Medien

Die wahre Geschichte einer Geisterstadt

1982: Ein Atomkraftwerk soll gebaut werden. Für die spätere Belegschaft entsteht die Siedlung Kamskije Poljany. 1986 geschieht die Katastrophe in Tschernobyl, der AKW-Bau wird gestoppt. Es beginnt ein reales Warten auf Godot in Kamsjije Poljany, wo Jelena Dogadina aufgewachsen ist. Heute berichtet sie auf Takie Dela.

Quelle Takie dela

Foto © Jewgenija Shulanowa

„Edik war acht, als sein Papa beschloss, mit der ganzen Familie in eine kleine Siedlung zu ziehen, die für Arbeiter und ihre Familien hastig errichtet wurde. Ein Atomkraftwerk sollte die ganze Region mit Strom versorgen. Das war 1983, drei Jahre vor der Explosion des vierten Blocks im AKW von Tschernobyl. Die Welt hatte ihre mörderische Rettungsmission noch nicht begonnen, bei der alle sowjetischen Baustellen stillgelegt wurden. Deswegen hatten sich Ingenieure, Bauarbeiter, Mechaniker und Chemiker aus dem ganzen Land freudig auf den Weg dorthin gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden.“

Das ist der Anfang einer Geschichte, die ich in der Schule geschrieben habe. Die Namen aller Orte und Personen sind frei erfunden, jegliche Überschneidungen mit der Realität rein zufällig – würde ich gern sagen. Kann ich aber nicht.

Für die Errichtung der Stadt wurde ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht / Foto © Jewgenija Shulanowa

Die wahre Geschichte über die Geisterstadt ist sogar noch interessanter, als ich zu Schulzeiten dachte. Zum Beispiel, weil für ihre Errichtung ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde, das noch aus Zeiten Iwan des Schrecklichen stammte, oder wenn man sich die Versuche ansieht, wie die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden sollte – durch den Bau von 30 Casinos, jedoch ohne jegliche Infrastruktur für Touristen.

Bau einer Grünanlage nahe der Sonntagsschule / Foto © Jewgenija Shulanowa

Ljudmila Pospelowa ist 1982 mit Mann und Kindern nach Kamskije Poljany gezogen, aber nicht nur wegen der Allunionsbaustelle. Sie kehrte heim. Ihre Familie hatte schon im 19. Jahrhundert in dieser Gegend gelebt.

Am 11. Mai 1982 war bekanntgegeben worden, dass dort, wo sich heute die Siedlung befindet, ein Atomkraftwerk gebaut werden soll. Die ersten Arbeiter waren schon im Februar gekommen und hatten eine kleine Containersiedlung errichtet. 

Die Kama ist ein kalter, schmutziger Fluss / Foto © Jewgenija Shulanowa

Ljudmila erzählt, die ersten Bauarbeiter seien besonders sorgfältig ausgesucht worden: Man stellte keine Vorbestraften ein, und es war verboten, in privaten Häusern gemeldet zu sein, um den Strom der Zugezogenen zu kontrollieren. Sogar der Verkauf von Alkohol wurde eingestellt. „Weder hier, noch im Umland konnte man welchen kaufen. Wenn jemand betrunken war, konnten es nur Geologen auf Exkursion sein“, erzählt Ljudmila.

Wegen der vielen Leute wurden die Lebensmittel knapp

Wegen des großen Zustroms an Arbeitern wurden bald die Lebensmittel knapp, sogar das Brot wurde knapp. Gärten wurden geplündert und verwüstet, egal wie sehr Ljudmila sich bemühte, ihren in Schuss zu halten. Es mussten dringend Geschäfte her, also wurden im Erdgeschoss der Wohnhäuser Läden eröffnet und eine Kantine gebaut. Jeden Tag wurden 20 bis 30 Personen eingestellt.

Ljudmila Pospelowa kam 1982 nach Kamskije Poljany / Foto © Jewgenija Shulanowa

1983 kam auch Viktor in die Siedlung, mein Großvater. Er bekam einen Job als Monteur beim Atomkraftwerk, schätzte die Zukunftsperspektiven ab und holte ein Jahr später die Familie nach: seine Frau Vera und die Söhne Edik und Serjoscha. 

