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„Russland ist nicht bereit für die grüne Wende“

Immer mehr Verbraucher in Europa bekommen es zu spüren: Rekordpreise auf dem Energiemarkt. Ein Faktor, der in der Debatte darüber immer wieder genannt wird, ist Russland. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet unterdessen, dass die US-Regierung Insidern zufolge bereits Notfallpläne für Gaslieferungen nach Europa ausarbeite – für den Fall, dass diese im Zuge der Krise um die Ukraine etwa unterbrochen würden. 
Präsident Wladimir Putin hatte noch im Dezember größere Gaslieferungen versprochen – sobald Nord Stream 2 in Betrieb ginge. Nach Aussagen der Internationalen Energieagentur (IEA) könnte der staatliche Gazprom-Konzern die Liefermengen jedoch auch über die bestehende Infrastruktur deutlich erhöhen.

Der Energieexperte Michail Krutichin nennt das „Erpressung“. Im Interview mit Republic spricht der Branchenkenner der Consulting-Firma RusEnergy über die Perspektiven des Pipeline-Projekts, über die Vermischung politischer und wirtschaftlicher Interessen bei Gazprom, aber auch ausführlich über die möglichen Auswirkungen der globalen Hinwendung zu den erneuerbaren Energien für die russische Öl- und Gaswirtschaft.

Quelle Republic

Jewgeni Senschin: Was hatte Ihrer Meinung nach im vergangenen Jahr den größten Einfluss auf den russischen Öl- und Gasmarkt?

Michail Krutichin: Das Wesentliche ist, dass sich die globale Ölbranche umorientiert: weg von Investitionen zur Förderung kohlenwasserstoffbasierter Rohstoffe hin zu Investitionen in erneuerbare Energiequellen und in die grüne Energiewirtschaft. Wir sehen das bei den führenden Öl- und Gasunternehmen. Die Regierungen vieler Länder, auch erdölfördernder Länder wie Saudi-Arabien, unterstützen diesen Trend nicht nur, sondern sichern die Entwicklung gesetzgeberisch, finanziell, mit verschiedenen Vergünstigungen in diese Richtung ab, sogar mit staatlichen Investitionen.
Im vergangenen Jahr hat sogar die russische Führung verstanden, dass sich die Welt ernsthaft in eine neue Richtung bewegt. Und das ist keineswegs die Richtung, auf die man in Russland gesetzt hatte. Wir erinnern uns an solche Dokumente wie die Doktrin der nationalen Energiesicherheit, in der ganz klar davon die Rede war, dass diese ganze Energieeffizienz, die Energieeinsparungen, die grünen Energien, dass das alles Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen für Russland sind. Das aber will den bisherigen Weg weiter beschreiten und stützt sich dabei auf die Förderung und den Export von Erdöl, Erdgas und Kohle, das heißt auf das, was heute als „schmutzige Energie“ bezeichnet wird. Dieser Trend wird kurz- und mittelfristig bestimmen, wohin sich die Welt bewegt und wie sehr Russland dabei ins Hintertreffen gerät.

Russland stützt sich auf das, was heute als ‚schmutzige Energie‘ bezeichnet wird

Neben dieser allgemeinen Entwicklung in der Branche wird jedoch auch die Gefahr deutlich, dass weltweit weniger in die Suche nach Öl- und Gaslagerstätten investiert wird. Möglicherweise wird das nach einer gewissen Zeit zu einem Einbruch in der Öl- und Gasförderung führen, und das hätte wiederum höhere Öl- und Gaspreise zur Folge. Somit ringen also zwei unvereinbare Trends miteinander, und welcher davon auf absehbare Sicht die Oberhand behält, ist derzeit ungewiss. 

Inwieweit tragen die Maßnahmen der russischen Führung Ihrer Meinung nach diesen Herausforderungen Rechnung? 

Bislang sehen wir einen Tanz der russischen Führung um den heißen Brei – es werden seltsame Dokumente verabschiedet, etwa ein Wasserstoff-Aktionsplan; einzelne Unternehmen beschließen Aktionspläne für die Entwicklung grüner Energien. Hier stechen einige Unternehmen heraus, wie Nowatek, Gazprom Neft und teilweise Lukoil. Aber insgesamt zeigt sich, dass Russland für die grüne Wende nicht bereit ist und es auch nicht eilig hat, sich darauf vorzubereiten. 

Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist

Die Regierung ist nicht einmal in der Lage, eine kohärente Wasserstoff-Strategie zu beschließen, stattdessen werden einzelne Dokumente verabschiedet. Das Ergebnis ist ein Flickenteppich, doch welche Behörde wofür zuständig ist, bleibt völlig unklar. Alle zerren in unterschiedliche Richtungen und kommen mit bürokratischen Äußerungen wie „gut wäre es, wenn“, „wir arbeiten aktiv daran, dass“ oder „die Vorbereitungen für x y z laufen“. Aber tatsächlich passiert sehr wenig.

Weshalb passiert so wenig? Misst man dem keine Bedeutung bei, mangelt es an Kompetenz, fehlt die Zeit, oder was ist das Problem?

Sowohl die Beamten als auch die Chefs der Öl- und Gasunternehmen sind es gewohnt, wie Parasiten von der traditionellen Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu profitieren, sprich, einfach zu fördern und zu verkaufen. Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist. Wir beobachten den seltsamen Trend, dass gigantische Projekte initiiert werden (vor allem zu Lasten von Staatsunternehmen wie Rosneft), die wirtschaftlich jedoch kaum zu rechtfertigen sind – zum Beispiel Vostok Oil. Somit bestätigt sich die alte Wahrheit, dass ein Beamter in einem Staatsunternehmen nicht am Endergebnis, an Gewinn und an Effizienz interessiert ist. Für ihn ist der Prozess interessant, im Zuge dessen etwas herauszuholen ist, nennen wir es mal eine Korruptionssteuer – also das, was man als raspil und otkat bezeichnet. In diesem Sinne werden bei uns Projekte oft ohne Rücksicht auf die künftige Rentabilität umgesetzt. Und das ist nicht nur Vostok Oil, sondern beispielsweise auch die viel gepriesene Erdgaspipeline Sila Sibiri 2.

Auf lange Sicht sind grüne Energien eine Bedrohung für Russland in seiner derzeitigen wirtschaftlichen Struktur. Aber wenn wir eine Perspektive von vielleicht fünf Jahren nehmen, lohnt es sich da überhaupt für das heutige politische Regime, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen? Vielleicht wird das Regime eher untergehen, als dass sich die Welt von Öl und Gas verabschiedet. Der Planungshorizont von Beamten und Politikern ist kurz.

Wir sehen, dass der Trend zur Ökologisierung, insbesondere die Abgaben auf CO2-Emissionen in die Atmosphäre, für einige Unternehmen schon jetzt zu einer ernsthaften Belastung werden. In den europäischen Richtlinien für Öl und Gas findet sich bislang nur wenig dazu, aber: In ein, zwei Jahren werden Öl und Gas in die Liste der Energieträger aufgenommen, die solchen Beschränkungen unterliegen. 

Die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen

Dann werden die Öl- und Gaslieferanten und natürlich auch die Kohlelieferanten eine sogenannte CO2-Steuer in ganz unterschiedlicher Form zahlen. Und die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen. Möglich ist das bereits in naher Zukunft.

Die Lage wird noch verschärft: Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren. So ist vor allem beim Erdöl festzustellen, dass russische Ölunternehmen die Förderung aus längst erschlossenen Lagerstätten intensivieren – mit Ausnahme von Rosneft und seinem zweifelhaften Projekt Vostok Oil. Oder sie beginnen einfach mit der Ausbeutung der Vorräte im sogenannten Erdölsaum von Gaslagerstätten. 

Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren

So deklariert Gazprom Neft beispielsweise die bereits 1974 erschlossene Lagerstätte Peszowoje als neu und gibt feierlich bekannt, dass dadurch die Förderung erhöht wird. Jedoch könnten solche Möglichkeiten in alten Lagerstätten sehr schnell ausgeschöpft sein, da der Großteil der übrigen Ölvorräte in Russland zur Kategorie der schwer förderbaren Reserven gehört und die Preise für solche Rohstoffe dann zwangsläufig extrem hoch sein werden. 

