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Debattenschau № 85: RT DE vs. Deutsche Welle – ein ungleiches Spiel?

Das deutsche Sendeverbot für das TV-Angebot von RT DE hat das russische Außenministerium zu einer „Gegenmaßnahme“ bewogen: Dem deutschen Auslandssender Deutsche Welle (DW) wurde die Lizenz entzogen, das DW-Büro in Moskau ist inzwischen geschlossen, die Journalisten dort verlieren ihre Akkreditierung – das heißt, die in Russland notwendige Erlaubnis, im Land als Journalisten zu arbeiten. Außerdem wurde ein Verfahren eingeleitet, die Deutsche Welle auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ zu setzen. Dies bedeutet neben einer Stigmatisierung als vermeintlich feindlich gesinntes Medium auch zahlreiche bürokratische Hürden.

In Deutschland wiederum, darauf verweisen nun zahlreiche Medienjournalisten oder auch NGOs wie etwa Reporter ohne Grenzen, können RT-Journalisten weiterhin im Land ihrer Arbeit nachgehen und online publizieren, RT hat die Möglichkeit vor Gericht gegen die Entscheidung vorzugehen oder eine deutsche Lizenz zu beantragen (RT DE hat nur eine serbische, die die Rundfunkkommission ZAK nicht anerkannte). Ein ungleiches Spiel?

In Russland wird die Debatte um RT DE von Anfang an hauptsächlich in Staatsmedien geführt. Staatliche und kremlnahe Stimmen verteidigen das Vorgehen Russlands als „notwendige Gegenmaßnahme“ und kritisieren, dass Deutschland mit zweierlei Maß messe, da es sich selbst beim Vorgehen gegen RT DE als intolerant gegenüber abweichenden Meinungen zeige. 

Unabhängige russische Medien dagegen ordnen die „Gegenmaßnahme“ gegen die Deutsche Welle vor allem in das generell zunehmend restriktive Vorgehen gegen unabhängige Akteure und auch Medien in Russland ein, das vor allem seit den Solidaritätsprotesten für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr 2021 stark zugenommen hat.

RT DE vs. Deutsche Welle: Ein ungleiches Spiel? dekoder bringt Auszüge aus der Debatte in russischen Medien.

 

Quelle dekoder

© Alexander Miridonow/Kommersant

Echo Moskwy/Telegram: Zensur unter der Maske „unabhängiger Aufsichtsbehörden“

Echo Moskwy bringt in seiner Rubrik Blogy („aus den Blogs“) einen Post des Telegram-Kanals Meister. Der Autor kritisiert zwar die Antwort Moskaus – spricht aber dennoch von „Zensur“ in westlichen Medien:

Deutsch
Original
Moskaus Antwort bezüglich DW ist natürlich nicht ideal, diese Entscheidung ist auch weit weg von den Prinzipien der Meinungs- und Pressefreiheit. Aber dennoch ist sie eine erzwungene Reaktion, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit fußt, das in den internationalen Beziehungen vorherrschend ist. Und sie ist in jedem Fall besser als wenn man sich bei uns als Reaktion auf die Maßnahmen gegen RT DE bloß empört und keine eigentliche Reaktion gezeigt hätte. Aber hier ist es wichtig, wer angefangen hat – diese konkrete Episode der Verschärfung hat nicht Russland begonnen.

Wird es die letzte bleiben? Das weiß der Herr allein, aber es ist zu befürchten, dass es weiter geht: Die Intoleranz gegenüber alternativen Meinungen und denen, die diese aussprechen, wird zum Teil der politischen Kultur in den Ländern, die noch bis vor Kurzem für sich beansprucht haben, die Standards in puncto Demokratie und Meinungsfreiheit zu setzen. Genauer gesagt tun sie das auch weiterhin, allerdings schwindet die Grundlage dafür immer weiter, so sehr man sich auch bemüht, die Zensur unter der Maske „unabhängiger Aufsichtsbehörden“ zu verstecken. Der Westen hat es letzten Endes immer verstanden, Brücken und Kanäle zu schaffen, zwischen zivilgesellschaftlichen und kommerziellen Organisationen und den [westlichen – dek] Staaten, wenn es die Aufgaben erforderten. Dass man jetzt erstaunt ist, wenn Moskau plötzlich die gleichen Methoden anwendet, wirkt etwas befremdlich.