Damals hat man insgesamt sehr schnell gebaut, und so wurde im Wasserkraftwerk Shiguli schon 1986 die Hebung des Wasserstandes vorbereitet, um aus Wolgodonsk auf Lastkähnen die Brennelemente für den Reaktor zu holen. Doch am 26. April explodierte in Tschernobyl Block 4 des Atomkraftwerks.

Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf

Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf. Und Dutzende von hier fuhren zu Abräumarbeiten dorthin. Deren Kinder nennt man die Kinder der ersten und zweiten Tschernobyl-Generation. Meine Klassenkameraden gehörten zur zweiten Generation. Ich hatte eine Schulfreundin, die ständig über Kopfschmerzen klagte: erhöhter Hirndruck. Ihre Mutter hatte bei der Liquidation als Köchin gearbeitet.

Durch den Bau von Casinos sollte die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden / Foto © Jewgenija Shulanowa

1986 hatten alle außer den Liquidatoren nur eines: Angst. In Tatarstan fanden Demos für den Baustopp des Atomkraftwerks statt, angeführt wurden sie von Ökologen, die warnten, der Vorfall aus Tschernobyl könne sich wiederholen, zudem werde der Reaktor in Kamskije Poljany auf einer tektonischen Bruchstelle gebaut und es könne jederzeit ein Riss durch die Erdplatte gehen. Das stimmte nicht, deswegen beruhigten sich die Einwohner von Kamskije Poljany recht bald. Die Planer des AKWs fuhren von Ort zu Ort und erklärten den Leuten, dieser Reaktor sei ganz anders, er habe ein ganz anderes Kühlsystem und die Erdplatte werde ständig kontrolliert. „Bei uns wurde vor Baubeginn jeder Winkel und jeder Millimeter vermessen, Landvermesser hatten alles ausgeglichen. Die monolithische Platte, auf der der Reaktor stehen sollte, wurde stündlich kontrolliert, sicherheitshalber hat man sogar versucht, sie in die Luft zu sprengen“, berichtet Ljudmila Pospelowa.

Mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmücken die Menschen ihre Wohnungen / Foto © Jewgenija Shulanowa

Aber es war zu spät. Den Protesten hatten sich andere „Grüne“ angeschlossen, mit der Schriftstellerin Fausija Bairamowa an der Spitze: Sie forderten die Unabhängigkeit Tatarstans von Russland, ein Verbot von Mischehen und die Ermordung von Kindern aus Mischehen. Und das jagte den Menschen weit mehr Angst ein als irgendeine Atomkraft.

Verbot von Mischehen macht mehr Angst als Atomkraft

Die Worte der Islamisten erschreckten sogar jene, die wie Ljudmila gegen eine Schließung des Kraftwerks waren. „Sogar ich als nicht besonders schreckhafter Mensch, bekam Angst, dass wir hier ein zweites Tschetschenien bekommen.“ 

„Eine Zeit lang konnte ich sagen, meine Mutter arbeitet in Manhattan“ / Foto © Jewgenija Shulanowa

Zunächst wurden die aktiven Baumaßnahmen eingestellt, die Menschen verloren ihre Jobs. Aber damals glaubten die Einwohner von Kamskije Poljany noch, der Bau werde fortgesetzt. „Wir kriegten mit, dass Tatenergo sich nur um den Unfall und die Liquidation kümmerte. Uns beachtete man gar nicht, der Reaktor wurde einfach nicht geliefert. Aber wir hatten Hoffnung: Einfach abwarten, bis sich die Lage beruhigt, dann wird es schon weitergehen. Und plötzlich – schwupp – wird Gorbatschow abgesetzt und Jelzin interessiert das alles nicht die Bohne: ‚Nehmt euch so viel Souveränität. wie ihr wollt.‘“, erinnert sich Ljudmila.

Auf der Ruine des Reaktors veranstalteten Familien ihre Picknicks / Foto © Jewgenija Shulanowa

Im April 1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks in Kamskije Poljany per Beschluss des Obersten Sowjets der Tatarischen ASSR endgültig eingestellt. Bis heute lautet die offizielle Version, Grund dafür seien die Proteste der Umweltschützer gewesen.

