In der unabhängigen Ukraine wird jedes Jahr Ende November jenen Millionen Menschen gedacht, die in den sowjetischen 1930er Jahren durch die von Moskau provozierte Hungersnot, den Holodomor, starben. Seit drei Jahren werden diese schmerzhaften historischen Erinnerungswunden wieder aufgerissen durch die Berichte vom Hungern ukrainischer Zivilisten und Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft. Das von Moskau befohlene Aushungern von Ukrainern erscheint als eine systematische Konstante – damals und heute.
Mariupol im Frühjahr 2022: Wjatscheslaw Sawalny arbeitete als Mechaniker in der südostukrainischen Großstadt. Nachdem die russische Armee am 24. Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel und besonders brutal die russische Besetzung der Stahl- und Hafenstadt Mariupol vorantrieb, versuchte Sawalny, seine Familie – seinen Sohn und seine Frau – in Sicherheit zu bringen. Doch an einem russischen Checkpoint im etwa 120 Kilometer nordwestlich gelegenen Polohy – in der Nachbaroblast Saporishshja, die ebenfalls teilweise in wenigen Tagen von russischen Truppen besetzt wird – nahmen ihn russische Uniformierte fest. Es folgten zehn lange Monate in Kriegsgefangenschaft an verschiedenen Orten – zusammen mit anderen Ukrainern: Zivilisten wie Soldaten.
2023 kommt Wjatscheslaw Sawalny durch einen Gefangenenaustausch frei. 2024 berichtet er ukrainischen Journalisten sowie einer Ukraine-Veranstaltung in Deutschland von seinen Erfahrungen in russischer Gefangenschaft.
Das Recherchemedium texty.org.ua hat Sawalnys Bericht dokumentiert und die Rolle des Hungers von Experten einordnen lassen.
Ukrainische Gefangene berichten nach ihrer Freilassung aus russischer Kriegsgefangenschaft immer wieder, dass der Hunger eine der schlimmsten Qualen in den russischen Folterkammern war. So auch der Mechaniker Wjatscheslaw Sawalny aus Mariupol, wenn er über seine Folter-Erfahrungen spricht und die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden dabei unterstützt, die konkreten Kriegsverbrecher zu identifizieren, die Ukrainer wie ihn in Gefangenschaft foltern und töten.
„Wir verloren alle sehr viel Gewicht. Sie folterten uns durch Hunger. Als sie dann etwas Brot ausgaben, ertappte ich mich dabei, wie ich es anstarrte und mir lange vorstellte, es zu essen“, berichtet Wjatscheslaw Sawalny. Vor Hunger habe er kaum schlafen können. „Alle Gespräche in unserer Zelle drehten sich nur ums Essen: Alle waren abgemagert und erschöpft. Die Leute in der Zelle stritten sich und kämpften um Lebensmittel.“
Wie so viele Ukrainer, die durch Russlands Krieges gegen die Ukraine in Gefängnissen der russischen Besatzer landen, hat auch Sawalny keinerlei Gründe für seine Inhaftierung erfahren. Stattdessen habe man ihn gefoltert und gleichzeitig gezwungen, leere Papiere zu unterschreiben.
„Sie brachten mich zum Verhör und sagten, dass sie nichts gegen mich in der Hand hätten. Sie überprüften die Social-Media Accounts meiner Tochter, aber fanden auch dort nichts“, erinnert er sich. Also zwang man ihn zweimal, im Abstand von mehreren Monaten, die Geschichte seiner Verhaftung zu erzählen und sich dabei filmen zu lassen. Um die Aussagen vergleichen und Widersprüche finden zu können, vermutet Sawalny.