Ответное решение Москвы в отношении DW сложно назвать идеальным, оно тоже далеко от принципов свободы слова и СМИ, но, все же, это вынужденное ответное решение, принятое исходя из принципа взаимности, доминирующего в международных отношениях. И оно в любом случае лучше, чем если бы у нас в ответ на меры против RT DE просто повозмущались бы, не отреагировав по сути.

Но здесь очень важно именно то, кто начал первым, и вот конкретно данный виток обострения начала не Россия.

Станет ли он последним? Бог знает, но есть большие опасения, что нет: нетерпимость к альтернативному мнению и тем, кто это мнение высказывает, становится частью политической культуры стран, еще недавно претендовавших на то, чтобы задавать стандарты в области демократии и свободы слова. Точнее говоря, претендуют они и сейчас, но вот оснований для этого все меньше, как ни прячь цензуру под маску деятельности «независимых надзорных структур». В конечном счете, оперативно перебрасывать мостики и связи от общественных и коммерческих организаций к государствам, когда это требуется для обоснования тех или иных решений, Запад тоже умел всегда, и удивление от того, что Москва начала использовать те же методы выглядит несколько странно.

erschienen am 05.02.2022, Original

Novaya Gazeta: „Agentengesetz – ein universeller Knüppel“

Die Novaya Gazeta zitiert die Medienjuristin Galina Arapowa, die als sogenannte „ausländische Agentin“ gelistet ist und für die russische NGO Zentrum für Medienrechte arbeitet, das ebenfalls als „ausländischer Agent“ gilt. Ihr gibt vor allem zu denken, dass das russische Außenministerium ein Verfahren eingeleitet hat, die DW ebenfalls auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ zu setzen.

Deutsch
Original

[Die Sanktionen gegen DW] wären nicht es der erste Fall, in dem ein ausländisches Medium zum „ausländischen Agenten“ erklärt wird. Das geschah bereits mit Meduza, The Insider und Radio Svoboda, die de-jure alle in anderen Ländern [und nicht in Russland – dek] registriert sind. Überhaupt ist das Gesetz so formuliert, dass prinzipiell jede im Ausland registrierte juristische Person mit ausländischem Geld zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Deshalb ist das so ein universeller Knüppel. Theoretisch könnte man ihn sogar gegen die Sorbonne anwenden, denn es handelt sich ebenfalls um eine ausländische juristische Person (da ist ja nicht Rede von ausländischen Medien), die über ausländisches Geld verfügt und öffentlich Informationen verbreitet. 

Wichtig ist etwas anderes: Es wird im Klartext gesagt, dass die mögliche Aufnahme der Deutschen Welle ins Register der „ausländischen Agenten“ eine Gegenmaßnahme dafür ist, dass RT in Deutschland angegangen wurde. Es wird gar nicht versucht, eine politische Anwendung des Gesetzes zu verschleiern. Das Gesetz ist demnach nicht für alle gleich: Seine Anwendung folgt nicht juristischen, sondern politischen Zielen.

Нельзя сказать, что это <санкции против DW> может стать первым случаем, когда иностранное СМИ признают «иностранным агентом». То же происходило с «Медузой»*, The Insider*, «Радио Свобода»**. Де-юре они все зарегистрированы в других государствах. Вообще закон сформулирован таким образом, что он дает возможность признать иностранным агентом любое зарегистрированное в другом государстве юридическое лицо, которое имеет иностранные деньги. Получается, что это такая очень универсальная дубинка. Теоретически ее можно использовать даже против университета Сорбонны, потому что это тоже иностранное юридическое лицо (там же не говорится — иностранное СМИ), у которого есть иностранные деньги и которое распространяет публичную информацию.