Ich bin fünf Jahre nach dem Baustopp zur Welt gekommen. „Uns war die Aufgabe gegeben, das AKW in Datschen zu zerlegen“, lautet eine Zeile der inoffiziellen Hymne von Kamskije Poljany, verfasst von einer einheimischen Rockband. Dort finden sich auch die Worte: „Selbst Kran-Giganten haben wir zerlegt.“ Auch das ist wahr. Gemeint sind die Kräne K-10 000, sie kommen beim Bau von Atomkraftwerken zum Einsatz, weltweit gibt es gerade mal 15 Stück. Zwei davon waren in Kamskije Poljany. Am Bau war nur einer beteiligt, später wurde er zum AKW Kalinin gebracht, aber vorher hatten wir noch Gelegenheit ihn zu nutzen: Wir kletterten hinauf, um uns das Kraftwerk von oben anzusehen. Während der zweite Kran einfach am Kai verrostet ist, der war gar nicht erst bis zur Baustelle gekommen. 

Badespaß an den ausgehobenen Wasserspeichern des Kraftwerks

In meiner Kindheit war das AKW keine verbotene, brachliegende oder gefährliche Baustelle – es war ein Freizeitpark. Die Kama ist ein kalter und schmutziger Fluss, deswegen fuhren wir zum Baden an die ausgehobenen und schon befüllten Wasserspeicher des Kraftwerks. Und auf dem Reaktor selbst veranstalteten wir Picknicks mit der ganzen Familie. 

Gebadet wurde nicht in der Kama, sondern in den Wasserspeichern des Kraftwerks / Foto © Jewgenija Shulanowa

Aber nicht nur das Kraftwerk brach zusammen. Ich war etwa sechs, als meine Mutter und ich ans andere Ende der Siedlung gingen, um die Katze vom Vorgesetzten meines Vaters zu füttern. Damals gab es vor jedem Haus mindestens einen Sandkasten. An jenem Tag lag in einem davon ein Mädchen. 

1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks endgültig eingestellt / Foto © Jewgenija Shulanowa

Ich rannte vor, fiel vor dem Mädchen auf die Knie und blickte ihr in die Augen. Es war Sweta aus meiner Kindergartengruppe, sie hatte ein riesiges rosa Plüschmammut zuhause. Das hatte sie bei einem Musikwettbewerb gewonnen – alle waren zu Tränen gerührt gewesen, als sie gesungen hatte: „Das kann’s auf der Welt doch nicht geben, dass Kinder allein, ohne eine Mutter leben“. Neben ihr lag im Sandkasten ein Klettergerüst. Das hatte jemand einfach dort abgestellt, ohne es zu befestigen oder ein Schild aufzustellen, dass man darauf noch nicht spielen dürfe. Sweta fiel mit ihm um und war tot. Ich kann mich nicht erinnern, dass dafür jemand zur Verantwortung gezogen worden wäre.

Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen

Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen, sie erstickten in Schneehaufen, weil ein Räumfahrzeug sie übersehen und verschüttet hatte, und außerdem tranken Kinder. Man kann ihnen schwer einen Vorwurf machen. Ende der 1990er und Anfang der 2000er war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen. 

Viktor kam 1983 als Monteur in die Siedlung / Foto © Jewgenija Shulanowa

Laut Plan sollten die Wohnhäuser, die Schulen, das Krankenhaus und andere Gebäude zu Ende gebaut werden, wenn der erste Reaktor in Betrieb genommen würde. Ohne das stand die Siedlung still. Während des Baus war es noch direkt von Moskau finanziert worden, aber danach fiel es in die Zuständigkeit von Kasan. Und Kasan ergriff sogar gewisse Maßnahmen: Den Einwohnern von Kamskije Poljany wurden Jobs in Almetjewsk, Nischnekamsk und Kasan versprochen. Aber die Menschen bekamen keine Wohnungen mehr in Kamskije Poljany, und ein Gebäude nach dem anderen wurde leergeräumt.  

Während meiner Schulzeit hat meine Mutter neun Mal den Job gewechselt. Sie tat mehr als das Mögliche: Dass die schwersten Hungerjahre der Siedlung in den 2000er Jahren waren, habe ich erst vor wenigen Monaten erfahren.  

Ende der 1990er Jahre war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen / Foto © Jewgenija Shulanowa

Eine Zeit lang konnte ich sagen: „Meine Mutter arbeitet in Manhattan.“ Das war 2006. Zu dieser Zeit hatten sich alle daran gewöhnt, einmal im Jahr Versprechen vom Fertigbau des Kraftwerks zu hören, aber nun kam etwas Anderes: In Kamskije Poljany entsteht ein Zentrum für Glücksspiele! 2007 waren in der Siedlung schon neun Casinos in Betrieb, vier weitere sollten in Kürze dazukommen. 

