Wenn Eltern in Russland, zumal in Kriegszeiten, nicht mehr wissen, was sie sonst für ihre Söhne tun sollen, dann wenden sie sich an die Soldatenmütter. Die Organisation mit zahlreichen Zweigstellen in ganz Russland, die es sich vor mehr als 30 Jahren zur Aufgabe gemacht hat, die Misshandlungen in der russischen Armee aufzudecken, ist später vor allem für ihre Hilfe in den beiden Tschetschenienkriegen bekannt geworden: um Söhne zu finden, die an die Front geschickt wurden und um Gefallene zu dokumentieren und den Verwandten Nachricht geben zu können.
Schon Wochen vor dem großflächigen Angriff, den Wladimir Putin mit den russischen Streitkräften seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt, haben die Anfragen bei den Soldatenmüttern wieder zugenommen.
Vor allem die Wehrdienstleistenden rückten dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil schnell die Vermutung aufkam, auch sie seien in die Ukraine geschickt worden: Schilderungen junger Rekruten legten schon Tage nach dem Einmarsch nahe, dass sie in der Ukraine in Gefangenschaft geraten waren. Videos kursierten davon im Netz, oft veröffentlicht vom ukrainischen Militär, außerdem auf dem Telegram-Kanal Ischi Swoich. Aber auch Eltern wandten sich mit Hinweisen an unabhängige russische Journalisten.
Nachdem Präsident Putin zunächst geäußert hatte, Wehrpflichtige würden nicht eingesetzt, sondern nur Berufs- und Zeitsoldaten, so räumte das russische Verteidigungsministerium am 9. März das Gegenteil ein. Dabei versicherte die Militärführung, die Wehrpflichtigen seien, bis auf die Kriegsgefangenen, inzwischen wieder in Russland. Doch Transparenz ist kaum gegeben, auch mit Opferzahlen hält sich die russische Staatsführung bedeckt, spricht offiziell bislang lediglich von rund 500 getöteten Soldaten auf russischer Seite. US-Angaben und ukrainische Angaben gehen von mehreren tausend Toten bei den russischen Streitkräften aus. Wie viele es wirklich sind, ist unklar.
Die Leiterin der Petersburger Soldatenmütter, Oxana Paramonowa, spricht im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza darüber, wie sich ihre Arbeit vor dem Hintergrund des neuen Krieges gestaltet – über mütterliche Ohnmacht, einen Staat, der wenig preisgibt, und wie sie als Organisation auch selbst durch eine verschärfte Gesetzeslage in ihrer Arbeit beschnitten werden.
Sascha Siwzowa: Wie hat sich die Arbeit der Soldatenmütter von Sankt Petersburg seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar verändert?
Oxana Paramonowa: Die Arbeit unserer Organisation haben wir [bereits] im Oktober letzten Jahres verändert – wir haben so gut wie jeden Rechtsbeistand für Armeeangehörige eingestellt und nur den Auskunftsdienst beibehalten. Allein die Zahl der Anfragen bei diesem Auskunftsdienst ist seit dem 24. Februar gestiegen. Und zwar deutlich.
Warum haben Sie das Format Ihrer Arbeit geändert?
Unsere Organisation hat 30 Jahre lang Ersuche entgegengenommen. Die Menschen wandten sich über verschiedene Kanäle an uns, meist persönlich. In den letzten Jahren gab es eine Hotline und Online-Beratungen. Unsere Anwälte haben sich um diese Anfragen gekümmert. Wir haben Treffen mit Kommandostäben und der Militärstaatsanwaltschaft organisiert. Die Grundlage für die Arbeit waren Informationen, die wir persönlich von den Menschen erhielten.
Im Oktober wurde der unglückselige FSB-Erlass verabschiedet, der das Sammeln jedweder Information über die Armee faktisch verbietet. Dadurch drohte den betreffenden Personen eine strafrechtliche Verfolgung, und wir waren gezwungen, diese Arbeit einzustellen.