Важно другое: прямым текстом говорится, что возможное включение Deutsche Welle в реестр иноагентов — это ответное действие за то, что RT обидели в Германии. Нет даже попыток прикрыть политическое применение нормы закона. Получается, что закон не один для всех: его применяют не в законных, а в политических целях.

erschienen am 04.02.2022, Original

Novaya Gazeta: Gegenmaßnahmen auf allen Kanälen

In der Novaya Gazeta beschreibt Kirill Martynow den „Start einer großen Kampagne zur Verdrängung von Youtube vom russischen Markt“ – für die auch der Wirbel um RT DE herangezogen werde.

Deutsch
Original
Im Kampf gegen Youtube als wichtigste unabhängige Medienplattform in Russland bereitet die Medienaufsicht Roskomnadsor ein neues Paket mit „wirtschaftlichen Maßnahmen“ vor, das ein Verbot der Monetarisierung von Videos für Blogger beinhaltet. Formal begründet werden diese Maßnahmen mit den „feindlichen Tätigkeiten“ der amerikanischen Social-Media-Plattform in Bezug auf den deutschsprachigen Kanal von RT.

Параллельно для борьбы с YouTube как главной независимой медиаплощадкой в стране Роскомнадзор готовит новый пакет «экономических мер», включающих запрет на монетизацию роликов для блогеров. Формально причиной для этих мер являются «недружественные действия» американской соцсети в отношении немецкоязычного канала RT.

erschienen am 05.02.2022, Original

Facebook/Lew Rubinstein: Epochale Berichte

Das Vorgehen gegen die DW ähnelt dem Druck und den Maßnahmen, denen zahlreiche unabhängige Medien in Russland spätestens seit dem vergangenen Jahr verstärkt ausgesetzt sind. Denn in Russlands Medienlandschaft gibt es mehrere durchaus kritische Stimmen. Lew Rubinstein erinnert in einem Facebook-Solidaritäts-Post an die Sonderstellung, die die Deutsche Welle zu Zeiten der Sowjetunion noch hatte:

Deutsch
Original

Nachdem ich an einem regnerischen Tag im September 1974 mit einigen Freunden die Beljajewski-Brache verließ, wo wir gerade die Niederwalzung der Bulldozer-Ausstellung miterlebt hatten, haben wir unterwegs zu einem Freund noch Wein und etwas zu essen gekauft. Wir waren natürlich aufgeregt und gespannt und wollten unsere eigenen unmittelbaren Eindrücke mit den Berichten der ausländischen Journalisten über das Ereignis vergleichen, das sich später als epochal erweisen sollte. 

Wir schalteten das Radio ein haben sofort etwas gefunden: Ein Radiosender informierte über das Ereignis – dieser Sender war die Deutsche Welle.

Когда в один из дождливых дней сентября 1974 года, я и несколько моих друзей ушли с Беляевского пустыря, где только что на наших глазах случился форменный погром Бульдозерной выставки, мы, купив по дороге вина и какой-то еды, заехали к нашему общему другу. Мы, разумеется, были возбуждены и взволнованы, и мы очень хотели сопоставить собственные непосредственные впечатления со свидетельствами тех иностранных журналистов, которые в изрядном количестве тоже присутствовали при этом событии , оказавшемся впоследствии эпохальным. 

Мы включили радио и стали искать. И сразу же нашли. Одна из радиостанций во всех подробностях рассказывала об этом событии. Этой радиостанцией была «Немецкая волна»

erschienen am 04.02.2022, Original

Echo Moskwy: „Wie ein rachedurstiger Halbstarker“

Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, hält in der -Sendung Budem nabljudat die Entscheidung der deutschen Rundfunkkommission ZAK für ähnlich problematisch wie schon den Twitterban Trumps (den in Russland viele liberale Stimmen kritisierten) – und die „Gegenmaßnahme“ des russischen Außenministeriums gleichwohl für die Reaktion eines „rachedurstigen Halbstarken“.

