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Folter durch Hunger

In der unabhängigen Ukraine wird jedes Jahr Ende November jenen Millionen Menschen gedacht, die in den sowjetischen 1930er Jahren durch die von Moskau provozierte Hungersnot, den Holodomor, starben. Seit drei Jahren werden diese schmerzhaften historischen Erinnerungswunden wieder aufgerissen durch die Berichte vom Hungern ukrainischer Zivilisten und Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft. Das von Moskau befohlene Aushungern von Ukrainern erscheint als eine systematische Konstante – damals und heute.  

Mariupol im Frühjahr 2022: Wjatscheslaw Sawalny arbeitete als Mechaniker in der südostukrainischen Großstadt. Nachdem die russische Armee am 24. Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel und besonders brutal die russische Besetzung der Stahl- und Hafenstadt Mariupol vorantrieb, versuchte Sawalny, seine Familie – seinen Sohn und seine Frau – in Sicherheit zu bringen. Doch an einem russischen Checkpoint im etwa 120 Kilometer nordwestlich gelegenen Polohy – in der Nachbaroblast Saporishshja, die ebenfalls teilweise in wenigen Tagen von russischen Truppen besetzt wird – nahmen ihn russische Uniformierte fest. Es folgten zehn lange Monate in Kriegsgefangenschaft an verschiedenen Orten – zusammen mit anderen Ukrainern: Zivilisten wie Soldaten. 

2023 kommt Wjatscheslaw Sawalny durch einen Gefangenenaustausch frei. 2024 berichtet er ukrainischen Journalisten sowie einer Ukraine-Veranstaltung in Deutschland von seinen Erfahrungen in russischer Gefangenschaft.  

Das Recherchemedium texty.org.ua hat Sawalnys Bericht dokumentiert und die Rolle des Hungers von Experten einordnen lassen. 

Quelle Texty.org.ua

Wöchentliche Demo für die Freilassung aller ukrainischen Kriegsgefangenen aus russischen Lagern am 23. Februar 2025 in Kyjiw, Foto © Peggy Lohse

Ukrainische Gefangene berichten nach ihrer Freilassung aus russischer Kriegsgefangenschaft immer wieder, dass der Hunger eine der schlimmsten Qualen in den russischen Folterkammern war. So auch der Mechaniker Wjatscheslaw Sawalny aus Mariupol, wenn er über seine Folter-Erfahrungen spricht und die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden dabei unterstützt, die konkreten Kriegsverbrecher zu identifizieren, die Ukrainer wie ihn in Gefangenschaft foltern und töten. 

„Wir verloren alle sehr viel Gewicht. Sie folterten uns durch Hunger. Als sie dann etwas Brot ausgaben, ertappte ich mich dabei, wie ich es anstarrte und mir lange vorstellte, es zu essen“, berichtet Wjatscheslaw Sawalny. Vor Hunger habe er kaum schlafen können. „Alle Gespräche in unserer Zelle drehten sich nur ums Essen: Alle waren abgemagert und erschöpft. Die Leute in der Zelle stritten sich und kämpften um Lebensmittel.“  

Wjatscheslaw Sawalny vor und nach der russischen Kriegsgefangenschaft, Foto-Collage © texty.org

Wie so viele Ukrainer, die durch Russlands Krieges gegen die Ukraine in Gefängnissen der russischen Besatzer landen, hat auch Sawalny keinerlei Gründe für seine Inhaftierung erfahren. Stattdessen habe man ihn gefoltert und gleichzeitig gezwungen, leere Papiere zu unterschreiben. 

„Sie brachten mich zum Verhör und sagten, dass sie nichts gegen mich in der Hand hätten. Sie überprüften die Social-Media Accounts meiner Tochter, aber fanden auch dort nichts“, erinnert er sich. Also zwang man ihn zweimal, im Abstand von mehreren Monaten, die Geschichte seiner Verhaftung zu erzählen und sich dabei filmen zu lassen. Um die Aussagen vergleichen und Widersprüche finden zu können, vermutet Sawalny. 