2000 Kniebeugen im Informationsvakuum
Doch Rechtsfreiheit und Hunger waren längst nicht die einzigen Erniedrigungsformen: „Die Wärter erlaubten uns nicht zu sitzen. Wir mussten 18 Stunden lang stehen. Die Zelle wurde videoüberwacht. Wenn jemand versuchte, sich hinzusetzen, schlugen sie zu oder zwangen ihn, Kniebeugen zu machen: Kopf nach unten, Hände hinter den Rücken. Einmal mussten wir das zweitausendmal machen. Später haben wir tote Winkel gefunden, die für die Kamera nicht einsehbar waren und uns abwechselnd ausgeruht.“
Weiter erinnert er sich an Schikanen beim Hofgang: „Wir mussten gebückt laufen, mit dem Kopf nach unten und den Händen hinter dem Rücken verschränkt, die Beine halb gebeugt. Während wir ‘spazierten’, schlug man uns mit Sand gefüllten Plastikrohren, die blaue Flecken auf unseren Körpern hinterließen. Wir schrien vor Schmerz.“
Die Gefangenen lebten in einem völligen Informationsvakuum, wurden ständig gefoltert und teils täglich verhört. Bitten um medizinische Hilfe wurden ignoriert und Nahrungsrationen gestrichen.
Foltern bis zum Töten
„Ich war in der Hölle. Allein während meiner Gefangenschaft wurden mindestens vier Ukrainer in den Folterkammern von Donskoi in der Region Tula hingerichtet. Als ich in Kursk war, starben zwei weitere. Und das sind nur die Hinrichtungen, von denen ich weiß“, sagt Sawalny, während er sich Fotos von Mitarbeitern der russischen Gefängnisse ansieht und nach bekannten Gesichtern sucht.
Ich war in der Hölle
Die Russen täten alles dafür, so Sawalny, dass die Gefangenen, falls sie je in die Ukraine zurückkehren sollten, möglichst stark traumatisiert seien und zu einer Belastung für die Gesellschaft würden: „Sie weckten uns auch nachts auf, indem sie plötzlich das helle Licht anschalteten, um unseren Schlaf zu stören, damit wir uns nicht erholen und ausruhen konnten.“
Ermittler brauchen Betroffene
In der Ukraine arbeiten die Strafverfolgungsbehörden aktiv daran, die Leiter russischer Gefängnisse und konkrete Kriegsverbrecher zu identifizieren und Verfahren vorzubereiten. Julija Polechina, Anwältin der Menschenrechtsorganisation Sitsch, dokumentiert bereits seit 2015 Aussagen ukrainischer Soldaten und Zivilisten, die in russischer Gefangenschaft waren. Sie sagt, dass alle Befragten, wie Wjatscheslaw Sawalny, von Folter durch Hunger berichteten. Dies wird auch durch Ärzte bestätigt, die schwere und langwierige Folgen durch anhaltenden Hunger konstatieren. Die Anwältin fordert alle Betroffenen solcher Verbrechen auf, nicht zu schweigen:
„Wer freigelassen werden konnte, sollte über die Verbrechen an Ukrainern in den Haftanstalten in den besetzten Gebieten und in Russland aussagen. Dank dieser Informationen können die Ermittler der Nationalen Polizei Strafermittlungen durchführen und die Fälle vor Gericht bringen.“
Glaube ans Überleben
Für Wjatscheslaw Sawalnys Freilassung hat sich besonders seine Tochter Karyna Djatschuk eingesetzt. Sie wurde Aktivistin und organisierte eine starke Bewegung zur Unterstützung von Zivilisten in russischer Gefangenschaft, gründete mit anderen Angehörigen von illegal gefangengehaltenen Ukrainern die Nichtregierungsorganisation Civilians in Captivity. Karyna Djatschuk kontaktierte alle möglichen Stellen, schrieb Briefe und Appelle an ukrainische Behörden und versuchte, russische Anwälte zu finden, die möglicherweise dabei helfen könnten, den Aufenthaltsort ihres Vaters zu ermitteln. Doch am wichtigsten war: Sie glaubte an seine Rückkehr.
Am 8. Januar 2023 kam es zu einem Gefangenenaustausch, bei dem 50 Ukrainer [gegen ebenso viele russische Kriegsgefangene – dek] freikamen, darunter auch Wjatscheslaw Sawalny. Zum Zeitpunkt seiner Freilassung wog er nur noch 55 Kilogramm. Später wurde er zweimal operiert, brauchte lange, um sich zu erholen und konnte trotz ausgewogener und ausreichender Ernährung kaum wieder zunehmen.