Deutsch
Original

Wenediktow: Die Reaktion war zu erwarten. Noch einmal: Meine Position dazu habe ich schon oft in Diskussionen mit Maria Sacharowa, Margarita Simonjan und Kollegen aus dem Ausland dargelegt. All diese außergerichtlichen Verfahren, alle Verbote von Medien durch außergerichtliche Verfahren sind schlechte Beispiele, und es spielt keine Rolle, wer es tut. Der deutsche Staat, der russische … Der russische ist mir wichtig, weil ich in ihm lebe. Es ist mein Staat, mein Land. Deshalb ist es für mich schmerzhaft. Wenn aber Deutschland oder die Ukraine oder die USA so etwas tun – wie etwa Twitter mit Trump – habe ich dieselbe Position: Sie haben die Gesetze gebrochen – bring sie vor Gericht. Diese Lizenzgeschichte, natürlich ist es hinterhältig. Ich meine RT, denn RT hat wirklich, ohne eine deutsche Lizenz zu bekommen [RT hatte nie eine deutsche Lizenz beantragt – dek], eine serbische bekommen. Es gibt ein Abkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen, das vom Deutschen Bundestag und Serbien ratifiziert wurde. Aber dies ist eine juristische Geschichte. Wenn Sie der Meinung sind, dass der Sender illegal sendet, gehen Sie vor Gericht. Dasselbe gilt für die Deutsche Welle: Wenn Sie denken, dass die illegal sendet … Die hat aber eine russische Lizenz, hatte ... Ist das Rache? Wie sieht denn der russische Staat aus, wenn er sich als rachedurstiger Halbstarker gibt?

Buntman: Nun, so sieht er aus.

Wenediktow: […] Das sieht nach kleinlicher Rache aus. Abgesehen davon gehe ich davon aus, dass, wenn es eine Beschwerde über die Ausstrahlung von RT in Deutschland gibt, man sich an die deutschen Gerichte wendet. An europäische Gerichte.

А. Венедиктов ― В ответ был ожидаемый. Я даже, извините, как-то все было предугадано. Еще раз. Моя позиция в этом, я уже неоднократно говорил и в спорах и с Марией Захаровой, и Маргаритой Симоньян, с коллегами из-за рубежа. Все, что внесудебная процедура, все запреты на медиа по внесудебным процедурам – это плохо. Это плохой пример и неважно, кто это делает. Германское государство. Российское государство важно, потому что я в нем живу. Это мое государство, моя страна. Поэтому мне болезненно, что здесь. Но когда это делает Германия или Украина или Штаты, твиттер с Трампом, пожалуйста, все видят, у меня одна и та же позиция: нарушили законы – по суду. Это история с лицензией, она конечно лукавая. Я имею в виду с RT, потому что RT действительно, не получив лицензию немецкую, получило сербскую. Существует конвенция по трансграничному вещанию, которая ратифицирована германским Бундестагом и Сербией. Но это судебная история. Если вы считаете, что они вещают незаконно – в суд. И то же самое: если вы считаете, что «Deutsche Welle» вещает незаконно, но у нее есть лицензия российская, была. Это называется месть? Как выглядит российское государство мстительным шпаненком?

С. Бунтман ― Ну так и выглядит.

А. Венедиктов ― [...] Выглядит мелкой местью. Притом, понимаю, что если есть претензии по вещанию RT в Германии — в германские суды. В европейские суды.

erschienen am 05.02.2022, Original

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Sergej Lawrow

Sergej Lawrow ist ein Profi, wie es keinen zweiten gibt auf der internationalen Bühne: Im März 2024 sind es 20 Jahre, die er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt vertritt. In dieser Zeit hat er sieben US-Außenministerinnen und Außenminister kommen und gehen sehen. Trotzdem sind die Momente rar, in denen sichtbar wurde, wofür Lawrow selbst eigentlich steht. Seine Rolle ist die eines äußerst erfahrenen, eloquenten und blitzgescheiten Beamten, der seine Talente ganz in den Dienst seines Präsidenten stellt und dessen Willen mit aller Härte durchsetzt – aber auch mit Tricks und Lügen.

Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

Das einzige Mal, als Sergej Lawrow Wladimir Putin öffentlich widersprochen hat, liegt inzwischen zwölf Jahre zurück: 2012 setzt der US-Kongress die Namen russischer Politiker und Beamter, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, auf eine Sanktionsliste. Als Antwort auf dieses sogenannte Magnitski-Gesetz will der Kreml die Adoption russischer Waisenkinder durch US-Bürger verbieten. Das trifft vor allem schwer kranke und behinderte Kinder, für die in Russland keine Adoptiveltern gefunden werden und für die es in russischen Kliniken keine angemessene medizinische Versorgung gibt.

Lawrows Ministerium hat mit den Amerikanern in jahrelangen Verhandlungen Regeln für Adoptionen solcher Kinder ausgearbeitet. Als er auf einer Pressekonferenz im Dezember nach dem geplanten Adoptionsverbot gefragt wird, sagt er knapp: „Das ist falsch.“ Zehn Tage später unterschreibt Putin das Gesetz. Russische Medien berichten, der Präsident habe ein „hartes Gespräch“ mit seinem Außenminister geführt. Lawrow widerruft öffentlich und behauptet, er sei nie gegen das Adoptionsverbot gewesen.

Die Magnitski-Liste und das darauf folgende Dima-Jakowlew-Gesetz markieren den endgültigen Schlusspunkt hinter dem Neustart-Versuch, den die Obama-Regierung vier Jahre zuvor mit Moskau unternommen hatte. Am 6. März 2009 hatten Lawrow und die US-Außenministerin Hillary Clinton in Genf einen symbolischen „Reset“-Knopf gedrückt, auf den die Amerikaner irrtümlich das Wort „перегрузка“ (peregruska, dt. Überlastung) geschrieben hatten anstelle von „перезагрузка“ (peresagruska) für Neustart. Nach dem Georgien-Krieg sollte noch einmal ein Versuch unternommen werden, das Verhältnis mit Russland zu retten. Der neue Präsident Dimitri Medwedew, so hoffte man in Washington, könnte dafür eine Gelegenheit bieten. Dieses Kapitel war mit der Rückkehr Putins in den Kreml abgeschlossen. Und genauso loyal wie Lawrow unter dem Interims-Präsidenten Medwedew mit den Amerikanern neue Abkommen verhandelt hatte, wickelte er nun die Annäherung wieder ab und schaltete um auf Konfrontation. 

Der öffentliche Widerspruch an die Adresse seines Chefs blieb ein einmaliges Ereignis. Seitdem folgt Sergej Lawrow der außenpolitischen Linie, die in der Präsidialverwaltung vorgegeben wird, bis zur Selbstverleugnung. Als er 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor der versammelten außenpolitischen Elite der Welt die „Angliederung“ der Krim mit der deutschen Wiedervereinigung verglich und behauptete, sie sei konform mit der UN-Charta verlaufen, muss ihm klar gewesen sein, wie absurd diese Behauptung war. Tatsächlich vergaßen die anwesenden Diplomaten für einen Moment ihre Höflichkeit und brachen in spontanes Gelächter aus. Das muss schmerzhaft gewesen sein für einen, der über mehr Erfahrung im außenpolitischen Geschäft verfügt als irgendjemand sonst im Saal, und der Gesprächspartner auch gern seine Überlegenheit spüren lässt.

Selfmade Tschinownik

Möglicherweise kommt Sergej Lawrows großes Selbstbewusstsein auch daher, dass er weiß, dass er seine Karriere niemand anderem als sich selbst zu verdanken hat. Die Familie, in der er 1950 geboren wurde, gehörte nicht zur Sowjet-Nomenklatura. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Als Abiturient schuftete er auf der Baustelle für den Moskauer Fernsehturm in Ostankino – wer keine Beziehungen hatte, konnte mit solchen Arbeitseinsätzen seine Chancen auf einen Studienplatz verbessern.