„Ingenieure, Bauarbeiter, Chemiker aus dem ganzen Land hatten sich freudig dorthin auf den Weg gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden“ / Foto © Jewgenija Shulanowa

Laut offiziellen Zahlen hat das tatarische Las Vegas 400 Arbeitsplätze geschaffen. Aber prozentual blieb die Arbeitslosigkeit auf demselben Niveau, nur, dass die Bevölkerung etwas geschrumpft ist.  

Glücksspielparadies ohne Hotel

Die Sache ist die, dass das Glücksspielparadies schlecht beworben wurde, die Straßen nicht ausgebessert, kein einziges Hotel gebaut und auch sonst keinerlei Infrastruktur geschaffen wurde. Also kamen auch keine Touristen. So spielten die Einheimischen – versetzten ihre Wohnungen, Autos und Datschen. Und begannen dann auch, sich wegen der Schulden gegenseitig umzubringen. Eine Woche nachdem meine Mutter gekündigt hatte, wurde in ihrem Casino eine alte Garderobenfrau getötet. Ein Mann, der eine große Geldsumme verspielt hatte, lauerte den Casinomitarbeitern bei den Garagen auf, weil er glaubte, sie würden Geld bei sich tragen.  

Ohne das Atomkraftwerk stand die Siedlung still / Foto © Jewgenija Shulanowa

2009 trat das Gesetz zur „staatlichen Regulierung der Tätigkeiten in der Organisation und Durchführung von Glücksspiel“ in Kraft, Spielhallen waren nur noch an vier Orten in Russland erlaubt. Kamskije Poljany gehörte nicht dazu. Also gesellten sich auch noch verlassene Casinos zum Stadtbild. Und mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmückten meine Freunde ihre Zimmer.

Für das Glücksspielparadies wurde keine Infrastruktur geschaffen, also kamen auch keine Touristen / Foto © Jewgenija Shulanowa

2008 hatte Kasan wieder ein ambitioniertes Vorhaben: ein Kur- und Tourismusgebiet in Kamskije Poljany zu errichten. Gesamtfläche: 103.015 Hektar. Mit verschiedenen Bereichen für Wochenendausflüge (ob Business-, Wassersport-, Erlebnis-, Extrem-, Kinder- oder Familienurlaub); auf Folklore und Kultur ausgerichteten Tourismus; Wellness, Jagd und Ökotourismus; ganzjährige Arten des Abenteuertourismus. Es wurde nichts draus. 

Fabrik für Stretchfolie und Fischzucht-Freizeit-Cluster

Laut Medienberichten ist „Kamskije Poljany 2009 in die Liste der Monostädte Russlands aufgenommen worden und hat 1,7 Milliarden für den Bau eines Industriegebiets erhalten“. Das Industriegebiet – das ist eine Fabrik, die Stretchfolie produziert. Es heißt, sie versorge ein Viertel der Einwohner mit Arbeitsplätzen. Auf der offiziellen Website der Fabrik liest man, sie beschäftige 450 Mitarbeiter. In der Siedlung sind 15.000 Einwohner gemeldet. 2011 wurden Kamskije Poljany 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt. Seit 2017 läuft ein Verfahren wegen der Entwendung dieser Summe und weiteren 45 Millionen Rubel, die als Prämie an eine nicht existente Fabrik ausgezahlt wurden. 

2013 hat die Regierung der Russischen Föderation eine Liste von Atomkraftwerken erstellt, die bis 2030 erweitert oder fertig gebaut werden sollen. Das AKW Tatarien war auf Platz sechs.

2011 wurden 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt – das Geld verschwand / Foto © Jewgenija Shulanowa

Ljudmila Pospelowa kämpft derzeit darum, dass sich die Verwaltung endlich um den alten Friedhof kümmert, und bereitet Schüler auf die Abschlussprüfungen in Russisch und Literatur vor. Wie mich damals. Am Ende unseres Gesprächs sagt sie noch, man habe versprochen, das Kraftwerk bis 2030 fertig zu bauen – diesmal angeblich wirklich. 

In den Casinos verspielten die Einheimischen ihre Wohnungen, Autos und Datschen / Foto © Jewgenija Shulanowa

Offenbar weiß sie noch nichts davon, dass die Liste der Atomkraftwerke letztes Jahr aktualisiert wurde, Tatarien ist nicht mehr dabei.

