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Das historische Verhältnis der drei ostslawischen Sprachen Belarusisch, Ukrainisch und Russisch ist offensichtlich nicht nur für den erlesenen Kreis slawistischer Mediävist*innen interessant. In den Fokus der breiten Bevölkerung ist es gerückt, weil Wladimir Putin seinen Feldzug gegen die Ukraine mit vermeintlichen historischen Fakten begründet, auch sprachgeschichtlicher Natur. So schreibt Putin in dem Aufsatz Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer, dass die mittelalterlichen slawischen Stämme „von Ladoga, Nowgorod, Pskow bis Kiew und Tschernigow“ durch „eine Sprache vereint“ gewesen seien. Wie beiläufig lässt er fallen, dass „wir diese Sprache heute altrussisch nennen“. Ein genuin philologisches Interesse ist dem Autor nicht zu unterstellen. Vielmehr verhandelt er über die Eigenständigkeit von Sprachen die Eigenständigkeit von Nationen und Ländern, um daraus handfeste eigene, politische Ansprüche abzuleiten. Denn wenn sich die belarusische und die ukrainische Sprache irgendwann einmal vom Russischen abgespalten haben – so ein nicht nur von Putin bedienter, weit verbreiteter Irrglaube –, sind sie dann nicht letztlich nur Unterarten der russischen Sprache? Und wenn dem so wäre, müssten dann nicht Belarus*innen und Ukrainer*innen letztlich eigentlich Russ*innen sein?
Putin spricht in jenem Aufsatz ein Gebiet an, das weite Teile der heutigen Ukraine, der Republik Belarus und des europäischen Russlands umfasst.1 Im Mittelalter bestand an dieser Stelle das Großreich der Kyjiwer Rus. Die Bevölkerung dieses Reiches sprach neben finnischen und baltischen vor allem ostslawische Mundarten – einer der drei Zweige des Slawischen. Die Bezeichnung Rus stammt – so die gängigste Theorie – vom ostseefinnischen Wort ruotsi, das wohl seinerseits auf ein nordgermanisches Wort für „Ruderer“ zurückgeht. Hiermit waren zunächst nicht Ostslawen, sondern auch als Waräger bekannte Wikingergemeinschaften gemeint, die über Flüsse wie Newa, Wolchow, Düna und Dnipro aus der Ostsee durch das ostslawische Gebiet ins Schwarze Meer und nach Konstantinopel reisten. Zur Sicherung ihrer Routen errichteten sie Stützpunkte, aus denen sich lokale Machtzentren herausbildeten. Im späten 9. Jahrhundert gelang es, die größten dieser Machtzentren – Nowgorod im Norden und Kiew/Kyjiw im Süden – zu vereinen. Das neue Großreich übernahm die Bezeichnung Rus. Bald passten sich die skandinavischen Waräger sprachlich an die ostslawische Bevölkerungsmehrheit an. Mit der Zeit wurde Rus zur Bezeichnung der Ostslawen schlechthin.
Putin ist nicht der erste, der dieses mittelalterliche Reich als ersten „(alt-)russischen Staat“ bezeichnet und dessen Sprache als „altrussisch“. Diese Bezeichnungen sind zumindest irreführend: Sie suggerieren, dass die Menschen damals Russen gewesen wären und sich einer Form des Russischen bedient hätten, und eben nicht des Belarusischen oder des Ukrainischen. Somit scheint das Russische, erstens, seit dem tiefsten Mittelalter dagewesen zu sein, und zwar, zweitens, als einzige ostslawische Sprache, und, drittens, seine Identität bis heute bewahrt zu haben. Dem Belarusischen und dem Ukrainischen bliebe dann nur die Rolle des Spalters. Ursprünglich meinte „russisch“ aber nichts anderes, als ein Teil des Reiches der Rus zu sein beziehungsweise gewesen zu sein.2 Anders als das Ukrainische und das Belarusische („Weißrussische“) hatte das Russische letztendlich vor allem eines: das historische „Glück“, die Bezeichnung Rus ohne irgendeinen einschränkenden Wortteil zu erben. Dieses „Glück“ ist letztlich in der Vormachtstellung des Russischen Zarenreiches ab dem 17. Jahrhundert begründet.