2000 Kniebeugen im Informationsvakuum 

Doch Rechtsfreiheit und Hunger waren längst nicht die einzigen Erniedrigungsformen: „Die Wärter erlaubten uns nicht zu sitzen. Wir mussten 18 Stunden lang stehen. Die Zelle wurde videoüberwacht. Wenn jemand versuchte, sich hinzusetzen, schlugen sie zu oder zwangen ihn, Kniebeugen zu machen: Kopf nach unten, Hände hinter den Rücken. Einmal mussten wir das zweitausendmal machen. Später haben wir tote Winkel gefunden, die für die Kamera nicht einsehbar waren und uns abwechselnd ausgeruht.“ 

Weiter erinnert er sich an Schikanen beim Hofgang: „Wir mussten gebückt laufen, mit dem Kopf nach unten und den Händen hinter dem Rücken verschränkt, die Beine halb gebeugt. Während wir ‘spazierten’, schlug man uns mit Sand gefüllten Plastikrohren, die blaue Flecken auf unseren Körpern hinterließen. Wir schrien vor Schmerz.“ 

Die Gefangenen lebten in einem völligen Informationsvakuum, wurden ständig gefoltert und teils täglich verhört. Bitten um medizinische Hilfe wurden ignoriert und Nahrungsrationen gestrichen. 

Der Hauseingang von Wjatscheslaw Sawalny und seiner Familie in Mariupol, Frühjahr 2022, Foto © privat/Texty.org

Foltern bis zum Töten 

„Ich war in der Hölle. Allein während meiner Gefangenschaft wurden mindestens vier Ukrainer in den Folterkammern von Donskoi in der Region Tula hingerichtet. Als ich in Kursk war, starben zwei weitere. Und das sind nur die Hinrichtungen, von denen ich weiß“, sagt Sawalny, während er sich Fotos von Mitarbeitern der russischen Gefängnisse ansieht und nach bekannten Gesichtern sucht. 

Ich war in der Hölle

Die Russen täten alles dafür, so Sawalny, dass die Gefangenen, falls sie je in die Ukraine zurückkehren sollten, möglichst stark traumatisiert seien und zu einer Belastung für die Gesellschaft würden: „Sie weckten uns auch nachts auf, indem sie plötzlich das helle Licht anschalteten, um unseren Schlaf zu stören, damit wir uns nicht erholen und ausruhen konnten.“ 

Ermittler brauchen Betroffene 

In der Ukraine arbeiten die Strafverfolgungsbehörden aktiv daran, die Leiter russischer Gefängnisse und konkrete Kriegsverbrecher zu identifizieren und Verfahren vorzubereiten. Julija Polechina, Anwältin der Menschenrechtsorganisation Sitsch, dokumentiert bereits seit 2015 Aussagen ukrainischer Soldaten und Zivilisten, die in russischer Gefangenschaft waren. Sie sagt, dass alle Befragten, wie Wjatscheslaw Sawalny, von Folter durch Hunger berichteten. Dies wird auch durch Ärzte bestätigt, die schwere und langwierige Folgen durch anhaltenden Hunger konstatieren. Die Anwältin fordert alle Betroffenen solcher Verbrechen auf, nicht zu schweigen: 

„Wer freigelassen werden konnte, sollte über die Verbrechen an Ukrainern in den Haftanstalten in den besetzten Gebieten und in Russland aussagen. Dank dieser Informationen können die Ermittler der Nationalen Polizei Strafermittlungen durchführen und die Fälle vor Gericht bringen.“ 

Glaube ans Überleben 

Für Wjatscheslaw Sawalnys Freilassung hat sich besonders seine Tochter Karyna Djatschuk eingesetzt. Sie wurde Aktivistin und organisierte eine starke Bewegung zur Unterstützung von Zivilisten in russischer Gefangenschaft, gründete mit anderen Angehörigen von illegal gefangengehaltenen Ukrainern die Nichtregierungsorganisation Civilians in Captivity. Karyna Djatschuk kontaktierte alle möglichen Stellen, schrieb Briefe und Appelle an ukrainische Behörden und versuchte, russische Anwälte zu finden, die möglicherweise dabei helfen könnten, den Aufenthaltsort ihres Vaters zu ermitteln. Doch am wichtigsten war: Sie glaubte an seine Rückkehr. 