Eigentlich habe er vorgehabt, Physik zu studieren, erzählte Lawrow vor einigen Jahren. Aber weil die Aufnahmeprüfungen für das Institut für Internationale Beziehungen schon früher stattfanden, habe er sich auf den Rat seiner Mutter hin dort beworben. Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) war die Kaderschmiede der sowjetischen Diplomatie und ist heute die Kaderschmiede der russischen Diplomatie. Sie hat ein eigenes kleines Museum, das inzwischen auch ein bisschen ein Lawrow-Museum ist: Hier hängt die Fahne seiner studentischen Wandergruppe und die Hymne der MGIMO, die Lawrow geschrieben hat und die heute von den Studierenden gesungen wird. Im eigenen Haus ist Lawrow mehr als ein Chef, er ist auch ein Vorbild. 

Am MGIMO lernt er neben Englisch und Französisch auch Singhalesisch. Nach seinem Abschluss wird der junge Nachwuchsdiplomat 1972 auf seine erste Station an die sowjetische Botschaft in Sri Lanka geschickt. Vier Jahre später kehrt er zurück nach Moskau ins Außenministerium. 1981 wird er Erster Sekretär der sowjetischen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Als er in New York ankommt, haben sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen gerade wieder verschlechtert: Nachdem Breshnew zunächst zaghafte Entspannungspolitik betrieben hatte, hat sich der Kalte Krieg mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 wieder verschärft. Auf ihrer sechsten Dringlichkeitssitzung forderte die  Generalversammlung mit 104 zu 18 Stimmen den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Lawrow vertritt stoisch die Linie der sowjetischen Propaganda: Die Soldaten leisteten „friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe“. 1982 stirbt Breshnew, zwei Nachfolger kommen und gehen, erst ab 1985 erfahren die Menschen in der Sowjetunion im Zuge von Glasnost vom tatsächlichen Krieg und den zahlreichen Toten. 

Perestroika

Lawrow bleibt bis 1988 bei der UNO. Derweil läuft zuhause die Perestroika auf Hochtouren. Zurück in Moskau wird er im Außenministerium stellvertretender Verantwortlicher für Wirtschaftsbeziehungen, später Referatsleiter für internationale Organisationen, stellvertretender Außenminister, und ab 1994 zehn Jahre lang UN-Botschafter. Bemerkenswert ist: In den Jahren des großen Umbruchs sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow beide im Auslandseinsatz. Doch während der KGB-Offizier Putin im „Tal der Ahnungslosen“ des sozialistischen Bruderlandes DDR lebt und versucht, Gaststudenten für den KGB anzuwerben, lernt der Diplomat Lawrow in New York den American Way of Life kennen und Whiskey und Zigarren schätzen. Heute spricht noch immer der Gopnik aus Putin. Derweil ist sein Außenminister als Mann von Welt ein Unikat in der russischen Elite.

Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg stehen die Zeichen zu Beginn der 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wird, dann vor allem von den USA. Wenn bei einer Meinungsumfrage nach einem Land gefragt wird, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte, auch dann nennen die Befragten in Russland zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sehen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 

Wie die meisten Politiker durchlebt auch Lawrow eine eigene Perestroika und wird zu einem Freund Amerikas. Sozialisiert unter dem Außenminister des Kalten Krieges Andrej Gromyko – dem berüchtigten „Mister Njet“ – muss Lawrow von nun an die Vorgaben des neuen Außenministers Kosyrew erfüllen. Dieser gilt als „Mister Ja“, Kritiker werfen ihm den Ausverkauf russischer Interessen vor, Michail Gorbatschow klagte gar, das russische Außenministerium sei unter Kosyrew eine Filiale des US-amerikanischen gewesen.2 

Neustart 

Der erste Stimmungswandel kommt in den Jahren 1998 und 1999. Damals fallen viele Ereignisse zusammen: die NATO-Intervention im Kosovokrieg, der Zweite Tschetschenienkrieg und die erste NATO-Osterweiterung vom 12. März 1999. Die Wogen hatten sich gerade geglättet, da beginnen die USA 2003 den Krieg im Irak: Lawrow stimmt im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen und weiß dabei China, Frankreich und Deutschland an seiner Seite. Nach der großen internationalen Solidarität in der Folge des Terrors vom 11. September 2001 nimmt in vielen Ländern die kritische Einstellung zu den USA wieder zu. 