Die Unternehmen wollen ganz einfach nichts Neues entwickeln. Bei der Erschließung neuer Lagerstätten können vom Beginn der Investition bis zum realen Gewinn sieben bis 15 Jahre vergehen. Aber wie sich in diesem Zeitraum die Branche, die weltweite Nachfrage, die politischen Verhältnisse und die steuerliche Situation in Russland entwickeln, weiß niemand genau. Es gibt hier keine Stabilität, daher investieren die Unternehmen nicht in solche Projekte. 

Wenn man für das Jahr 2021 ein Fazit für den russischen Öl- und Gassektor zieht, kann die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht außer Acht gelassen werden. Alexander Nowak hat kürzlich gesagt, die Zertifizierungsverfahren für das Projekt könnten Mitte 2022 abgeschlossen sein, sodass dann die ersten Gaslieferungen aufgenommen würden. Sie sind ein bekannter Kritiker dieser Pipeline und sagten einmal, dass das Projekt bereits im Dezember 2019 gestorben sei, als vom US-Kongress Sanktionen dagegen verhängt wurden. Wie schätzen Sie aktuell die Zukunft des Projekts ein?

Noch vor ihrer Inbetriebnahme ist die Pipeline zu einem politischen Druckmittel geworden. Unser Präsident erklärt, dass er die Gaslieferungen [in die Europäische Union – dek] um zehn Prozent erhöhen könne, jedoch unter der Bedingung, dass das Gas durch Nord Stream 2 fließt. Andernfalls würden Europas Bürger aufgrund des fehlenden Gases womöglich im Winter frieren. Das heißt, dass entweder enorme freie Kapazitäten für den Gastransport durch die Ukraine und auch durch Belarus und Polen stillliegen, oder dass dort der Gasdurchfluss gedrosselt wird. Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands. 

Wird Nord Stream 2 zertifiziert? Diese Frage ist offen. Erst kürzlich haben sich in Deutschland das Auswärtige Amt und der Bundeskanzler darauf geeinigt, dass das Projekt nach europäischen und nicht nach deutschen Richtlinien zertifiziert werden soll. Damit ist eine einfache Anforderung verbunden: Der Betreiber der Pipeline kann nicht gleichzeitig auch der Eigentümer des Gases sein. Somit kann Gazprom nicht sein Gas durch seine eigene Pipeline leiten. Das widerspricht den Wettbewerbsregeln der EU. Das bedeutet, dass Gazprom entweder eine Änderung des Föderalen Gesetzes über den Gasexport erwirken muss, das dem Konzern bislang eine Monopolstellung zuschreibt, oder gezwungen ist, die Funktion des Pipeline-Betreibers an ein anderes Unternehmen abzutreten.

Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands

Gazprom hat versucht, diese Funktion an ein in der Schweiz registriertes Unternehmen abzugeben. Von den Deutschen hieß es daraufhin, so gehe es nicht. Das Unternehmen müsse in Deutschland registriert sein. Bislang ist Gazprom dieser Forderung der deutschen Regulierungsbehörde nicht nachgekommen. Wann es dazu kommt – dahinter steht ein riesiges Fragezeichen. In welche Richtung sich die Sache entwickelt, ist absolut unklar. Bislang sehen wir ganz einfach eine Erpressung, um Deutschland zur Absage an europäische Wettbewerbsregeln zu zwingen. Die Erwartung seitens Gazprom ist jedoch unrealistisch.

Könnte Europa auf russisches Gas verzichten, wenn das Vorgehen von Gazprom die Grenzen des Tolerierbaren überschreitet?

Ich würde nicht von der gesamten Europäischen Union sprechen. Nehmen wir Deutschland. Dort sind drei Terminals für Flüssigerdgas geplant, es gibt Pläne für den Bezug großer Mengen via Frankreich, Belgien und so weiter. Das heißt, Deutschland wird auf russisches Gas verzichten können, obwohl es heute einen großen Teil seines Bedarfs damit deckt. 

Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich nicht erwarten

Aber es gibt andere Länder, die nicht ohne russisches Gas auskommen. Das sind die osteuropäischen Länder: Ungarn, Bulgarien, die Slowakei. Sie werden eine erhebliche Zeit benötigen, um auf russisches Gas verzichten zu können. Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich daher nicht erwarten.
Aber ich möchte eines anmerken: Sogar in den Darstellungen von Gazprom ist immer die Rede davon gewesen, dass russisches Erdgas in der Europäischen Union bis 2040 einen Anteil von 30 bis 33 Prozent behalten wird. Ja, selbst wenn der Gesamtgasverbrauch aufgrund der grünen Wende zurückgehen könnte, bleibt demnach der Anteil von Gazprom an der Gesamtmenge unverändert. Allerdings nur, wenn der Konzern sich nicht als politisches Druckmittel instrumentalisieren lässt, sondern als echtes Wirtschaftsunternehmen agiert.