Man könnte dies nun alles ignorieren – schließlich haben das Alter von Sprachen und mittelalterliche Sprachverhältnisse, ja Sprachverhältnisse überhaupt, nichts über heutige nationale und staatliche Eigenständigkeiten auszusagen. Wirkmächtig sind solche Vorstellungen dennoch, so dass man doch nicht umhin kommt, über Sprache und Sprachen der Ostslawen, deren Alter und Verhältnis zueinander zu sprechen. Dabei ist es wesentlich, zwischen zwei Erscheinungsformen von Sprache zu unterscheiden: einerseits Standardsprachen im modernen Sinne beziehungsweise für frühere Epochen überregionale, geschriebene Formen, die von wenigen Kundigen für kulturell hochstehende Bereiche verwendet wurden; andererseits die Mundarten, die die breite Bevölkerung in ihrem Alltag verwendete.
Im Alltag sprachen die Bewohner der Kyjiwer Rus ihre ostslawischen Mundarten (oder ihre baltischen und finnischen Mundarten). In dieser Zeit können keine klar voneinander getrennten Vorläufer der drei ostslawischen Sprachen identifiziert werden. Zwar gab es deutliche Unterschiede zwischen räumlich weit entfernten Mundarten, zwischen den aneinandergrenzenden Mundarten gab es aber fließende Übergänge. Die Geschichte dieser ostslawischen Mundarten ist kurz erzählt: Wie jede Sprachform veränderten sie sich im Laufe der Jahrhunderte, sie blieben aber das Kommunikationsmittel der breiten Bevölkerung bis in das 20. Jahrhundert hinein und existieren bis heute. Dabei bestehen immer noch fließende Übergänge der Mundarten, selbst über die heutigen Staatsgrenzen hinweg. Dies ist auch für Mundarten in anderen Teilen Europas nichts Ungewöhnliches – beispielsweise an der niederländisch-deutschen oder der portugiesisch-spanischen Grenze.
Geschrieben wurden ostslawische Mundarten relativ selten – bekannt sind Alltagstexte, verfasst auf Birkenrinde (z. B. kurze private Briefe), die vor allem in Nowgorod, aber auch an anderen Orten gefunden wurden. Diese Texte spiegeln die dortigen Mundarten wider. Auch die eher schematisch-formelhafte Sprache von Rechtstexten war ostslawisch (im Wesentlichen handelt es sich um einen größeren Text, die Russkaja prawda – zu übersetzen eben nicht mit „Russisches Recht“, sondern mit „Recht der Rus“). Kurzum: Ostslawisch war die Sprache von weltlichen Texten. Allerdings war ein sehr großer Teil des Schrifttums in der Rus wie anderswo im mittelalterlichen Europa religiös geprägt. Ähnlich wie weiter westlich das Lateinische den kulturell-religiösen Bereich und damit das Schrifttum überhaupt dominierte, dominierte auch im ostslawischen Raum eine importierte Sprache, und zwar das sogenannte Kirchenslawische.
Das Kirchenslawische kam über Umwege in die Rus. Es war bereits im 9. Jahrhundert von den Brüdern Konstantin (der später den Mönchsnamen Kyrill annahm) und Method, zweier im Dienste von Byzanz stehenden Geistlichen erschaffen worden, und zwar zur Missionierung der Westslawen im damaligen „Mährischen Reich“. Um den Slawen die heiligen Texte in „ihrer“ Sprache näherbringen zu können, kombinierten die beiden sogenannten Slawenapostel ihren südslawischen Dialekt mit komplexeren Satzstrukturen und abstrakterem Wortschatz, die sie an griechische oder lateinische Vorbilder anlehnten. Kyrill entwickelte ein eigenes Schriftsystem, das Glagolitische. Für kurze Zeit war das Altkirchenslawische als erste und einzige Sprache auf zeitgenössischer Basis (wenn es letztlich auch eine Plansprache war, ohne „Muttersprachler“) neben Latein, Griechisch und Hebräisch auch von Rom als Sakralsprache anerkannt.
