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Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff einer glücklichen sowjetischen Kindheit. Das Lager wurde 1925 mit einigen Zelten am Strand eröffnet und diente zunächst als Sanatorium der Tuberkulosevorsorge. Von 1938 an wurde es zu einem ausgedehnten Komplex mit mehreren Teil-Lagern in einer malerischen, südlichen Landschaft am Ufer des Schwarzen Meeres in der Nähe von Hursuf ausgebaut. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde das Lager von der Ukraine weiterbetrieben und kam mit der Annexion der Krim wieder unter russische Verwaltung.
Das Lager war jedermann in der Sowjetunion ein Begriff. Die „Mutter aller Pionierlager“ lieferte ikonische Bilder von Kindern in weißen Pionierhütchen mit Zypressen und blauem Meer im Hintergrund. Das Vorzeigelager wurde in zahlreichen großzügig bebilderten Publikationen vorgestellt, es erschien auf den ersten Seiten der Russischlehrbücher und in Pionierkalendern als Traumland und Wunschziel.1
In der Propaganda des revolutionären Russland wurden Kinder als Träger der Utopie von der gerechten sozialistischen Gesellschaft verehrt. Bereits 1922 wurde die Organisation der Jungen Pioniere als Zweig des Komsomol für die 10 bis 15-Jährigen gegründet. Sie übernahm zahlreiche Elemente der Pfadfinderorganisationen: die Losung „Wsegda gotow!“ (dt: „Allzeit bereit!“), die Uniform und die roten Halstücher, die militärisch inspirierte hierarchische Einteilung in Gruppen und Abteilungen (sogenannte drushiny und otrjady). Ab Mitte der 1930er Jahre wurde dann die „glückliche Kindheit“ ein wesentlicher Teil der stalinistischen Kultur und Propaganda, die Organisation von Sommerlagern für Kinder – ähnlich denen der westlichen Lebensreformbewegungen2 – sollten zur Vermittlung dieses Glücksgefühls maßgeblich beitragen.
Artek war anfangs elitär, hierhin reisten nur die verdientesten Pioniere und die Kinder der Eliten für einen drei- oder sechswöchigen Sommeraufenthalt. Bereits in der Stalinzeit wurden auch Kinder ausländischer Parteieliten nach Artek eingeladen.3 Zwischen 1960 und 1964 wurde das Lager völlig umgestaltet und auf 4000–5000 Plätze erweitert. Dafür wurden eigens Fertigbauteile in einem Baukastensystem entwickelt.4 Die filigranen Bettenhäuser aus Aluminium und Glas, die in ihrer Form an Schiffe erinnerten, sollten Schutz vor Wind und Wetter bieten, zugleich aber durch Veranden und offene Seiten dem Gedanken der Freiluftkultur Rechnung tragen.
Nach dem Ausbau konnten jeden Sommer während vier Monatslagern insgesamt 20.000 Kinder ihre Ferien in Artek verbringen.5 Es gab eine eigene Schule, ein Krankenhaus und olympiagerechte Sportanlagen. Sogar eine Kosmonautik-Ausstellung entstand – auf Anregung Juri Gagarins, der das Lager regelmäßig besuchte.
Generell wurden Pionierlager meistens in den Grüngürteln rund um die sozialistischen Industriestädte angelegt. Die „einfachen“ Pionierlager, die von Betrieben und Organisationen für die Kinder ihrer Angestellten organisiert wurden, eiferten im sozialistischen Wettbewerb dem Vorbild Artek nach. Mit dem Ausbau der Pionierbewegung zur erzieherisch orientierten Massenorganisation in den 60er Jahren wuchs die Zahl der Pionierlager für Kinder der „nicht-elitären“ Sowjetbürger. Es hieß, 1976 würden eine halbe Million Moskauer Kinder den Sommer im Lager verbringen.6 Aus dem Privileg für Wenige wurde damit ein Erlebnis, an dem breitere Kreise teilhatten.
Die Tagesabläufe waren weitgehend festgelegt und mussten sowohl von den Pionieren selbst als auch vom Personal, das hauptsächlich aus Freiwilligen bestand, strikt eingehalten werden. Jeder Tag begann mit dem Hissen der Flagge und endete mit ihrem Einholen. Deswegen war das Zentrum jedes Pionierlagers der Appell- oder Aufmarschplatz, der eine Fahnenstange haben musste.