Der Plan eines Kur- und Tourismusgebiets in Kamskije Poljany scheiterte / Foto © Jewgenija Shulanowa

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnosen
en

Monostädte

Erloschene Fabrikschlote, verödete Landschaften und erschreckende Perspektivlosigkeit – seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erleben viele russische Monostädte ihren Niedergang. Ab den 1930er Jahren zumeist am Reißbrett entworfen, zogen die rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichteten Städte einstmals hunderttausende Menschen an. Die Siedlungen um die Metall- und Rohstoffindustrie bildeten das Rückgrat der sowjetischen Wirtschaft: Über 400 Monostädte erwirtschafteten zeitweise bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Seit den 1990er Jahren befinden sich viele Monostädte im wirtschaftlichen Niedergang: Sie sind geplagt von Problemen wie Arbeitslosigkeit, hoher Anfälligkeit gegenüber Konjunkturschwankungen und massiver Abwanderung von jungen, qualifizierten Arbeitskräften.

Viele kleine und mittlere Industriestandorte der ehemaligen Sowjetunion sind sogenannte monoindustrielle Städte (russ. „monoprofilnyje munizipalnyje obrasowanija“) oder kurz: Monostädte. Eine Stadt gilt dann als monoindustriell, wenn sie über 3000 Einwohner zählt und mindestens ein Fünftel aller Beschäftigten in nur einem Unternehmen oder Industriekomplex angestellt ist. Ein solches Unternehmen gilt für die russische Gesetzgebung als ein gemeindekonstituierender Betrieb (russ. „gradoobrasujuschtscheje predprijatije“). Zu Monostädten zählen derzeit 317 Städte in Russland (offiziell 319, davon zwei Monostädte auf der Halbinsel Krim), also ungefähr jede dritte Stadt des Landes. Dort leben insgesamt etwa 15,6 Millionen Menschen, die rund ein Viertel des russischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, Tendenz fallend.1 Die meisten Monostädte liegen in der Oblast Kemerowo (19), gefolgt von der Oblast Swerdlowsk (15), der Oblast Tscheljabinsk und der Oblast Nishni Nowgorod (jeweils 12).

 


Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Stand: 2016. Quellen: Regierung der Russischen Föderation, Ministerium für Industrie und Handel

Quantität und Qualität von Monostädten

Die Anzahl von russischen Monostädten ist seit den 1990er Jahren rückläufig. Dabei muss allerdings bemerkt werden, dass sowohl über die Gesamtzahl als auch über die Definition von Monostädten lange Zeit Uneinigkeit herrschte. Das lag zum einen am Strukturwandel: Einige Kommunen verloren nämlich durch die Änderung der Beschäftigungssituation ihren Status oder verschwanden gar von der Landkarte. Zum anderen lag das an verschiedenen Klassifikationen, die sich entweder nach demographischen, ökonomischen oder politischen Kriterien richteten. So wurden teilweise auch die sogenannten geschlossenen Städte dazugezählt – Städte, die für militärische Zwecke oder für die Atomindustrie erbaut wurden und damit zugangsbeschränkt sind. Auch ihre nächsten Verwandten zählte man teilweise dazu: Die sogenannten Wissenschaftsstädte sind mit ihren teils geheimen Forschungszentren ebenfalls oft zugangsbeschränkt.2 Solche Städte unterscheiden sich von Monostädten hauptsächlich durch ihre gesetzlichen Stellungen und spezifischen Finanzierungen, sowie durch ihre Bevölkerungsstruktur.

Die russische Regierung definierte diese Unterschiede erst 2014. Dabei erstellte sie zugleich sowohl einen gesetzlichen Rahmen für die besagte Definition von Monostädten als auch eine Unterteilung in drei sozioökonomische Kategorien: Demnach befinden sich derzeit 93 russische Monostädte in einer kritischen Lage, 153 Städte gehören zur sogenannten Risikogruppe und 71 gelten als Städte in einer stabilen soziоökonomischen Lage.3

Zahlreiche Beispiele zeigen, dass dieses urbane Modell hochgradig risikobehaftet ist, vor allem durch Konjunkturschwankungen. Umweltverschmutzung, schwache Infrastruktur (unter anderem im Bildungs- und Gesundheitssektor) sowie die Abwanderung von jungen qualifizierten Arbeitskräften sind weit verbreitete Probleme von Monostädten.4 Dieses oft als Teufelskreis beschriebene Phänomen verhindert den nötigen Strukturwandel.