Am 9. März 2004 ernennt Wladimir Putin Sergej Lawrow zum Außenminister. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen inszeniert sich der hochgewachsene Lawrow als ein weltgewandter Gentleman. Längst hat er einen Ruf als blitzgescheiter Verhandler, bei dem sich Sachkenntnis und ein kluger Humor paaren. Diplomaten aus aller Welt haben ihn bereits als UN-Botschafter respektiert.3 Putin pflegt eine Männerfreundschaft mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, Lawrow – mit seinem Counterpart Frank-Walter Steinmeier. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama im Juli 2009, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirken zunächst eine neuerliche Annäherung. Doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo.

Antiwestliche Wende

Die Frage, wann der Kreml die antiwestliche Wende vollzogen hat, ist strittig: Viele sehen in Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 den Startschuss. Die anderen argumentieren, dass der ab 2009 vollzogene Reset die Wogen tatsächlich zunächst geglättet habe, und die antiwestliche Kontinuität erst mit der Reaktion des Kreml auf die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 ihren Lauf nahm. Der Kreml brandmarkte die Protestwelle damals schnell als ein Ergebnis des amerikanischen Einflusses. Dann folgten die Magnitski-Liste und das Dima-Jakowlew-Gesetz. 

Seit er in der Frage der Adoption russischer Waisenkinder vor Putin eingeknickt ist, verwandelt sich Lawrows Rolle mehr und mehr von der eines geschickten Verhandlers und respektieren Diplomaten zu einem Werkzeug seines Präsidenten, der die Außenpolitik dazu nutzt, von innenpolitischen Problemen abzulenken und neue Feindbilder zu schaffen, um darüber seine Herrschaft zu legitimieren. Als hybrider Krieger dreht Lawrow gemeinsam mit Putin die Eskalationsspirale. Seit der Krim-Annexion und den ersten Sanktionen, die als Antwort darauf verhängt wurden, dreht sie sich noch schneller. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew verglich in diesem Zusammenhang die russische Außenpolitik mit dem Verhalten eines Gopnik und schrieb: „Die hauptsächliche Exportware Russlands ist nicht Öl oder Gas, sondern Angst.“ 

Drohung und Beleidigung als neue Mittel der Diplomatie 

Wenn Diplomaten für die Kunst der Verhandlung und des Dialogs stehen, dann sind Gopniki ihr Gegenteil: Sie sind Meister der Drohung, der gewaltsamen Sprache und des Monologs. Tatsächlich wurde der Ton der russischen Außenpolitik im Zuge der Bolotnaja-Proteste derber, und spätestens seit der Krim-Annexion gehören Gossenjargon und Beleidigungen zum festen Repertoire russischer Diplomaten. Die Propaganda-Organe preisen ihre verbalen Ausfälligkeiten als „Bestrafungen“, Kritiker werten den ostentativen Hang zu stilistisch derberen Registern als Dialogverweigerung und kalkulierten Bruch mit der Welt. In Russland kommt dieses Auftreten derweil gut an: „Die haben (wieder) Angst vor uns“ wird zu einer gängigen Propagandaformel, „Lawrow hat … ausgelacht“ zu einem beliebten Motiv der Propagandamedien.4 

Gentleman und Gopnik – Lawrow beherrscht beide Rollen

Lawrow hat in seiner Karriere zahlreiche Kehrtwenden mitgemacht Er begann unter Gromyko als ein scharfer Gegner des US-Imperialismus, vollzog während der Perestroika eine Kehrtwende und wurde 2014 zu einem Wiedergänger Gromykos, wobei er mit den häufigen Vergleichen durchaus kokettiert.5 Lawrow beherrscht den Spagat zwischen Gentleman und Gopnik, Sachargument und Whataboutism. Er kann beides sein: Intellektueller und Apparatschik, Stimme der Vernunft und Scharfmacher. Letzteren gibt er etwa im Fall Lisa, als er 2016 deutschen Behörden vorwirft, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen. Sein einstiger Duz-Freund Frank-Walter Steinmeier wirft ihm daraufhin Propaganda vor.