Seit 2014 Folter durch Hunger
Iryna Badanowa war von November 2015 bis Juni 2024 Expertin im ukrainischen Koordinierungsstab für die Suche und Freilassung von Kriegsgefangenen in einer Unterabteilung des Generalstabs und des Verteidigungsministeriums tätig. Sie sagt, sie habe zum ersten Mal 2014 nach der Freilassung von Soldaten der 30. Mechanisierten Brigade von der Folter durch Hunger und Durst erfahren:
„Die Jungs erzählten mir, dass sie zusammen mit 37 Gefangenen in einem Loch gehalten wurden und nur eine Drei-Liter-Flasche Wasser und einen Laib Brot pro Tag bekamen. Da es ein heißer August war, litten sie noch mehr unter Wassermangel als unter Hunger.“
Schon damals wurden ukrainische Gefangene nicht nur von lokalen Separatistenkämpfern, sondern auch durch den russischen Föderalen Geheimdienst FSB verhört. Das heißt, das russische Foltern ukrainischer Gefangener durch Hunger wird seit über einem Jahrzehnt angewendet.
Wer aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf
„Jeder, der aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf: blasse Haut, erheblicher Gewichtsverlust (manchmal mehr als ein Viertel des Gewichts vor der Gefangenschaft), Haar- und Zahnausfall, schwere Entzündungen des Magens, der Speiseröhre, der Leber und der Bauchspeicheldrüse, die eine langfristige Behandlung erfordern“, sagt Badanowa. Diese Folter durch Hunger und Durst beeinträchtige die ehemaligen Gefangenen auch psychisch noch lange über die Gefangenschaft hinaus:
„Nach ihrer Freilassung können einige ihren Hunger kaum mehr stillen, selbst wenn sie eigentlich genügend Eiweiß, Fett und Vitamine zu sich nehmen. Andere können bestimmte Lebensmittel nicht mehr ansehen, ohne dass ihnen übel und schwindlig wird. Geschweige denn essen.“
Diese Störungen können als die traumatischsten bewertet werden, denn neben einer langfristigen gastrologische Behandlung ist hier auch eine sorgfältige psychologische oder psychiatrische Behandlung erforderlich.
Russlands Aushungern gestern und heute
2024 nahm Wjatscheslaw Sawalny an einer Veranstaltung zum Holodomor-Gedenktag in Burg bei Magdeburg teil. Der Verein Ukrainer in Burg zeigte den ukrainischen Kurzfilm Rote Halskette über das Leben eines Mädchens im Jahr 1933. Danach berichtete Sawalny dem Publikum seine Geschichte.
„Wjatscheslaws Geschichte aus dem Jahr 2022 und die meiner Großmutter im Jahr 1933 haben Gemeinsamkeiten“, sagt die Menschenrechtsaktivistin und Regisseurin und Autorin des Films Tetjana Wyssozka. „Die Russische Föderation lässt Ukrainerinnen und Ukrainer in Gefangenschaft heute absichtlich verhungern – genau wie zu Zeiten des Holodomor, als man Familien alle Essensvorräte wegnahm, sodass sie keine Chance zum Überleben hatten. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zielen darauf ab, den Menschen über seine Grundbedürfnisse zu zerstören. Und sie wiederholen sich.“
Das ist Sawalnys Präsentation, die er im November 2024 in Deutschland zeigte
Tausende von ukrainischen Zivilisten werden aktuell in russischen Gefängnissen in den besetzten Gebieten, auf der Krym und in Russland festgehalten [genaue Zahlen gibt es nicht – dek]. Ihre Angehörigen haben kaum Kontakt zu ihnen, da Russland seine Verbrechen verschleiert, keine Informationen bestätigt und internationalen Organisationen den Besuch von Haftanstalten verwehrt.
Leider bestehen aktuell keine regelmäßigen Mechanismen, um Zivilisten aus russischer Gefangenschaft zu befreien.
Viele Ukrainer sind durch die Foltergeschichten der Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft kaum noch zu beeindrucken. Aber Menschen außerhalb der Ukraine wissen oft nichts darüber, wie die Russen ukrainische Zivilisten entführen und jahrelang ohne jeden Grund gefangen halten. Und das, obwohl die Inhaftierung von Zivilisten in internationalen bewaffneten Konflikten nach dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verboten ist.