Die „mährische Mission“ scheiterte jedoch, in ihrem Zielgebiet setzte sich die lateinische Liturgie durch. Die Schüler von Kyrill und Method mussten bald fliehen, die meisten in das damalige Bulgarische Reich. Hier entstand das nach Kyrill benannte, aber nicht von ihm selbst entwickelte kyrillische Alphabet, das kaum auf dem Glagolitischen, aber stark auf dem griechischen Alphabet beruht. In der Folge sollte es zur Schrift der orthodoxen Slawia werden. Als um 990 der Großfürst der Rus Wolodymyr (so der ukrainische, auf dem Ostslawischen beruhende Name) bzw. Wladimir (so der heutige kirchenslawisch geprägte russische Name) mit seinem Gefolge das Christentum annahm, wurde dieses kyrillisch geschriebene Kirchenslawische zur Missionierung der Bevölkerung eingesetzt. Den Ostslawen war das im Wesentlichen südslawische Kirchenslawische zu dieser Zeit partiell wohl noch verständlich, zumindest klang es vertrauter als es etwa beim Griechischen oder beim Lateinischen der Fall gewesen wäre.
Die Kyjiwer Rus zerfiel im 13. Jahrhundert. Der östliche Teil wurde der mongolischen Goldenen Horde tributpflichtig. Später, im 14. und 15. Jahrhundert, etablierte hier das ursprünglich unbedeutende Fürstentum Moskau seine Vorherrschaft. Die bis dahin bestehende sprachliche Konstellation hatte in der Moskauer Rus, aus dem das Russische Zarenreich hervorging, noch bis ins 17. Jahrhundert Bestand: Ostslawisch (im Sinne zahlreicher Mundarten) war die Sprache im Alltag und in weltlichen Angelegenheiten, wurde aber nur begrenzt geschrieben. Kirchenslawisch galt für die höheren Sphären. Es ergab sich eine sogenannte Diglossie: eine Situation, in der sich zwei Sprachen – eine „hohe“ und eine „niedrige“ – recht strikt die Anwendungsbereiche aufteilen.
Anders sah es im westlichen Teil der einstigen Rus aus, auf dem Gebiet der heutigen Belarus und der Ukraine. Im 14. Jahrhundert waren diese Gebiete Teile des Großfürstentums Litauen geworden. Anders als in Moskau entstand hier relativ früh eine überregionale Schriftsprache, die auf dem Ostslawischen beruhte.3 Die litauischen Eroberer nutzten das Ostslawische der Bevölkerungsmehrheit und das kyrillische Alphabet in der Verwaltung ihres riesigen Reiches. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert machte dieses westliche, aus heutiger Sicht „belarusisch“ und „ukrainisch“ geprägte Ostslawische dem Kirchenslawischen ernsthafte Konkurrenz, denn es wurde nun nicht nur zu profanen Zwecken, sondern auch für Übersetzungen religiöser Texte, vor allem aber in konfessionellen Disputen gebraucht. Diese Sprache wurde von Zeitgenossen als „Sprache der Rus“ (ruska mova) oder als „einfache Sprache“ (prosta mova) bezeichnet. „Einfach“ ist dabei keinesfalls mit „simpel“ gleichzusetzen, sondern hebt auf ihre im Gegensatz zum Kirchenslawischen volkssprachlich-autochthone Basis ab. Diese Emanzipation der autochthonen Prosta mova passierte ganz ähnlich wie bei anderen europäischen „Volkssprachen“ im 16. und 17. Jahrhundert im Zuge von Reformation und Gegenreformation.
Während die Prosta mova von russischer Seite und auch in älteren deutschsprachigen Quellen oft und problematischerweise als „westrussisch“ bezeichnet wird, wird heutzutage im Deutschen in der Regel die Bezeichnung „ruthenisch“ bevorzugt. Diese Bezeichnung drückt aus, dass es sich eben nicht um eine Unterart des Russischen handelte. In der Belarus ist die Bezeichnung „Altbelarusisch“, in der Ukraine „Altukrainisch“ geläufig. Auch diese Bezeichnungen sind nicht unproblematisch, denn die Prosta mova insgesamt ist weder klar dem heutigen Belarusischen noch dem Ukrainischen zuzuordnen, auch wenn einzelne Texte mal mehr Ähnlichkeiten zu Mundarten des heutigen belarusischen, mal zu solchen des ukrainischen Gebiets aufweisen.
Die ruthenische Schriftsprache des Großfürstentum Litauens hat wie das Großfürstentum selbst die Jahrhunderte nicht überdauert. Ende des 17. Jahrhunderts wurde ihre Verwendung in Verwaltung und Rechtsprechung aufgehoben, ihre Bedeutung hatte sie schon zuvor verloren. Nachdem Litauen bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Teil eines gemeinsamen polnisch-litauischen Staates geworden war und sich kulturell immer stärker an Polen orientiert hatte, wurde die ruthenische Schriftsprache vom kulturell attraktiven Polnischen verdrängt.