Gazprom verfügt über bemerkenswerte Wettbewerbsvorteile. Erstens ist eine gute Lieferinfrastruktur vorhanden. Zweitens stehen gigantische Mengen zur Verfügung, mit denen Verbraucher flexibel versorgt werden können. Drittens gibt es die Unterstützung der russischen Regierung in ganz unterschiedlicher Form. Viertens gibt es das Phänomen der sogenannten Schröderisierung, also korrumpierte Politiker aus Europa, die Gazprom unterstützen können.

Gazprom kann einen beträchtlichen Anteil am Gasverbrauch in der EU halten. Jedoch nur, wenn es nicht wie ein Hooligan auftritt

Kurz, Gazprom hat alle Chancen, über viele Jahre hinweg einen Anteil von einem Drittel am Gasverbrauch in der Europäischen Union zu halten. Jedoch unter der Bedingung, dass der Konzern nicht wie derzeit als Hooligan auftritt und Krieg gegen die Verbraucher führt.

Man muss Gazprom als drei getrennte Unternehmen betrachten. Ein Gazprom, das Vorkommen erkundet, Gas fördert, Pipelines baut und innerhalb Russlands mit Gas handelt. Das ist ein abgegrenztes Geschäft, das Gazprom gut beherrscht. Dort sind massenhaft Menschen beschäftigt, bis zu einer halben Million, die einen riesigen und sehr leistungsfähigen Industriezweig aufgebaut haben. 

Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft

Das zweite Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft. Beispielsweise im Winter 2014/2015, als die Lieferungen nach Europa eingeschränkt wurden. Damals hatte Gazprom nur die halbe Menge Gas nach Europa geliefert, weil es der russischen Regierung nicht gefiel, dass europäische Händler Gas an die Ukrainer verkauft haben. Dadurch entgingen Gazprom mehr als vier Milliarden US-Dollar. Jetzt, wo Gazprom im Winter die Lieferungen kürzt, haben wir genau das gleiche Bild. Das zweite Gazprom schadet also dem ersten.
Das dritte Gazprom ist schlicht ein Instrument, um staatliche Gelder in private Unternehmen zu transferieren. Dabei geht es um die Initiierung großer Investitionsvorhaben ohne wirtschaftliche Perspektiven: die Pipelines Sila Sibiri, Sila Sibiri 2, die Gasleitung Sachalin-Chabarowsk-Wladiwostok und ähnliche, völlig unrentable Megaprojekte. Das ist ein Gazprom des Eigennutzes. 

Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption

Ich kann ein utopisches Szenario vorbringen. Zu dessen Verwirklichung bräuchte es allerdings die Hilfe von Außerirdischen. Doch sollte es in Russland einmal eine Regierung geben, die sich um die nationalen Interessen und nicht um die eigene Geldbörse sorgt, dann könnte in diesem Land ein richtiger Gasmarkt entstehen – heute gibt es keinen. Dafür ist eine Liberalisierung notwendig, damit alle Erdgas fördernden Unternehmen die gleichen Bedingungen erhalten, und zwar ohne Monopolismus. Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption, umso mehr wenn das Ganze von Staatsbeamten geführt wird. 

Zum Abschluss, worauf sollte man im kommenden Jahr mit Blick auf den Öl- und Gassektor in Russland besondere Aufmerksamkeit richten?

Man sollte ein besonderes Augenmerk darauf richten, wie sich die politische Lage entwickelt. Denn diese drängt die wichtigsten Abnehmer von kohlenstoffbasierten Rohstoffen aus Russland verstärkt zu einem schnelleren Verzicht auf diese Lieferungen. Wenn sie sehen, dass die russische Regierung beabsichtigt, auch weiterhin militärische Spannungen an ihren Grenzen zu schüren, und offen von einer möglichen Aggression gegen andere Staaten spricht, dann ist zumindest Vorsicht geboten – oder man beendet die Geschäftsbeziehungen einfach komplett. Ich werde vor allem die Entwicklung der außenpolitischen Lage beobachten, und nicht die des Öl- und Gassektors an sich.