Während unterfinanzierte Gemeinden von sozioökonomischen Transformations-Herausforderungen oft überfordert sind, bieten sich für die Bewohner von Monostädten nur wenige Chancen und Perspektiven. Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit ist die häufige Folge. Zahlreiche Monostädte gerieten in den 1990er Jahren in eine Abwärtsspirale aus Abwanderung, Stadtschrumpfung und sinkender Lebensqualität.

Während der Wirtschaftskrise kam es 2009 zu öffentlichen Protesten in einigen Monostädten: Die bekanntesten ereigneten sich in Pikaljowo – eine Stadt mit rund 22.000 Einwohnern in der Nähe von St. Petersburg, wo Zement, Aluminium und Kalisalz hergestellt werden. Die Eskalation rief schließlich das Eingreifen des damaligen Premierministers Wladimir Putin als Schlichter auf den Plan.


Schlote im Stadtbild 

Portrait I: Toljatti

Toljatti an der Wolga / Foto  © Alexxx Malev/flickr.com

Der Produktionskomplex der Autofabrik AwtoWAS / Foto © Alexxx Malev/flickr.com

Toljatti ist mit rund 700.000 Einwohnern die größte Monostadt Russlands. Die Stadt an der Wolga beherbergt seit 1966 den größten russischen Autohersteller – die Autofabrik AwtoWAS, in der bis Ende 2008 etwa 106.000 Mitarbeiter beschäftigt waren. Die überwiegende Mehrheit anderer Unternehmen in Toljatti ist mit der Autoindustrie verknüpft. In Folge der Wirtschaftskrise geriet das Unternehmen 2009 in finanzielle Schwierigkeiten. Sanierungsmaßnahmen und mehrere Entlassungswellen folgten, sodass der größte PKW-Hersteller in Russland Anfang 2018 nur noch rund 36.400 Mitarbeiter beschäftigte.

Portrait II: Kowdor

Kowdor - nördlich des Polarkreises an der finnischen Grenze / Foto © Maksim Mugatin

Das Bergwerk in Kowdor / Foto © Maksim Mugatin

Die Stadt Kowdor in der Oblast Murmansk liegt etwa 100 Kilometer nördlich des Polarkreises an der finnischen Grenze. Dort lebten einstmals rund 30.000 Menschen. Die Stadt entstand 1953, als der Abbau von Eisen und Phosphat begann und eine Raffinerie gebaut wurde. Mit dem Verfall der Eisen-Nachfrage wurde die Produktion in den 1990er Jahren auf die Herstellung anderer Mineralien umgestellt. Der Betrieb gehört derzeit zu einem Chemiekonzern, der die Produktionsstätte gegenwärtig modernisiert. Kowdor zählt rund 16.000 Einwohner, etwa 3700 von ihnen sind Beschäftigte des Abbaubetriebs.


Planwirtschaftliche single-industry towns

Monoindustrielle Städte sind keineswegs nur ein sowjetisches beziehungsweise russisches Phänomen. So gibt es beispielsweise in Kanada schätzungsweise 1000 single-industry towns mit über einer Million Gesamtbevölkerung.5

Die sowjetischen Monostädte haben jedoch durchaus ihre Spezifika: Sie wurden durch die Urbanisierung und Industrialisierung sowjetischen Typs hervorgebracht, deren Folgen noch heute weite Teile Eurasiens prägen. Im Unterschied zu westlichen Industrieländern wurde der Städtebau in der UdSSR zentralistisch vorangetrieben, und zwar auf Grundlage von Plänen über die landesweite Verteilung von Produktivkräften.6 Der Staat setzte dabei mittelfristige politische, planwirtschaftliche und militärstrategische Ziele durch. Nachhaltigkeits- und soziale Kriterien traten in den Hintergrund. Besonders in der Nachkriegszeit wurde das Modell der monoindustriellen Städte zur Blaupause der wirtschaftlichen Erschließung des Landes, vor allem in entlegenen Regionen.