Am 8. Januar 2023 kam es zu einem Gefangenenaustausch, bei dem 50 Ukrainer [gegen ebenso viele russische Kriegsgefangene – dek] freikamen, darunter auch Wjatscheslaw Sawalny. Zum Zeitpunkt seiner Freilassung wog er nur noch 55 Kilogramm. Später wurde er zweimal operiert, brauchte lange, um sich zu erholen und konnte trotz ausgewogener und ausreichender Ernährung kaum wieder zunehmen. 

Seit 2014 Folter durch Hunger 

Iryna Badanowa war von November 2015 bis Juni 2024 Expertin im ukrainischen Koordinierungsstab für die Suche und Freilassung von Kriegsgefangenen in einer Unterabteilung des Generalstabs und des Verteidigungsministeriums tätig. Sie sagt, sie habe zum ersten Mal 2014 nach der Freilassung von Soldaten der 30. Mechanisierten Brigade von der Folter durch Hunger und Durst erfahren: 

„Die Jungs erzählten mir, dass sie zusammen mit 37 Gefangenen in einem Loch gehalten wurden und nur eine Drei-Liter-Flasche Wasser und einen Laib Brot pro Tag bekamen. Da es ein heißer August war, litten sie noch mehr unter Wassermangel als unter Hunger.“ 

Schon damals wurden ukrainische Gefangene nicht nur von lokalen Separatistenkämpfern, sondern auch durch den russischen Föderalen Geheimdienst FSB verhört. Das heißt, das russische Foltern ukrainischer Gefangener durch Hunger wird seit über einem Jahrzehnt angewendet. 

Wer aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf

„Jeder, der aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf: blasse Haut, erheblicher Gewichtsverlust (manchmal mehr als ein Viertel des Gewichts vor der Gefangenschaft), Haar- und Zahnausfall, schwere Entzündungen des Magens, der Speiseröhre, der Leber und der Bauchspeicheldrüse, die eine langfristige Behandlung erfordern“, sagt Badanowa. Diese Folter durch Hunger und Durst beeinträchtige die ehemaligen Gefangenen auch psychisch noch lange über die Gefangenschaft hinaus:  

„Nach ihrer Freilassung können einige ihren Hunger kaum mehr stillen, selbst wenn sie eigentlich genügend Eiweiß, Fett und Vitamine zu sich nehmen. Andere können bestimmte Lebensmittel nicht mehr ansehen, ohne dass ihnen übel und schwindlig wird. Geschweige denn essen.“ 

Diese Störungen können als die traumatischsten bewertet werden, denn neben einer langfristigen gastrologische Behandlung ist hier auch eine sorgfältige psychologische oder psychiatrische Behandlung erforderlich. 

Wjatscheslaw Sawalny hält einen Vortrag in Deutschland. Foto © Tetjana Wyssozka/Texty  Russlands Aushungern gestern und heute 

2024 nahm Wjatscheslaw Sawalny an einer Veranstaltung zum Holodomor-Gedenktag in Burg bei Magdeburg teil. Der Verein Ukrainer in Burg zeigte den ukrainischen Kurzfilm Rote Halskette über das Leben eines Mädchens im Jahr 1933. Danach berichtete Sawalny dem Publikum seine Geschichte. 