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Nord Stream 2

Putin könne nach Belieben jederzeit den „Gashahn zudrehen“, seine „Gaswaffe zücken“, Deutschland zu einer „Geisel Moskaus“ machen: Diese Argumente gegen eine russische Gas-Pipeline sind schon nahezu 20 Jahre alt. In der damaligen Debatte über Nord Stream (NS1) hielten die Gegner der Pipeline den Gasunternehmen die steigende Abhängigkeit Europas von Russland entgegen. Dadurch, so die Argumentation, würde der Anteil russischen Gases auf dem westeuropäischen Gasmarkt steigen, Nord Stream-Eigner Gazprom könne zum dominanten Akteur auf dem europäischen Gasmarkt werden, der Kreml könne die EU unter Druck setzen und erpressen. Die Gasunternehmen erwiderten damals, dass Russland von Gasexporten stärker abhängig sei, als die EU von den -importen, außerdem sei Gas in freien Marktwirtschaften grundsätzlich eine Ware und kein Politikum. Kurzum: Der Eingriff in die Baupläne sei Dirigismus.

Wie in dem Film mit dem Murmeltier wiederholten sich diese Argumente auch beim Bau von Nord Stream 2 (NS2): Diese Pipeline sollte nahezu parallel zu dem bereits bestehenden 1224 Kilometer langen Pipeline-Strang von Wyborg, zwischen Sankt Petersburg und der finnischen Grenze, nach Lubmin bei Greifswald verlaufen. Schon Ende 2019 sollte sie zusätzliche 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr von Russland nach Deutschland transportieren. 

Das Projekt war jedoch von Anfang an mit massiven Unwägbarkeiten behaftet, die eine Umsetzung in Frage stellten. Vor allem die im Dezember 2019 in den USA beschlossene Strafandrohung gegen die am Bau beteiligten Unternehmen1 galt für viele Experten als der endgültige Todesstoß für Nord Stream 2.2 Der Baustopp schien damit erzwungen. 

Schließlich forderten zahlreiche deutsche Politiker nach der Nowitschok-Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny im August 2020 von der Bundesregierung einen offiziellen Baustopp für Nord Stream 2. Im Juli 2021 vereinbarten die USA und Deutschland zunächst die NS2 fertigzustellen, ohne unter die US-Sanktionen zu fallen. Wegen des zu erwartenden russischen Überfalls auf die Ukraine stoppte die Bundesregierung zwei Tage vor Kriegsbeginn im Februar 2022 schließlich die Inbetriebnahme. 

Der scharfen Kontroverse um die NS2 geht eine lange Streitgeschichte voraus – die sich immer wieder auch um eine Frage dreht: Nord Stream 2 – geht es bei Gasgeschäften mit Russland um eine Ware oder um ein Politikum? 
So sorgten schon die im Juli 2017 beschlossenen US-Sanktionen3 gegen Russland für Aufregung in Deutschland: Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel sagte, dass „die Sanktionen auch dazu dienen sollen, die Russen vom europäischen Gasmarkt zu verdrängen. Die Amerikaner wollen amerikanisches Gas in Europa verkaufen, damit amerikanische Jobs sichern und würden so unliebsame Wettbewerber los“4.
Matthias Warnig, Chef des NS2-Projekts und Gazprom-Lobbyist, warnte vor den Folgen: „Sollten die Sanktionen tatsächlich so kommen, hätte das eklatante Auswirkungen auf die gesamte Öl- und Gasversorgung.“5

Wechselnde Fronten?