Sein und Bewusstsein in Monostädten

Die Unterordnung aller städtischen Funktionen unter die Logik planwirtschaftlicher Industrialisierung spiegelt sich in sämtlichen Lebensbereichen der Monostädte wider. Nicht nur räumliche, architektonische, ökonomische, demographische Strukturen sind davon geprägt, sondern auch die Institutionen, Kommunikation und Alltagsroutinen mehrerer Millionen Menschen.

So sind heute noch vielerorts die städtischen Versorgungssysteme wie Fernwärme und Strom an Produktionskreisläufe der Betriebe gekoppelt. Wenn das Unternehmen in einer wirtschaftlichen Krise steckt, dann ist auch oft die Versorgung der ganzen Stadt davon betroffen. Auch Stadtpflege, soziale Dienstleistungen oder Stadtfeste gehören häufig zu den Verantwortlichkeiten des gemeindekonstituierenden Betriebs. Finanzielle Schwierigkeiten des Betriebs spiegeln sich somit in vielen Lebensbereichen der Stadtbewohner wider.

So überrascht es kaum, dass viele (Wohn-)Häuser in den russischen Monostädten heute baufällig sind. Viele öffentliche Räume sind verwahrlost, es fehlt an zeitgemäßen Freizeitangeboten und sogenannten „dritten Räumen“ – Orte wie Cafés, Bars oder Parks, an denen sich Menschen treffen können.7

Die demographische Struktur von Monostädten wird besonders durch die Bildungsmigration von Abiturienten und durch die überproportionale Abwanderung von jungen Frauen belastet.

Paternalistische Muster scheinen sich über mehrere Generationen in vielfältiger Weise verstetigt zu haben. Studien zufolge ist für Monostädte in besonders hohem Maß die Passivität der Bevölkerung charakteristisch, die von Industriebetrieben die Lösung sozialer, infrastruktureller und ökologischer Probleme erwartet.8 Unternehmen beklagen diese Erwartungshaltung und versuchen teilweise aktive Rollenmodelle durch Programme zu fördern, womit sie aber zugleich auch ihre Rolle als Ressourcengeber zementieren und den Paternalismus forterhalten. Hinzu kommt, dass die Führungsebene der Unternehmen häufig auch die Gemeindeverwaltungen und die lokalen Medien kontrolliert. Damit reproduzieren die Unternehmen nicht nur die gemeindekonstituierende Komponente, sondern fügen ihr noch oftmals auch eine alltagskonstituierende hinzu.

Ein bisher kaum gelöstes Problem ist die bereits Jahrzehnte andauernde Umweltverschmutzung. Der kostspielige Einsatz von automatisierten Emissionskontrollen und modernen Reinigungsverfahren schreitet nur sehr langsam voran. Für die Konkurrenzfähigkeit der Städte wird aber der ökologische Faktor in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen.

Aktuelle Lösungsansätze

Monostädte stehen vor ernsten Herausforderungen, für die notwendige sozioökonomische Umstrukturierung gibt es aber keine simplen Lösungen. Stadtsoziologen und andere Wissenschaftler fordern komplexe Antworten, unter anderem sollen Partnerschaften zwischen Städten und dem Privatsektor die gravierenden Probleme mildern.9

2014 erklärte Präsident Wladimir Putin die wirtschaftliche Diversifizierung und Modernisierung der Monostädte erstmals zur Priorität. Mit der Umsetzung des ehrgeizigen Programms ist die Stiftung zur Entwicklung der Monostädte betraut.10 Diese regt teilweise mit Erfolg dazu an, Investitionsprojekte zu finanzieren, Steuersenkungen zu beschließen11 und das Verwaltungspersonal auszubilden.12 Der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit der Monostädte liegt aber auch im bürgerschaftlichen Engagement, in der Ausformung einer positiven lokalen Identität und in der Entwicklung von Zukunftsperspektiven.13


