Am Mittwoch hat Wladimir Putin seine alljährliche Botschaft an die Föderationsversammlung verkündet. Neben Kritik am Westen galt der Fokus diesmal vor allem der Innenpolitik. Die Schlüsselaufgabe dabei, so der Präsident, sei sbereshenije naroda – das Behüten, Bewahren des Volkes. Die Formel geht auf den Schriftsteller Alexander Solschenizyn zurück, der darin das Potential für eine neue „nationale Idee“ sah. Die Politik habe demnach eine Fürsorgepflicht, müsse sich um das Volk kümmern.
Putin, der diese Definition der „nationalen Idee“ befürwortet, startete schon 2005 das Programm der (prioritären) nationalen Projekte. Spätestens seitdem betont der Präsident immer wieder, wie wichtig Armutsbekämpfung sei, Familienförderung und effektive Gesundheitspolitik. Auch in seiner Rede am 20. Februar 2019 sprach er ausführlich über diese Themen, außerdem betonte er, dass auch Umwelt- und Verkehrspolitik wichtige Teile der nationalen Projekte seien.
Im Vorfeld wurde vielfach darüber spekuliert, worüber der Präsident wohl sprechen würde. Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew liegt bereits zwei Tage zuvor mit seinen Vermutungen ganz richtig: Auf Spektr schaut Inosemzew sich die alten Versprechen der nationalen Projekte an und fragt: „Und was sind die Ergebnisse?“
Mitte Februar hat die Regierung die finanziellen Kennzahlen für verschiedene prioritäre nationale Projekte bekanntgegeben. In den Jahren [seit 2008 – dek] wurde besondere Aufmerksamkeit auf die Gesundheitsfürsorge, das Bevölkerungswachstum und die Entwicklung der Infrastruktur gerichtet.
Und was sind die Ergebnisse?
Im Jahr 2007 gab es in Russland 400.000 HIV-Infizierte, jetzt sind es geschätzt mindestens 970.000, wahrscheinlich jedoch rund 1,3 Millionen. Die Zahl der Krebskranken ist von 2,4 auf 3,5 Millionen gestiegen.
Laut Regierungsangaben ist die Lebenserwartung phantastisch hoch: Lag sie 2006 noch bei 67,4 Jahren, waren es 2018 schon 73,2 Jahre. Dabei ist die Einwohnerzahl im Land allerdings aus irgendeinem Grund kaum gewachsen (von 143,2 auf 144,3 Millionen Menschen ohne Berücksichtigung des „Zuwachses durch die Krim“), und 2018 kam es neuerlich zu einem natürlichen Abfall, was Anlass zu der Annahme gibt, dass die verlautbarten Zahlen nichts weiter als ein statistischer Trick sind.
Die Fernstraße von Moskau nach Sankt Petersburg wurde innerhalb der letzten zehn Jahre nicht fertiggestellt, der Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse Moskau – Kasan nicht einmal begonnen. Alle Großprojekte (von Wladiwostok über Sotschi bis hin zur Krim-Brücke) waren Augenwischerei an den äußersten Rändern des riesigen russischen Territoriums und änderten nichts an der Situation im zentralen Teil des Landes.
Die prioritären nationalen Projekte – das ist heute im Grunde genau ein nationales Projekt: das Errichten eines Systems, durch das die persönlichen Interessen einer diebischen Beamtenschaft bedient werden. Es ist kein Zufall, dass mehr als zwei Drittel der zu bewilligenden Mittel aus dem Staatshaushalt kommen: Dem Staat beliebt es, über Steuern Geld aus der Wirtschaft und von den Menschen abzuziehen und es anschließend in die Hände der Bürokraten zu übergeben, die standardmäßig besser wissen, wie damit umzugehen ist.
Die Brieftasche der Beamten
Die prioritären nationalen Projekte – das ist eine schöne Bezeichnung für die Brieftasche der Beamtenklasse. Die füllt der Kreml fürsorglich mit Geld, das über die Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhung des Rentenalters eingenommen wurde. Das ist de facto der Preis, den die Bürokratie aufruft, also derjenige Teil der Haushaltsausgaben, der on top kommt bei der Förderung der einen oder anderen Branche. Wenn irgendetwas [von diesen nationalen Projekten – dek] gelingt – wunderbar, wenn sich all das dafür vorgesehene Geld „auflöst“ – dann ist es auch keine Tragödie. Für die Machthaber, versteht sich, nicht für die Bevölkerung.
Die Bevölkerung gewöhnt sich daran, immer mehr der steigenden Kosten aus der eigenen Tasche zu bezahlen, wobei diese zweifellos vom Staat getragen werden müssten, auch ohne jegliche nationalen Projekte. Bezeichnend für diese herrliche Technik sind zum Beispiel die vermehrten Finanz- und Sammelaktionen in Krankenhäusern und Schulen. Praktisch am selben Tag, als im Weißen Haus Gelder für die prioritären Bereiche verteilt wurden, gab es in der Duma den Vorschlag, Eltern angesichts dessen, dass Stipendien keineswegs mehr zum Leben reichen, zum Unterhalt von Schulkindern und Studenten zu verpflichten.
Das ist im Grunde alles, was man über die nationalen Projekte wissen muss: Geld in den Händen von Beamten – das heißt bei uns „national“, und Geld in der Tasche der einfachen russischen Bürger – das ist etwas für die russische Staatlichkeit Fremdes und Abstoßendes.