Die staatsnahen russischen Medien vermittelten damals den Eindruck, dass die EU mit ihrer Ablehnung der US-Sanktionen automatisch für NS2 eintritt, ganz nach dem Motto: „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Dabei sprachen Vertreter der EU-Kommission schon zuvor mehrmals von NS2 als einem Projekt, das sich gegen ihre Diversifizierungspolitik und damit gegen einen wettbewerbsfähigen und transparenten EU-Gasmarkt richte.6
Vor allem Polen und die baltischen Staaten protestierten gegen die Pipeline mit der Begründung, dass NS2 eine Bedrohung sowohl für die EU-Energiesicherheit als auch für die politische Sicherheit einzelner EU-Mitgliedstaaten darstelle. 2006 hatte der polnische Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski schon den ersten Strang ausladend mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt verglichen, und auch bei NS2 warf Polen Deutschland Energie-Egoismus vor. 
Daneben gab es auch pragmatische Bedenken: Die Wettbewerbsfähigkeit von neuen Terminals für LNG (Flüssigerdgas) in Polen und Litauen würde durch NS2 verschlechtert, so die Argumentation.7

Gasmarkt im Wandel

Hinzu kam der sich wandelnde Gasmarkt: Verursacht durch ein Überangebot an Flüssigerdgas war von 2015 bis etwa 2021 ein Rückgang der Gaspreise auf den Weltmärkten zu beobachten. Im Jahr 2018 stieg die weltweite LNG-Produktion um 22 Millionen Tonnen an, 2019 hat sich der Zuwachs mehr als verdoppelt. Laut Einschätzung von Rohstoffexperten kann LNG in den nächsten Jahren zu einem ernsthaften Konkurrenzprodukt für konventionelles Pipeline-Gas werden. Auch die – als Schiefergas gewonnenen – Überschüsse auf dem US-amerikanischen Markt könnten dazu beitragen, dass die Bedeutung von starren Pipeline-Systemen abnimmt. Viele Faktoren spielen da eine Rolle – unter anderem die politische Situation bei (potentiellen) LNG-Exporteuren wie Katar oder Iran – insgesamt werden sich die weltweiten Gasmärkte mittelfristig aber stark wandeln, so die Einschätzung.8

Milliardengrab?

Vor diesem Hintergrund drohte das rund 9,5 Milliarden US-Dollar teure Projekt NS2 bereits in der Bauphase zu einer Risikoanlage zu werden. Schon seit etwa 2015 kritisierten einige Experten die systematischen Fehlinvestitionen von Gazprom: Die starren Pipeline-Systeme seien zu teuer und könnten mittelfristig nicht mehr mit LNG konkurrieren, so die Argumentation, die einige am Beispiel der Pipeline Sila Sibiri bekräftigen: Das Großprojekt von Gazprom transportiert seit Dezember 2019 Erdgas in die Länder des pazifischen Raums. Es soll länger als 30 Jahre dauern, bis die Kosten der Pipeline wieder eingespielt sind.9 

Angesichts solcher Misserfolge spekulierte Gazprom vermutlich darauf, dass die Nord Stream AG, die zu 51 Prozent Gazprom gehört, sich mit NS2 eine marktbeherrschende Stellung in Deutschland erarbeitet – und neuen Anbietern so den Markteintritt erschwert. Unter anderem wäre dann LNG aus den USA unter bestimmten Voraussetzungen nicht konkurrenzfähig – auch weil Deutschland dafür zuerst ein teures LNG-Terminal bauen müsste.

Diese Rechnung schien aber nur zum Teil aufzugehen: Noch vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gelan es Gazprom immer seltener, Abnehmer wie E.On und EnBW durch langfristige Lieferverträge zu binden. Denn mit dem Rückgang der Gaspreise sank bei Abnehmern im Westen das Interesse an solchen Langzeitverträgen.

Handel schafft Frieden versus Energie-Egoismus

NS2-Befürworter ließen dieses Szenario eines Preisverfalls meist außer Acht und argumentierten, dass das NS2-Erdgas für die deutschen Verbraucher preiswerter wäre als LNG aus den USA.10 Damit könnten außerdem sowohl der Ausstieg aus der Kernenergie kostengünstiger abgefedert als auch die gesteckten CO2-Ziele effizienter erreicht werden. Deutschlands Stellung als Transitland und Drehscheibe für Gas würde gestärkt, die nationalen Anbieter hätten im innereuropäischen Wettbewerb bessere Karten. 

Hinzu kam das Argument „Handel schafft Frieden“: Mehr gegenseitige Abhängigkeit zwischen Russland und Europa könne in Russland einen politischen Wandel bewirken und damit die seit der Krim-Angliederung schwelenden politischen Spannungen zwischen den Handelspartnern mildern, so die Argumentation.