 
1.Neuere Erhebungen relativieren allerdings die offiziellen Arbeitsmarkt-Zahlen. Demnach sind inzwischen weniger Menschen in gemeindekonstituierenden Betrieben beschäftigt als bislang angenommen. Siehe: Zubarevič, N. V. (2017): Transformacija rynkov truda rossijskich monogorodov, in: Vestnik Moskovskogo universiteta, Serija 5: Geografija, 2017:4, S: 38–43 
2.Abweichende Definitionen und Gesamtzahlen der russischen Monostädte siehe z. B. unter: World Bank (2010): Russian economic report (English),; Maslova, A. N. (2011): Monogoroda v Rossii: problemy i  rešenija, in: Problemnyj analiz i gosudarstvenno-upravlenčeskoje projektirovanije, 2011:5 
3.Definition gemäß Beschluss der Russischen Regierung vom 29.07.2014. Die Liste der Monostädte wurde mehrmals aktualisiert, zuletzt 2016. Monostädte der Öl- und Gasindustrie sowie  sogenannte geschlossene Städte sind nicht in der Liste enthalten. 
4.Zemljanskij, D. J./Lamanov, S. V. (2014): Szenarii razvitija monoprofil'nych gorodov Rossii, in: Vestnik Moskovkogo universiteta, Serija 5: Geografija, 2014:5, S. 69-74; Zemljanskij, D. J. (2011): Single industry towns in Russia, in: Regional Research of Russia, Vol. 1, no. 1 
5.Siehe u. a.: David Curran Associates (2009): Municipal Economic Crisis Response Program: A Municipal Guide for Economic Recovery, St. Johns 
6.Batunova, E./Gunko, M. (2018): Planning under conditions of shrinkage: the case of Russian small and medium-sized cities, in: Hospers, G.-J./Syssner, J. (Hrsg.): Dealing with Urban and Rural Shrinkage: Formal and Informal Strategies, Munster, S. 58-72 
7.Als dritte Räume („Third Spaces“) werden in der Stadtsoziologie Orte der Vergesellschaftung bezeichnet – i m Unterschied zu „First Space“ (Wohnort) und „Second Space“ (Arbeitsplatz). Der Begriff geht auf Ray Oldenburgs Theorie zurück: Der Raum produziert die Gesellschaft. Oldenburg, Ray (1989): The Great Good Place: Cafes, Coffee Shops, Community Centers, Beauty Parlors, General Stores, Bars, Hangouts, and How They Get You Through the Day, New York 
8.Kommersant: Formula oživlenija monogorodov 
9.Siehe oben: World Bank (2010) 
10.Die russische Stiftung zur Entwicklung der Monostädte (Fond razvitija monogorodov) wurde mit Beteiligung der staatlichen Wneschekonombank 2014 gegründet. Sie investiert auch selbst in Infrastrukturmaßnahmen und fördert seit 2016 die Entstehung von sogenannten „Territorien vorauseilender Entwicklung“. Laut Eigenangabe hat die Stiftung bis Ende 2017 etwa 140 Millionen Euro investiert und rund 5000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Programmziele sehen bis Ende 2018 etwa 230.000 neue Arbeitsplätze und ein Investitionsvolumen von 170 Milliarden Rubel (etwa 2,4 Milliarden Euro) vor: Fond razvitija monogorodov, siehe auch: Novosti Monogrodov 
11.Davon profitieren bis Augut 2018 etwa 170 gelistete Unternehmen in circa 60 Monostädten, siehe Unternehmensliste
12.Bis Ende 2017 wurden mit Mitteln der Stiftung Teams aus 314 russischen Monostädten oder insgesamt 1546 Vertreter der lokalen Verwaltung und Privatwirtschaft ausgebildet, siehe Tätigkeitsbericht
13.Zamyatina, Nadezhda /Pelyasov, Alexander (2016): The Anna Karenina Principle: How to Diversify Monocities, in: Orttung, R./Zemljanskij, D. J.: Sustaining Russia’s Arctic Cities: Resource Politics, Migration, and Climate Change; Lamarov, S. V. (2014): Scenarii rasvitija monoprofil'nych gorodov Rossii, in: Vestnik Moskovskogo universiteta, Geografija, 2014:5, S. 69-74; Zemlyanskij, D. Y. (2011): Single industry towns in Russia, in: Regional Research of Russia, Vol 1, no. 1 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose

Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

Gnose

Sozialprotest

Weit verbreitet sind in Russland Proteste zu Sozialthemen wie Lohnrückstände, Sozialabbau oder LKW-Maut. Im Gegensatz zu Protestaktionen der Oppositionellen und Aktionskünstler wird jedoch über sie gerade von den westlichen Medien selten berichtet. Die Aktionsformen reichen vom Bummelstreik bis zur Selbstverbrennung. Von einigen Beobachtern als unpolitisch abgetan, gilt der Sozialprotest anderen als der wahrhaft politische, da es um konkrete Interessen statt eines abstrakten Wandels geht.

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)