Was hat sich seit diesem neuen Gesetz verändert? Sie haben aufgehört, Informationen zu sammeln und Rechtshilfe zu leisten?
Da wir jetzt keine Informationen mehr sammeln, können wir uns nur aus den Anfragen ein Bild von der allgemeinen Lage machen, aber wir können keinen aktiven Rechtsbeistand mehr leisten. Faktisch wurde uns die Möglichkeit genommen, im Namen der Organisation zu agieren, weil wir nicht schreiben können, dass uns irgendwer irgendwo irgendetwas erzählt hat. Wir brauchen konkrete Angaben, um jemanden als Organisation vertreten zu können. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir praktisch keine Daten mehr erheben – angefangen bei personenbezogen Daten bis hin zu medizinischen Auskünften, Angaben zu Straftaten und begonnenen Ermittlungen. Wir haben nicht mehr das Recht, solche Informationen zu sammeln.
Wie stark ist die Zahl der Anfragen seit Kriegsbeginn gestiegen?
Bis Oktober waren es viele Anfragen – um die zweitausend im Jahr. Dann gingen die Anfragen natürlich zurück, weil wir erklärt hatten, dass wir unser Arbeitsformat ändern und keine Rechtshilfe mehr anbieten können. Aber die Zahl der Anfragen, die wir seit dem 24. Februar erhalten, ist im Vergleich zu dem, was wir seit Oktober hatten, sprunghaft gestiegen. Im Oktober und November erreichten uns ein bis zwei Anrufe täglich. Jetzt sind es zwanzig.
Was möchten die Angehörigen der Wehrpflichtigen von Ihnen wissen?
Alle Fragen beziehen sich auf die Ereignisse seit dem 24. Februar. Uns rufen Eltern an, die meisten von ihnen bitten um Hilfe bei der Suche nach ihren Söhnen.
Was erzählen Ihnen die Eltern der Armeeangehörigen?
Wir sammeln praktisch keine Informationen, mit Ausnahme derer, die uns die Leute selbst geben. Je nach Fragestellung geben wir Orientierung, was man tun kann. Unter diesen Umständen fällt unsere Hilfe recht mager aus.
Aber an der Menge der Anrufe und daran, wie es den Menschen geht, sehen wir, dass sie nirgendwo sonst anrufen können. Sie finden unsere Nummer und melden sich. Manche sagen, dass sie in der Armee-Einheit angerufen haben, aber nicht durchgekommen sind oder zu hören bekamen: „Warten Sie, Sie werden informiert.“ Manche erzählen, dass sie versucht hätten, beim Verteidigungsministerium anzurufen. Aber auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums wurden seit dem 24. keine Informationen veröffentlicht, an wen sich Angehörige wenden können [das Verteidigungsministerium hat einen Tag nach dem Interview, am 9. März, eine Hotline eingerichtet – dek].
Wir geben den Leuten einfach Kontakte aus dem Verteidigungsministerium weiter, die wir im Laufe der Jahre gesammelt haben. Wir arbeiten ja ziemlich eng mit verschiedenen Abteilungen innerhalb des Verteidigungsministeriums und in den jeweiligen Bezirken zusammen. Wir geben ihnen die Kontakte, die wir haben, und empfehlen den Leuten, überall anzurufen, um Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen. Hauptsächlich geht es darum.
Was tun Sie noch, abgesehen von der Empfehlung, welche Behörden man kontaktieren soll?
Wir versuchen, die Eltern untereinander zu vernetzen. Das ist für uns als Organisation eine schwierige Aufgabe, manchmal nicht machbar.
Aber es ist wichtig, dass die Eltern gemeinsam handeln. Dass sie sich koordinieren, dass jemand direkt an den Dienstort [d. h. in die Militäreinheit] fährt, an dem sie das letzte Mal Kontakt [mit dem Vermissten] hatten, dass ein anderer am Telefon sitzt und wieder ein anderer Schreiben [an das Verteidigungsministerium und andere Behörden] aufsetzt. Sie müssen sich zusammentun.