In einer Broschüre aus den 70er Jahren, die Empfehlung und Vorschriften für die Durchführung von Sommerlagern gibt7, wird neben der politischen Erziehung gefordert, die Pioniere sollten in nahegelegenen Kolchosen helfen, Beeren pflücken, Heilkräuter sammeln und die Natur schützen. Das Stichwort lautete „vernünftige Erholung“ (rasumny otdych). Dazu gehörte neben der körperlichen Ertüchtigung die Förderung technischer Fähigkeiten in verschiedenen Zirkeln. Als Anreiz und Belohnung winkten Ehren: Die Besten wurden mit der Lagerflagge oder am Lagerdenkmal fotografiert, durften die Fahne hissen, bekamen Diplome und Abzeichen verliehen. Neben diesem straffen Programm gab es jedoch auch Freiräume, mehrtägige Ausflüge mit dem Zelt und abendliche Lagerfeuer.
Bis heute ist es in Russland üblich, dass Kinder im Schulalter ihre Sommermonate ohne die Eltern in organisierten Lagern verbringen, in denen nun verschiedenste Aktivitäten von Sport über Theater bis hin zu Programmierkursen angeboten werden.
Nach 1991 bestand das Lager erfolgreich weiter, pflegte den internationalen Schüleraustausch und nahm an pädagogischen Wettbewerben teil. Ab Mitte der 2000er Jahre wurde die staatliche Unterstützung gekürzt, und Artek geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Und nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde Artek sogleich unter die Schirmherrschaft des russischen Bildungs- und Forschungsministeriums und des russischen Präsidenten gestellt. In die Rekonstruktion flossen seither insgesamt 21 Milliarden Rubel.8
Während der Sowjetzeit waren die Pionierlager als „Orte der glücklichen Kindheit“ Teil einer mythisch überhöhten Landschaft, in der die Kinder schon in der Zukunft lebten. Heute gehört das Modell-Lager Artek zum Kanon der staatlich geförderten Sowjetnostalgie.
In der russischen Propaganda wurde der Ukraine vorgeworfen, sie habe das Wahrzeichen Artek dem Zerfall preisgegeben. Putin trat als Retter der glücklichen Kindheit auf. Zugleich schuf er retro-Utopien der Stalinzeit. Denn Artek war wie auch die Moskauer Ausstellung sowjetischer Errungenschaften WDNCh mit ihren Republik-Pavillons (1939) oder der Park für Kultur und Erholung names Gorki (1928) eine der gebauten stalinistischen Utopien. All diese von Michail Ryklin so treffend als „Räume des Jubels“9 beschriebenen Themenpärke wurden unter Putin aufwändig restauriert. Dabei war es besonders praktisch, dass das berühmte Ferienlager auf der paradiesischen wiedergewonnenen Krim lag. Die „Rettung“ und Wiedererstehung Arteks konnte als Rechtfertigung und Hauptgewinn der Angliederung beworben werden.
Nach Artek kamen nun vor allem russische Kinder. Alljährlich finden in Russland leistungsorientierte Wettbewerbe um die begehrten Feriengutscheine für die 15 jeweils 21 Tage dauernden Aufenthalte statt. Mit der Annexion kam auch die Politik nach Artek. Der Tag beginnt mit dem Hissen von drei Flaggen – Russland, Krim und Artek – und dem Abspielen von drei Hymnen. Bereits 2020 beklagte die ukrainische Vertretung in der Autonomen Republik Krim die Militarisierung des Lagers und die Allgegenwart russischer Propaganda in Form von Zeichnungen zu Ehren des Russland-Tages, Tänzen zu Ehren des Flaggentages oder Liedern zu Ehren des Tages des Sieges.10 In Zusammenarbeit mit der 2016 gegründeten russischen paramilitärischen Kinder- und Jugendbewegung Junarmija finden in Artek regelmäßig „Jungkämpferkurse“ statt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 schreiben die Kinder während der Ferienaufenthalte in Artek Briefe an die Teilnehmer der so genannten „Spezialoperation“ und schicken Pakete in den Donbass. Seit Juli 2022 werden ukrainische Kinder aus russisch besetzten Gebieten hierher gebracht. Aus diesem Grund verhängten das Vereinigte Königreich und später die USA Sanktionen gegen Artek und seine Leiter.11