dass all das auch um uns geht. Die Entstehung einer ukrainischen Theorie verdanken wir zwei Kiewer Intellektuellen: Oksana Sabuschko und Mykola Rjabtschuk. Sie waren es, die die postkolonialen Studien aus dem akademischen Ghetto befreit und in eine Logik und Strategie für die Kultur verwandelt haben, in eine Kulturpolitik. Konzeptuell war die Ukraine seit dem Ende der 1990er Jahre bereit für die Situation „nach dem Imperium“.
In der russischen Intellektuellenszene ist die Situation weniger erfreulich. Nur drei Beispiele möchte ich anführen.
2006 erschien in Moskau die russische Übersetzung von Edward Saids Orientalismus in einem Verlag namens Russkij Mir (dt. Russische Welt). Im Vorwort wurde darauf hingewiesen, dass Said Palästinenser sei, den Westen kritisiert und daher, wenn nicht Verbündeter, so doch sicher „Weggefährte“ unseres Imperiums sei. Unerwähnt blieb an dieser Stelle jedoch, dass Saids Buch die Entstehung eines der stärksten und effektvollsten Diskurse befördert hatte, in dem das Imperium (alle Imperien) kritisiert und dekonstruiert wird.
Im selben Jahr, 2006, inszenierte das Bolschoi Dramatitscheski Teatr (BDT) in Sankt Petersburg das Stück Translations von Brian Friel. Der Autor der russischen Version, Michail Stronin, gab dem Stück den Titel Nushen perewod (dt. etwa Es braucht (eine) Übersetzung). Friels Stück wird an Universitäten schon lange als Klassiker postkolonialer Literatur behandelt. Es zeigt, wie die imperiale Macht gewaltsam den Raum überschreibt, indem sie nicht nur die Geografie und kulturelle Tradition zerbricht, sondern auch die Lebenswelten der Bewohner. Insofern kann seine Botschaft nicht unpassender verstanden werden als mit „Perewod nushen“.
Und das letzte Beispiel: 2011 erschien in Cambridge Alexander Etkinds Buch Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience, in dem der Autor anstrebt, den intellektuellen Apparat der postkolonialen Studien an die intellektuelle Geschichte des Russischen Imperiums anzupassen. Ich sage es gleich: Bei aller Sympathie für den Autor und die Verdienste des Buches an anderen Stellen – sein postkolonialer Teil ist ein komplettes Fiasko. Der Autor steigt direkt mit der kolonialen Annahme ein, „ganz Russland kolonisiere sich selbst“, wodurch er nicht nur andere konzeptuelle Perspektiven marginalisiert und verdrängt, sondern auch alle Völker und Gebiete, die das „Glück“ hatten, sich innerhalb Russlands zu befinden.
Diese drei Geschichten sind bezeichnend für das Verständnis der russischen intellektuellen Szene der letzten Dekaden. In meinen Augen sind sie Teile einer Kette, zeigen ein und dieselbe kulturelle Logik und denselben Denktypus.
Und alle drei Geschichten zeugen von Nichtbegegnung. Nicht nur mit Said, Friel und den akademischen postkolonialen Studien. Sondern vor allem den nächsten Nachbarn – Belarus und der Ukraine.
2. Fische und Menschen
„Ich bin kein Fisch, ich bin Ichthyologe“, sagte der Redner.
Das war ein Scherz unter Profis. Wir saßen in einer geschlossenen Zoom-Konferenz, einem Seminar, und diskutierten einen Vortrag über die belarussische Revolution. Er war relativ kurz. Die erste halbe Stunde zur Kultursoziologie (um die Instrumente festzulegen). Danach zehn Minuten über den August 2020 (um den Kontext herzustellen). Zum Schluss wurde es konzeptuell: Es war eine Revolution des Visuellen. Sie hatte keinen sozialen oder politischen Inhalt außer der eigenen phänomenalen Performativität. Das Volk zeigte sich einfach selbst. Trat auf die Bühne der Geschichte. Spazierte durch ihre Straßen und Gassen.
Mir verschlug es die Sprache. Dann folgte ein Anflug von Hysterie. Nicht nur, weil das alles der Wahrheit entsprach – genauso hatten wir es gemacht. Sondern auch, weil dies eine These war, die ein guter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen gewesen wäre. Für Fragestellungen. Aber der Redner beendete damit seinen Vortrag und seine weiterführenden Gedanken galten lediglich den Veröffentlichungsmöglichkeiten seiner Erkenntnisse.
Zweifel konnte es ohnehin nicht geben. Der Redner war ja ein Ichthyologe.