Wir haben auch früher alles dafür getan, solche Supportgruppen entstehen zu lassen: Damit der Rekrut nicht alleine zur Musterungsbehörde geht, damit er eine Gruppe von Eltern oder seine Kameraden plus seine Eltern hinter sich hat, die wenigstens eine minimale Kontrolle darüber haben, wie der Armeedienst abläuft.
Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind
Gibt es jetzt solche Gruppen?
Die Menschen schätzen die aktuelle Situation sehr unterschiedlich ein. Das ist ein Problem, denn manche warten lieber ab, und andere finden, dass man sofort handeln sollte.
Was ist besser, abwarten oder handeln?
Die Entscheidung muss jeder selbst treffen. Ich persönlich finde immer, handeln ist besser. Ich verstehe, dass Beten auch eine Form von Handeln ist. Aber meines Erachtens nicht die einzige. Manche entscheiden sich dafür zu warten. Man kann nur hoffen, dass irgendwann das eintritt, worauf sie warten.
In den ersten Tagen war ich sehr aufgewühlt und habe den Eltern versucht zu erklären, dass man etwas tun muss, anstatt zu warten. Bei manchen hat es funktioniert, bei anderen nicht. Die Kooperation zwischen den Eltern ist sehr schwierig. In den meisten Fällen haben die Eltern, die bei uns anrufen, weder die Telefonnummern der Militäreinheiten noch Kontakte zu den Eltern der Kameraden ihrer Söhne.
Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind. Und selbst die haben zum Beispiel oft keine Kontaktdaten der Einheit. Ich finde das merkwürdig.
Inwiefern merkwürdig?
Ich habe das Gefühl, sie sind völlig abgekoppelt vom Dienst in der Armee. Die Familien haben alles dem Staat überlassen. Aber die Folgen davon, dass wir alles dem Staat überlassen haben, baden wir jetzt aus.
Das nächste Problem wird sein, dass der Staat für das, was passiert, nur eine minimale Verantwortung übernehmen wird. Dessen muss man sich bewusst sein. Das ist es den Eltern leider nicht. Ihnen ist nicht klar, dass, egal was mit ihren Söhnen jetzt passiert, die vom Staat übernommene Verantwortung minimal sein wird.
Wladimir Putin hat Angehörigen von in der Ukraine gefallenen Soldaten zusätzliche Kompensationen versprochen.
Wir kriegen ein paar Vorzeigebeispiele präsentiert – Kompensationen in Millionenhöhe [in Rubel – dek] und so was. All das, was uns der Präsident versprochen hat. Der Rest wird diesen Kompensationen jahrelang hinterherrennen – im besten Fall. Schlimmstenfalls versuchen sie es einmal und geben dann auf, sagen: „Tja, so läuft das eben in unserem Land.“ Danach werden sie nur in ihrem Umfeld darüber sprechen, dass es ihnen so ergangen ist.
Verstehen Sie, wie die Verluste gezählt werden? Das Verteidigungsministerium spricht von 498 Gefallenen auf russischer Seite.
Dazu kann ich nicht viel sagen, weil die Zahlen auseinandergehen: Die beiden Kriegsparteien nennen unterschiedliche Zahlen. Das ist normal, die Menschen sollen auf diese Art beeinflusst werden. Wie sie das jeweils zählen, ist schwer zu sagen. Wenn im Netz Informationen auftauchen, dass dieser Held mit Ehren bestattet wurde, dass jener Held mit Ehren bestattet wurde, dann kann man davon ausgehen, dass das auch eine Rolle spielen wird.
Was meinen Sie?
Dass möglicherweise für manche gar nichts ausgezahlt werden muss, weil sie Heldenbegräbnisse bekommen, eine Gedenktafel in ihrer Schule und in ihrem Heimatdorf, und fertig. Ich fürchte, dass sich ein Teil der Gesellschaft auch damit zufrieden geben wird, leider.