Die Kritiker von NS2 hielten dem entgegen, dass der Marktanteil russischen Gases auf dem deutschen Gasmarkt durch NS2 von rund 37 Prozent auf rund 60 Prozent steigen könnte.11 Gazprom hätte dann eine sehr dominante Marktstellung. 
Außerdem verwiesen die NS2-Gegner darauf, dass eine verwirklichte Pipeline die gemeinsame europäische Energiepolitik infrage stelle: NS2 untergrabe die Entwicklungspläne eines einheitlichen Energiebinnenmarkts der EU und könnte damit die gesamte europäische Energieversorgungssicherheit gefährden. 

Tatsächlich hatte NS2 kaum eine der Anforderungen der EU für den Gasbinnenmarkt erfüllt: So ist die Pipeline eigentumsrechtlich nicht entflechtet, Netz und Vertrieb sollten vielmehr aus einer Hand kommen. Um diese Hürde zu überwinden, hätte Gazprom zunächst einen Pipeline-Betreiber schaffen müssen, den auch die Bundesnetzagentur als unabhängig (von Gazprom) hätte einstufen müssen. Außerdem hätte dann auch die Europäische Kommission die Einhaltung der EU-Vorschriften überwachen müssen: unter anderem, ob Gazprom den Zugang zur Pipeline für Dritte garantiert und transparent arbeitet, insbesondere im Hinblick auf die Versorgungssicherheit. 

Erzwungener Baustopp 

Allein diese Anforderungen der EU hätten im Grunde schon das Aus für das NS2-Projekt bedeuten können. Ausschlaggebend für den zwischenzeitlich erzwungenen Baustopp von Dezember 2019 bis Juli 2021 waren jedoch die Sanktionen, die die USA im Dezember 2019 angedroht hatten: Für nahezu alle Beteiligungen an der Fertigstellung sahen diese gravierende Strafmaßnahmen vor. Damit schien das Projekt am Ende, das Risiko unter die US-Sanktionen zu fallen, war für die Beteiligungsunternehmen zu hoch.

Tatsächlich unterzeichnete Gazprom im Dezember 2019 einen neuen Transitvertrag mit der Ukraine, der bis 2024 laufen sollte.12 Manche russische Analysten, wie etwa Michail Krutichin werteten den Vertrag damals als Eingeständnis, dass Gazprom selbst immer weniger mit der Fertigstellung von NS2 rechnete. Angesichts aller Unwägbarkeiten bei NS2 konnte Gazprom nur noch eine einzige Hoffnung haben: Dass die Bundesregierung das Projekt weiter verfolgt – trotz der EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt auf der einen und der US-Sanktionen auf der anderen Seite. Noch Ende August 2020 hat sich Kanzlerin Angela Merkel für eine Fertigstellung der Gaspipeline ausgesprochen.

Über die Gründe für die strikte Haltung der Kanzlerin wurde viel spekuliert. Manche Beobachter betonten, dass der Anlandungspunkt der Gasleitung in Merkels Wahlkreis liegt, andere machten darauf aufmerksam, dass die Lobbyarbeit der beteiligten europäischen Unternehmen Uniper, Wintershall Dea, OMV, Engie und Royal Dutch Shell schon immer besonders effektiv gewesen sei. Schließlich, so eine These, die mit dem erwähnten Argument von Sigmar Gabriel verwandt ist, wollte sich Merkel die Einmischung der USA verbieten.13 Bei einem offiziellen Baustopp hätten der Bundesregierung auch immense Schadensersatzforderungen durch die am Bau beteiligten Unternehmen drohen können.

Kehrtwenden

In diesem Spannungsverhältnis quer durch die Interessen von europäischen und US-amerikanischen Unternehmen, von nationaler und gesamteuropäischer Souveränität sowie Aspekten der Versorgungssicherheit, platzte Anfang September 2020 die Nachricht, dass Merkel die Zukunft von NS2 wegen des Falls Nawalny offen lässt. Im Juli 2021 folgte jedoch die Kehrtwende: In Verhandlungen beschlossen Angela Merkel und Joe Biden, dass der Weiterbau von Nord Stream 2 nicht mehr mit US-Sanktionen geahndet würde. Deutschland sollte sich im Gegenzug für eine zehnjährige Verlängerung des 2024 auslaufenden Transitvertrages durch die Ukraine einsetzen und finanzielle Hilfe beim Ausbau erneuerbarer Energien in der Ukraine leisten. Zudem sollte Deutschland Sanktionen gegen Russland verhängen, wenn Gazprom die NS2 als politisches Druckmittel einsetzt.
Die Ukraine und Polen haben die Einigung scharf kritisiert: Sie sei vage formuliert und schaffe politische und wirtschaftliche Bedrohungen für die Ukraine und Mitteleuropa. Auch in den deutschen Medien wurde die Vereinbarung kontrovers diskutiert: Während manche begrüßten, dass man so eine Investitionsruine auf dem Grund der Ostsee abgewendet habe, kritisieren andere, der Vertrag gehe zu Lasten der Ukraine. Außerdem seien die Kapazitäten der vorhanden Pipelines aus Russland sowieso bislang nicht ausgeschöpft.