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Für die hiesigen Ichthyologen brach eine wunderbare Zeit an. Und sie hatten sie verdient. Jahrzehntelang hatten sie weder Aufmerksamkeit noch Wertschätzung erfahren. Die letzte Diktatur, die entnationalisierte Nation. Seltsam, dass ihr überhaupt noch lebt. Dann kam 2020 und rückte alles wieder an seinen Platz.
Jetzt konnten sie Vorträge und Mitteilungen schreiben, Konferenzen organisieren, Sammelbände herausgeben. Die Revolution wurde zum Modethema. Vorher war sie offensichtlich vorbei, zu Ende, ein totes Objekt. Man konnte Monographien schreiben, ohne zu befürchten, dass das Finale die Erkenntnisse in Frage stellen wird.
Mit den Fischen war es schon schwieriger. Wir fühlten uns gar nicht so optimistisch.
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Vor unseren Augen zerfielen alle Versuche zu verstehen, was mit uns passiert. Wir hatten das Seminar von Anfang an geleitet und hatten alle Stadien durchlaufen. Von Euphorie und Erhabenheit der ersten Treffen, über den Willen zum Wissen während der Kulmination, bis zur Sorge und Depression während der Pogrome.
Am Anfang standen Ideen und Muster für jeden, es schien, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Dann begannen die exklusiven Spiele. Alle wollten ihr Stück von der Ruhmestorte abbeißen.
Die Feministinnen schrieben, es sei eine weibliche Revolution. Und verließen das Land.
Die progressiven Liberalen schrieben, das sei ihre Revolution, sie habe alle befreit und nun seien alle frei. Die Konservativen waren misstrauischer. Sie bezweifelten zwar den Heldenmut des Volkes nicht, doch die Anführer und deren Richtung passten ihnen nicht. Und so schwankten sie: Mal lobten sie das Volk, mal schimpften sie auf die „zufälligen Anführer“.
Es gab noch die Kreativen. Die hatten eigene Versionen.
Das Tragikomische an der Situation war, dass alle recht hatten. Die Feministinnen, die Progressiven, die Konservativen, selbst die Poeten.
Die Revolution gab allen mehr als möglich. Aber nur für eine gewisse Zeit.
Diese Zeit ist nun offensichtlich vorbei. Und das war furchtbar. Dass die Dinge, die auf der Bühne der Revolution wie Gold und Glitter aussahen, im Licht der neuen Epoche nur Tand und Blendwerk sind.
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Das alles kulminierte, und sank dann sanft wieder ab in den Bereich des Gewöhnlichen, Alltäglichen. Alles kehrte an seinen Platz zurück. Man konnte sich umschauen und Bilanzen ziehen. Es war kein Anblick für schwache Nerven.
Wir waren am Boden. Über den Asphalt malmten russische Panzer. Es war unklar, ob die Okkupation lange dauern würde oder ob es noch eine Chance gab.
Die exklusiven Spiele kamen zur Ruhe. Niemand schrieb mehr, dass „wir“ das waren. Wirklich. In den Gefängnissen saßen über tausend Häftlinge. Die eine Hälfte des Landes hasste die andere Hälfte aufrichtig. Von Emotionen überwältigte Journalisten schrieben vom Krieg.
Wie sind wir dahingekommen? Nach den Rosen und Umarmungen, den Teepartys in den Innenhöfen und den süßen Träumen vom Sieg. Und noch eins. Eine Frage, die wir uns kaum zu flüstern trauten.
Wer übernimmt die Verantwortung für all das?
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Der Fischwitz ist gut, schrieb ich in den Chat.
Nur bin ich kein Ichthyologe. Ich bin ein Fisch.
Und es scheint höchste Zeit zu sein, sich in die Tiefe zu verdrücken.
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Noch gestern erinnerte Minsk an das Paris der Zwischenkriegszeit: Cafés eröffneten und schlossen wieder, Bücher und Performances sprudelten förmlich, IT-Leute halfen Katzen und Hunden, die Mittelklasse kaufte Wohneigentum und reiste durch die Welt.
Wie und warum ist all das verschwunden?
Wie und warum konnte eine Macht, die schon fast gewonnen, alle Formen des Widerstands in sich vereint hatte, plötzlich das eigene Projekt zerstören und mutigen Schrittes in den Selbstmord gehen und nebenbei noch alle ins Giorgio-Agamben-Konzentrationslager schicken?