„Wjatscheslaws Geschichte aus dem Jahr 2022 und die meiner Großmutter im Jahr 1933 haben Gemeinsamkeiten“, sagt die Menschenrechtsaktivistin und Regisseurin und Autorin des Films Tetjana Wyssozka. „Die Russische Föderation lässt Ukrainerinnen und Ukrainer in Gefangenschaft heute absichtlich verhungern – genau wie zu Zeiten des Holodomor, als man Familien alle Essensvorräte wegnahm, sodass sie keine Chance zum Überleben hatten. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zielen darauf ab, den Menschen über seine Grundbedürfnisse zu zerstören. Und sie wiederholen sich.“ 

Das ist Sawalnys Präsentation, die er im November 2024 in Deutschland zeigte

Tausende von ukrainischen Zivilisten werden aktuell in russischen Gefängnissen in den besetzten Gebieten, auf der Krym und in Russland festgehalten [genaue Zahlen gibt es nicht – dek]. Ihre Angehörigen haben kaum Kontakt zu ihnen, da Russland seine Verbrechen verschleiert, keine Informationen bestätigt und internationalen Organisationen den Besuch von Haftanstalten verwehrt.  

Leider bestehen aktuell keine regelmäßigen Mechanismen, um Zivilisten aus russischer Gefangenschaft zu befreien.  

Viele Ukrainer sind durch die Foltergeschichten der Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft kaum noch zu beeindrucken. Aber Menschen außerhalb der Ukraine wissen oft nichts darüber, wie die Russen ukrainische Zivilisten entführen und jahrelang ohne jeden Grund gefangen halten. Und das, obwohl die Inhaftierung von Zivilisten in internationalen bewaffneten Konflikten nach dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verboten ist. 

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Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

„Als meine ganze Familie [aufgrund von Hungerödemen] begann anzuschwellen, brachte ich meine Tante und ihre zwei Kinder zu meinem Vater. Während des gesamten Weges sah ich Menschen, die sich die Straße zum Getreidespeicher entlangschleppten. Dabei lasen sie aus dem Staub Körner auf, die nur sie selbst erkennen konnten. Einige unter ihnen brachen zusammen und starben auf der Stelle. Sie wurden auf die Seite geschafft und niemand beachtete sie mehr. Ist es ein Wunder, dass meine Haare begannen zu ergrauen, als ich vierzehn Jahre alt war?“, so erinnert sich der Ukrainer Iwan Alexijenko an das Jahr 1933, als die Hungersnot in der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte. 

1932/33 kam es überall im Land zu Versorgungsengpässen, doch in der Ukraine, in Kasachstan, dem Wolgagebiet, dem Nordkaukasus und anderen Regionen der Sowjetunion herrschte eine dramatische Hungerkatastrophe, der insgesamt zwischen fünf und sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen.1 Die meisten Menschen starben in der Ukraine, wo rund 3,3 Millionen Tote zu beklagen waren. In der Ukraine ist der Holodomor heute integraler Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur und gilt als Genozid. Diese Klassifizierung ist jedoch umstritten.

Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander / Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

Die Hungersnot der Jahre 1932/33 war eine direkte Folge der stalinschen „Revolution von oben“.  Mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der Verfolgung der sogenannten Kulaken und immer höheren Ablieferungsquoten auf Getreide und Fleisch hatten die Bolschewiki die sowjetische Landbevölkerung seit 1928 permanent unter Druck gesetzt. 

Der Weg in den Hunger 

Die meisten Bauern fügten sich in ihr Schicksal und versuchten in den Kolchosen die ihnen auferlegten Pläne zu erfüllen. Wer ins Kreuzfeuer der Dekulakisierungskampagne geriet, wurde stigmatisiert, verbannt, verhaftet oder gar erschossen. Vielerorts erhoben sich Bauern und setzten sich gegen die Zumutungen des Staates zur Wehr. In diesen Auseinandersetzungen um die Zukunft des sowjetischen Dorfes setzten sich die Bolschewiki schließlich durch, weil sie mit einer Mischung aus rücksichtsloser Gewalt und Anreizen für ihre Anhänger operierten.2

Die gute Ernte des Jahres 1930 schien den Befürwortern eines radikalen Kollektivierungskurses recht zu geben. Doch diese Erfolge kamen nicht wegen, sondern trotz des Umbaus der sowjetischen Landwirtschaft zustande. Bereits ein Jahr später zeichneten sich in einigen Regionen ernsthafte Versorgungsengpässe ab. Die Planer in Moskau focht das nicht an: Sie legten für 1932 noch höhere Ablieferungspläne für Kolchosen und die verbliebenen Einzelbauern fest. Ein erheblicher Teil der Ernte sollte nicht der Versorgung der eigenen Bevölkerung dienen, sondern ins Ausland exportiert werden, um das ehrgeizige sowjetische Industrialisierungsprogramm zu finanzieren. 