Um 1700 war damit „in der ostslavischen Sprachlandschaft […] noch nichts von dem in Sicht, was heute als Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch (im Sinne der jeweiligen Standardsprachen) bezeichnet wird“.4 Die Bevölkerung sprach ihre jeweiligen Mundarten. Als Schriftsprache dominierte im Großfürstentum Litauen nunmehr das Polnische, im russischen Zarenreich nach wie vor das Kirchenslawische. Angestoßen durch die Modernisierungen Peters des Großen gab es im Zarenreich des 18. Jahrhunderts einen vehementen Konflikt, ob die als notwendig erachtete zukünftige russische Schriftsprache eher am Kirchenslawischen oder eher an der Volkssprache auszurichten war. Die moderne russische Standardsprache, die sich im 18. Jahrhundert allmählich herausbildete und im 19. Jahrhundert insbesondere im Werk des Schriftstellers Alexander S. Puschkin verfestigte, ist letztendlich ein Kompromiss: Sie beruht zum einen auf mittelrussischen Mundarten rund um Moskau, enthält aber sehr viele Elemente und Eigenschaften des Kirchenslawischen.
Die moderne ukrainische und die moderne belarusische Standardsprache sind nur etwas jünger. Wie viele andere moderne Standardsprachen sind sie Kinder des „Völkererwachens“ des 19. Jahrhunderts. Die Startbedingungen waren für sie schlechter als für das Russische: Zu dieser Zeit war das belarusische Sprachgebiet Teil des Russischen Zarenreiches geworden, das ukrainische größtenteils ebenfalls, ein kleinerer Teil gehörte zu Österreich. Dennoch bildeten sich in dieser Zeit das moderne Ukrainische und das moderne Belarusische im Werk von Schriftstellern wie den Ukrainern Iwan P. Kotljarewsky und Taras Schewtschenko und den Belarusen Winzent Dunin-Marzinkewitsch und Franzischak Bahuschewitsch heraus. Beide Sprachen beruhen auf damaligen ukrainischen beziehungsweise belarusischen Mundarten, ohne größere Rückgriffe auf das Kirchenslawische oder die frühneuzeitliche ruthenische Schriftsprache.5
Angesichts der Dominanz des Russischen in diesen Gebieten hatten die belarusische und die ukrainische Standardsprache auch weiterhin keine einfache Geschichte. Gerade in der Zeit der Sowjetunion gab es starke Versuche, die beiden Sprachen zugunsten des Russischen zurückzudrängen und sie zu „russifizieren“, dem Russischen ähnlicher zu machen. Diese Politik hat zweifellos ihre Spuren im Belarusischen und Ukrainischen hinterlassen. Aus dem Russischen entwickelt haben sie sich aber ebenso zweifellos nicht. Wenn die Kyjiwer Rus als Beginn der russischen Sprache und der „russischen Welt“ bezeichnet wird, nicht aber der belarusischen und ukrainischen, so beruht dies auf einem nomenklatorischen Trick: nämlich auf der Bezeichnung eines mittelalterlichen Großreiches und seiner Sprache, in dem an das Russische, das Ukrainische und das Belarusische, so wie wir es heute kennen, nicht zu denken war, als „altrussisch“.
Abschließend: Es mag überraschen, dass auch Slawist*innen auf die simple Frage, wie viele ostslawische Sprachen es denn gäbe, unterschiedlich antworten. Dies liegt daran, dass manche Sprachformen eine größere Menge an kommunikativen Funktionen ausfüllen als typische Mundarten bzw. Dialekte, aber andererseits auch weniger als typische, voll ausgebildete Standardsprachen. Ein solcher Fall ist zum Beispiel das Russinische, das oft als vierte ostslawische Sprache bezeichnet wird. Es wird im Karpatenraum vor allem der Slowakei, der südwestlichen Ukraine und im südöstlichen Polen verwendet, nach migrativen Verschiebungen im 18. Jahrhundert auch in der serbischen Wojwodina. Für das Wojwodina-Russinische ist der Ausbau zu einer Standardsprache recht weit vorangeschritten. Für das Karpato-Russinische ist die Lage unterschiedlich, am wenigsten weit ist man in der Ukraine, am weitesten in der Slowakei.
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.