Das liegt alles an ihm, sagt A. Dem Chef der Gazprombank. Man muss ein völliger Idiot sein, um zu glauben, dass er wirklich gewinnen wollte. Von der Revolution ganz zu schweigen. Bestenfalls, wenn wir optimistisch sind, hätte er zehn Prozent geholt und einen Sitz im Parlament. Mit weißen Bändern und Russlands Unterstützung.
Das Schlimmste wäre, wenn es ihm gelungen wäre. Dann hätten wir nicht mehr zwei Seiten im Land, wie jetzt, sondern nur noch eine. Die Gefängnisse wären auch voll, aber dort würden „eure ganzen Nationalisten“ sitzen.
Das ist alles Verschwörungstheorie, sagt B. Das kann nicht sein.
Ja, Verschwörung, stimmt A. zu. Aber das kommt vor.
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Der Postkommunismus ist halt vorbei, sagt C.
Jahrzehntelang Katastrophen und Enttäuschungen, die wir mit Süßigkeiten kompensiert haben. Fast dreißig Jahre haben sie uns angefüttert. Emotionen, Erwartungen. Noch ein bisschen, dann siegen wir. Die Macht wird unsere sein.
All das war verlockend. Wenngleich von Beginn an klar war: Dieses „wir“, das siegen wird, gibt es nicht. Und die Macht wird niemals „unsere“ sein. Sobald „Unsere“ dahingelangen, passiert etwas Seltsames mit ihnen, das sie sofort zu „Nicht Unsrigen“ macht.
Es begann mit dem Gefühl der Freude. Die Zukunft ist ganz nah, bei unseren Nachbarn ist sie schon angelangt. Man musste nur die Hausaufgaben gut machen. So sein wie alle.
Dann schreiben die Historiker, dass die Mittelklasse im Westen seit 1972 im Niedergang begriffen sei. Dass hinter den Fassaden Ungleichheit und Ungerechtigkeit herrscht. Dass alles modert. Und seit 2008/09 bröckelt es in aller Öffentlichkeit. Dass Osteuropa sich zu früh gefreut hat, als es mit der altersschwachen Barkasse den Luxusliner erreichte, auf dessen Oberdeck ein Orchester spielt. Denn das sei die Titanic.
Das Böse erkennt man nur mit dem Mikroskop, sagt C., das ist die Hauptsache. Das ist die wichtigste Erkenntnis, für uns und die ganze Welt. Plötzlich veränderten sich die Dioptrien und alle konnten es in seiner ganzen Widerwärtigkeit sehen: Auf der Welt herrscht das Böse.
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Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil jemand sie sich ausgedacht hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.
Was auch immer die Ichthyologen schreiben, ich kenne das Geheimnis der belarussischen Revolution. Doch davon spricht man nicht einmal im Flüsterton. Denn ausgesprochene Worte verändern sofort ihre Bedeutung. Und Geschriebenes trifft es erst recht nicht. Und dennoch.
Es war ein Aufstand der Fische. Die Revolution der Antipolitik.
Kein Sturm, keine Machtübernahme. Sondern ein erfolgreicher Auszug aus der Festung. Eine Flucht in die Zukunft.
Die Vergangenheit ist immer ein soziales Projekt. Eine kollektive Erinnerung, leicht zu manipulieren. Mit der Zukunft ist es komplizierter. Die Zukunft ist eine Hoffnung. Eine Bestrebung. Und vielleicht ein Glaube.
Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil sie sich jemand ausgedacht hat oder konstruiert hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.
In diesem Lichte ist das ziellose und sinnlose Durch die Straßen Gehen gar keine so dumme Beschäftigung: Sich die Zukunft zurückholen – das war der wahre Inhalt des revolutionären Laufs.
Wer da hinausgegangen ist, kehrt nicht wieder zurück.
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Nur das hat wirklich Sinn, in jeder Revolution: das Unmögliche zu fordern.
Gemeinsam mit dem Wind auf den Höhen sein, gemeinsam mit der Welle die Mauern abtragen, gemeinsam mit den Wolken die Freiheit üben.
Mit nichts übereinstimmen, losgelöst gehen. Stets aufgeschlossen sein, nie dagegen.
Sich den Naturgewalten nicht entgegenstellen, sondern ihre Stärke nutzen.
Neue Regeln schreiben, um mit Vernunft zu leiten.
Geopolitik und Post-Wahrheit verbieten.
Journalisten einen Pflichtkurs in Mediation verpassen, wenn sie mit Emotionen handeln.
Im Grundschulunterricht immer wiederholen:
Wir sind keine Ichthyologen. Wir sind Fische.
3. Untergegangen
– Herr Präsident, was ist mit Russland geschehen?
– Es ist untergegangen.