Befürworter des Projekts betonten demgegenüber, dass Erdgas in den nächsten Jahren zunehmend zu einer Übergangstechnologie werde: Auch wegen des Kohle- und Atomausstiegs wird die Nachfrage nach Erdgas in der EU steigen. Ohne die NS2 wäre das Risiko für die künftige Versorgungssicherheit zu hoch, so die Argumentation.

Im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine verstummten in Deutschland jedoch die meisten Stimmen der Befürworter des Projekts, nur noch wenige Politiker wie Sahra Wagenknecht, Alice Weidel oder Wolfgang Kubicki brachen dafür die Lanze. Die Bundesregierung stoppte am 22. Februar 2022 das Zertifizierungsverfahren für NS2, Russland lieferte anschließend deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, und Gazprom berief sich dabei auf „höhere Gewalt“ oder „Wartungsarbeiten“. Zahlreiche europäische Politiker hielten dies für Vorwände und Druckmittel, mit denen der Westen gezwungen werden sollte, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen. Für sie war also offenbar klar, dass Gas aus Russland nicht bloß eine Ware ist. Ende September 2022 schlugen offenbar drei von vier Strängen beider Pipelines schließlich Leck – die EU geht von Sabotage aus.

aktualisiert am 28.09.2022


1.govtrack.us: National Defense Authorization Act for Fiscal Year 2020, S. 1790 
2.golos-ameriki.ru: Severnyj potok-2: krach ili koma? 
3.Dieses Gesetz beinhaltete zunächst unter anderem eine weitgehend abstrakte Androhung, dass die USA Sanktionen gegen Unternehmen verhängen können. Im Juli 2020 konkretisierte die Trump-Regierung das Gesetz hinsichtlich des NS2-Projekts: Alle daran beteiligten Unternehmen sind damit von Strafmaßnahmen bedroht. congress.gov: H.R.3364 (2017-2018) – 115th Congress; state.gov: Updated Public Guidance for Section 232 of the Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) 
4.Die Welt: Gabriel kritisiert Sanktionen scharf 
5.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Gefahr für die gesamte Öl- und Gasversorgung 
6.europa.eu: Kommission ersucht Mitgliedstaaten um Verhandlungsmandat für Nord-Stream-2-Vereinbarung mit Russland 
7.Deutsche Welle: OPAL-Pipeline entzweit Polen und Deutschland 
8.iea.org: Gas 2019: Analysis and forecasts to 2024; iea.org: Gas 2020; pwc.com: Navigating the transformation of the gas market – Adapting to survive in a period of change 
9.vgl. news.ru: „Gazprom“ počti dostroil „Silu Sibiri“: Postavki gaza po magistral'nomu puti v Kitaj načnutsja v dekabre 
10.Diese Argumentation wird durch Umfrage-Ergebnisse gestützt, die Forsa im Auftrag der Wintershall ermittelt hat und die im August 2017 veröffentlicht wurden. Demnach lehnten damals 83 Prozent der Deutschen die geplante Erweiterung der amerikanischen Wirtschaftssanktionen ab. Vgl. wintershall.com: Trump-Effekt? Deutsche wollen lieber Erdgas aus Russland als Flüssiggas aus den USA 
11.Der Spiegel: Worum es im Gasstreit wirklich geht 
12.Bundeszentrale für politische Bildung: Analyse: Vorübergehende Stabilisierung: Der russisch-ukrainische Vertrag zum Gastransit 
13.ko.ru: „Severnyj potok – 2“: nakazat', ne nakazyvaja? 
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