Außenminister Lawrow (links) und der russische Präsident Wladimir Putin während des Afrika-Gipfels in Sankt Petersburg im Juni 2023 / Foto © Yevgeny Biyatov/POOL/IMAGO/ITAR-TASS

Lügen gehören inzwischen ebenso zu Lawrows Handwerkszeug wie die Litanei internationaler Spielregeln, Verträge und Präzedenzfälle, die er bei Bedarf im Schlaf aufsagen könnte. Seit der Krim-Annexion hat der Außenminister eine lange Liste von Lügengeschichten erzählt: Von der Behauptung, russische Soldaten kämpften nicht in der Ostukraine über die Fakes, die russische Auslandsvertretungen verbreiten6 bis hin zu den Vorwürfen, Washington betreibe Labore für Biowaffen in der Ukraine und arbeite an der „Endlösung der Russenfrage“7. Doppeldenk, Täter-Opfer-Umkehr, krude Verschwörungsmythen und primitiver Antiamerikanismus – das alles ist einem Ziel untergeordnet: Bewirtschaftung des Feindbildes zur Herstellung eines Ausnahmezustands und Rally ‘round the Flag Effekts. Die Argumentation ist schlicht und lässt sich auf fünf Punkte8 herunterbrechen:

1. Die USA haben die NATO bis vor Russlands Grenzen ausgedehnt. Sie betreiben Revolutionsexport und führen Europa an der Leine. Im Ergebnis sind wir von Feinden (Nazis) umzingelt und müssen uns verteidigen (wie im Großen Vaterländischen Krieg).
2. Sie („Pindossy“, „Gayropa“) sind moralisch verfault, wir stehen für die wirklichen Werte (Duchownost, Skrepy).
3. Sie sind Heuchler und haben Doppelstandards (Kosovo, NATO-Osterweiterung, Irak), wir stehen für Gerechtigkeit („in der Wahrheit liegt die Kraft“, „Gott ist mit uns“, „Krim nasch“).
4. Sie sind an allem Schuld, weil sie schon immer andere unterworfen und ausgebeutet haben (Kolonialismus, Imperialismus, Irak) – wir kämpfen immer für die Entrechteten und sind deshalb ihr nächstes Ziel.
5. Wir haben die Atombombe. 

Wofür Lawrow selbst steht, das lässt sich hinter dieser Rhetorik immer schwerer erahnen. Gewiss ist nur, dass Lawrows persönliches Interesse in einem Punkt deckungsgleich ist mit dem Interesse seines Landes: Lawrow erwartet Respekt. Früher wurde er ihm für seine Gescheitheit und seine Erfahrung entgegengebracht. Die Lacher auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 haben gezeigt, dass der Respekt verloren geht, je weiter Russland die Wahrheit verdreht. Im März 2023 wiederholte sich die Situation, als Lawrow auf einer Konferenz in Indien behauptete, Russland sei in der Ukraine der Angegriffene. Immer öfter greift Lawrow daher zur Drohung, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende dieser Entwicklung bleibt die Angst, die Russland mit seinen Atomkriegs-Szenarien auszulösen in der Lage ist, als letzter außenpolitischer Erfolg, den die Regierung noch erzielen kann.

Überarbeitet am 8. März 2024


1.cyberleninka.ru: Igra s pogrusheniem v kosmos 
2.zit. nach: forbes.ru: Andrej Kozyrev: nastojaščij kamikadze 
3.The Standard: His women, war lies and life as a world stage pariah – who is Sergey Lavrov? 
4.yandex.com: search "lavrov vysmejal" 
5. gazeta.ru: Lavrovu lestno sravnenie s glavoi MID SSSR Gromyko 
6.apnews.com: For Russian diplomats, disinformation is part of the job 
7.kommersant.ru: Mnogopoljarnoe rasstroistvo 
8.dorsch.hogrefe.com: Feindbilder 
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