Als im Verlaufe des Jahres 1932 deutlich wurde, dass die Ernte dramatisch hinter den Erwartungen zurückbleiben würde, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Verantwortlichen in den Republiken und Regionen taten alles in ihrer Macht Stehende, die exorbitanten Vorgaben zu erfüllen. Dabei schreckten die Beschaffungskommandos oftmals auch nicht davor zurück, Futtergetreide für das Vieh und Saatgut zu beschlagnahmen. Damit aber verurteilten sie die Menschen faktisch zum Hungertod.3

Hunger als Instrument der Herrschaftsdurchsetzung 

Alle Versuche, die Planziele zu erreichen erwiesen sich als nutzlos. Auch deshalb zeigten sich die führenden Bolschewiki davon überzeugt, dass die Landbevölkerung bewusst „Sabotage“ betrieb und begriffen den Hunger als eine Form des Widerstands. Stalin selbst erklärte, manche Bauern würden lieber hungern, als ihre Ernte abzuliefern.3 Diese Wahrnehmung trug entscheidend dazu bei, dass die Hungerkrise zur Katastrophe wurde, denn die Lösung konnte unter diesen Umständen nicht in Hilfslieferungen, sondern nur in noch stärkerem Druck liegen. 

Vor allem in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen agierten die sowjetischen Funktionäre jetzt mit offenem Terror. Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt und den Menschen das letzte Getreide genommen.5 Dort, wo Getreide in betroffene Gebiete geschickt wurde, erwiesen sich die Lieferungen oft als unzureichend, und sie kamen außerdem oft nicht den bedürftigsten, sondern den leistungsfähigsten und loyalsten Personen zugute. Individuelles Überleben war vielfach an die Akzeptanz des sowjetischen Herrschaftsanspruchs gebunden. Auch wenn die Hungersnot nicht bewusst geplant und intendiert war, instrumentalisierten die führenden Bolschewiki um Stalin die Katastrophe für ihre Interessen: Sie erwies sich als mächtiges Instrument zur Herrschaftsdurchsetzung und Disziplinierung der Bevölkerung. 

Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Hungers 

Die Hungersnot beeinflusste alle Bereiche menschlicher Existenz. Der dauerhafte Nahrungsmangel wirkte sich nicht nur gravierend auf die Körper der Hungernden aus, sondern auch auf soziale Zusammenhänge. Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander. Hatten die meisten Bauern zu Beginn der Hungerkrise noch Anteilnahme gezeigt und Betroffenen geholfen, änderte sich dies, als immer größere Gruppen Mangel litten. Viele Menschen verloren das Vertrauen zueinander, Diebstahl und Morde waren an der Tagesordnung. Manchmal fiel auch das letzte Tabu, und es kam zu Fällen von Kannibalismus. Die Gesellschaft zerfiel.

Die Gewalt nahm endemische Ausmaße an. In einem – wohl irrtümlich veröffentlichten – Leserbrief in einer Zeitung der kasachischen Stadt Akmolinsk hieß es etwa über die kasachischen Hungerflüchtlinge, die man als Otkotschewniki bezeichnete: „Der Rote Markt ist eröffnet worden, den man nur deshalb rot nennen kann, weil dort täglich rotes Blut fließt. In Gruppen oder allein reißen die Otkotschewniki den Händlern und Käufern die Lebensmittel aus den Händen und natürlich schlagen die Bestohlenen sie dafür bis aufs Blut, bis zur Bewusstlosigkeit, und manchmal schlagen sie sie tot.“

Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt / Foto © Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

Doch die Jahre des Hungers waren nicht nur eine Zeit des Gesellschaftszerfalls, denn auf sich allein gestellt konnte kaum jemand in dieser Krise bestehen. Viele Menschen taten sich in häufig verwandtschaftlich organisierten Überlebensgemeinschaften zusammen, innerhalb derer Zusammenhalt und gegenseitige Solidarität hoch waren.6

In den meisten Regionen der Sowjetunion endete die Hungersnot im Herbst 1933; nicht zuletzt auch deshalb, weil die Parteiführung den Druck auf die Kolchosbauern in begrenztem Maße lockerte. Das massenhafte Sterben mochte vorüber sein, doch die demographischen und sozialen Folgen dieser Katastrophe blieben noch lange Zeit spürbar. 

Genozid-Debatte 

In der Sowjetunion durfte niemand vom Hunger sprechen. Das verordnete Schweigen endete erst in den späten 1980er Jahren, als im Zuge von Perestroika und Glasnost die „weißen Flecken“ der sowjetischen Geschichte thematisiert (und skandalisiert) wurden. Insbesondere in der Ukraine begannen viele Überlebende des Hungers nun damit, ihre Erlebnisse öffentlich zu artikulieren. 

Diese Zeitzeugen fanden Gehör, weil die Erinnerung an den Hunger hier trotz aller Tabus stets präsent geblieben war und als Beleg für die antiukrainische Politik der Bolschewiki galt und gilt. Diese These verband sich mit dem vor allem von ukrainischen Emigranten in Nordamerika immer wieder geäußerten Überzeugung, beim Holodomor handele es sich um einen Genozid an der ukrainischen Nation. Im spannungsreichen russisch-ukrainischen Verhältnis seit 1991 wurde die Hungersnot von beiden Seiten immer wieder für tagespolitische Auseinandersetzungen instrumentalisiert. 

Historiker wurden zu wichtigen Akteuren in diesen Debatten. Dabei besteht weitgehend Konsens darüber, dass die bolschewistische Führung um Stalin für die Hungersnot verantwortlich war. Der Konflikt entzündet sich jedoch an der Frage, ob sich im Handeln der sowjetischen Führer eine konkrete Vernichtungsabsicht erkennen lässt. Während dies für ukrainische Historiker unzweifelhaft feststeht,7 argumentieren viele ihrer russischen Kollegen, dass es sich bei der Hungersnot der Jahre 1932/33 um ein gesamtsowjetisches Phänomen handelte, von dem nicht allein die Ukraine betroffen war.  Auch unter „westlichen“ HistorikerInnen ist die Genozidfrage durchaus umstritten.8 

Große Unterschiede lassen sich hinsichtlich der Bedeutung des Hungers in den nationalen Historiographien ausmachen: Während der Holodomor eines der zentralen Themen der ukrainischen Geschichtswissenschaft nach 1991 wurde (und bis heute ist), spielt die Hungersnot in Russlands Geschichtswissenschaft eine eher untergeordnete Rolle.9  

In vielen aktuellen Arbeiten zum Hunger in der Sowjetunion steht die Genozid-Debatte nicht im Zentrum: Hier geht es etwa um die Rolle und Verantwortung von Funktionären auf der mittleren Ebene, lokale Dynamiken des Hungers oder um die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Hungersnöte.10 Auch die Diskussion um die Opferzahlen dauert an.

Erinnerungsdiskurse

Die historiographische Auseinandersetzung mit der Hungersnot lässt sich von ihrer politischen Instrumentalisierung längst nicht mehr trennen. In der Ukraine ist der Holodomor ein zentraler Bestandteil der nationalen Identität, der seit 2006 offiziell als Genozid gilt und dessen Leugnung unter Strafe steht. Die Würdigung der Hungertoten durch ukrainische Politiker enthält meist auch eine antirussische Stoßrichtung, die seitens russischer Politiker entschieden zurückgewiesen wird. Eine spezifische russische Erinnerungskultur für die Opfer der Hungersnot gibt es nicht. 

In Kasachstan, wo in Relation zur Gesamtbevölkerung die meisten Menschen während der Hungersnot starben, versuchten sowohl Staat als auch Historiker, Konflikte mit Russland über diese Frage zu vermeiden. Rund 1,7 Millionen Kasachen kamen hier ums Leben; etwa ein Drittel der ethnischen Kasachen. Dennoch spielte die Hungersnot in Kasachstan jahrzehntelang kaum eine Rolle, sieht man einmal von einer Phase zu Beginn der 1990er Jahre ab. Zu groß schien der kasachischen Führung das Risiko eines Konflikts mit Russland und zu besorgt war sie angesichts der multiethnischen Bevölkerungszusammensetzung Kasachstans. Erst in den letzten Jahren änderte sich dies und die Hungersnot wurde zum Gegenstand offizieller kasachischer Erinnerungsdiskurse. Die Schuldfrage tritt dabei zugunsten der Betonung menschlichen Leids in den Hintergrund.11

Die Konflikte und widerstreitenden Positionen in Politik und Geschichtswissenschaft der betroffenen Staaten finden ihre Entsprechung in „westlichen“ Debatten. Mehrere Staaten – allen voran die USA –  haben den Holodomor offiziell als Genozid anerkannt und damit im ukrainisch-russischen Streit eindeutig Partei ergriffen. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion auch in Deutschland an Dynamik gewonnen. Der Bundestag hat am 30. November 2022 eine Resolution verabschiedet, wonach der Holodomor als „Menschheitsverbrechen“ anerkannt wird, aus heutiger Perspektive liege „eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe“. Ein Ende der Debatten um den genozidalen Charakter des Holodomor ist indes nicht zu erwarten.


1.Die Opferzahlen sind umstritten. Es kursieren auch wesentlich höhere Angaben, die teilweise von mehr als zehn Millionen Opfern allein in der Ukraine ausgehen. Die genaue Zahl der Hungertoten wird sich nicht ermitteln lassen, da die Toten vielfach nicht registriert wurden. 
2.Zur Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft und den Konflikten zwischen Staat und Bauern: Fitzpatrick,Sheila  (1996): Stalin’s Peasants: Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York; Viola, Lynne (2009): The Unknown Gulag: The Lost World of Stalin’s Special Settlements, New York 
3.Der bekannte Dissident Lew Kopelew beteiligte sich als junger Mann an solchen Expeditionen in ukrainische Dörfer und hat in seinen Memoiren darüber berichtet. Kopelew, Lew  (1981): Und schuf mir einen Götzen: Lehrjahre eines Kommunisten, München 
4.So beschrieb Stalin seine Sicht der Dinge in einem Brief an den sowjetischen Schriftsteller Michail Scholochow, vgl. Werth, Nicolas (2002): Ein Staat gegen sein Volk: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Sowjetunion, München, S. 143 
5.ausführlich: Applebaum, Anne (2017): Red Famine: Stalin’s War on Ukraine, New York, S. 186-221 
6.Kindler, Robert (2014): Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg, S. 239-262 
7.Zentrale Positionen ukrainischer Historiker sind leicht zugänglich in: Sapper, Manfred/Weichsel, Volker (Hrsg.) (2004): Vernichtung durch Hunger: Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR (Osteuropa 12/2004) 
8.zusammfassend: Applebaum, Red Famine, S. 320-362 
9.Eine Ausnahme stellen etwa die Arbeiten des wichtigsten russischen Experten zum Thema dar, vgl.: Kondrashin, Viktor (2008): Golod 1932-1933 godov: Tragedija rossijskoj derevni, Moskva 
10.vgl. bspw.: Cameron, Sarah (2018): The Hungry Steppe: Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan, Ithaca 
11.Kindler, Stalins Nomaden, S. 338-348 
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