Wie könnte die Suche nach vermissten Soldaten offiziell aussehen?
Auf der Website des Verteidigungsministeriums läuft kein rotes Band, wo man nach Soldaten suchen kann. Es gibt auch keine Listen mit Gefallenen.
Außerdem unterliegen Informationen über Verluste bei „Spezialoperationen“ seit 2015 der Geheimhaltungspflicht. So gesehen stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage sie jetzt die Namen der Gefallenen offiziell verlautbaren lassen.
Liegen Ihnen Zahlen über Verluste vor?
Nein, wir sammeln sie nicht. An uns wenden sich Eltern, die jemanden suchen und in der Regel keine Informationen haben. Sie versuchen, Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen, zu erfahren, wo sie sind und wie es ihnen geht. Wir dürfen keine Daten zu Verlusten sammeln. Wir hatten ein paar Anfragen, bei denen Eltern sagten, sie hätten ihre Söhne unter den Kriegsgefangenen erkannt. Die reichen wir an Kollegen weiter, die sich mit der Suche von Kriegsgefangenen auskennen. Wir geben den Eltern den Kontakt, alles weitere erfahren sie dort, was man überhaupt machen kann.
Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe
Können Sie eine Institution nennen, die sich mit Kriegsgefangenen befasst?
Das sind einfach Sankt Petersburger Menschenrechtsaktivisten, die bereits aus anderen Militärkampagnen Erfahrung haben. Sie wissen, an wen sich die Eltern wenden können. Aus Gesprächen mit Journalisten, die sich während des Tschetschenienkriegs mit solchen Fragen beschäftigt haben, weiß ich, dass die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation [Tatjana Moskalkowa] dabei helfen kann. Ich empfehle den Angehörigen, dort einen Gefangenenaustausch anzuregen. Ansonsten sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, keine offiziellen Strukturen.
Es heißt, die russische Armee führe womöglich mobile Krematorien mit sich. Stimmt das?
Dazu haben wir keine gesicherten Informationen.
Haben die Anfragen der Angehörigen, die jetzt nach Soldaten suchen, etwas gemeinsam?
Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe. Ich habe verschiedene Mütter in verschiedenen Situationen erlebt, und ich weiß, wie Mütter handeln können. Momentan höre ich auf viele meiner Vorschläge nur: „Was bringt das?“ Verstehen Sie? Das klingt für mich, als sähen die Leute keinen Sinn darin, das Leben ihrer Söhne zu retten. „Wozu denn? Lassen die mich denn dort rein?“ Wenn ich zum Beispiel sage: „Fahren Sie zum Kommandostab, und fragen Sie dort nach.“ Wenn eine Mutter das will, dann lassen sie sie rein, und dann reden sie auch mit ihr. Aber wenn sie sich von all diesen Fragen abschrecken lässt und ihre eigene Kraft in Zweifel zieht, dann wird sie höchstwahrscheinlich nicht durchkommen.
Ist das eine Art allgemeine Ohnmacht?
Wie auch immer man das nennen will. Es herrscht ein allgemeiner Zustand der Passivität: Apathie, Ohnmacht. Man könnte es auch schärfer formulieren. Jedenfalls hat man das Gefühl, das Leben eines Menschen sei nichts wert. Es gibt den Wunsch, irgendwo etwas zu beweisen, aber die Fähigkeit zum Handeln, um ein Leben zu retten, ist blockiert. Ich weiß nicht, ob es Angst ist, oder Schuld. Wenn man genauer hinschaut, hat da wahrscheinlich jeder sein Päckchen zu tragen. Aber dass dieser Impuls in der heutigen Zeit praktisch fehlt, ist, glaube ich, eine Tatsache. Da ist kein Impuls, Leben zu retten.
Was werden diese Geschehnisse noch für Folgen haben?
Welche Folgen diese „Spezialoperationen“ in Russland haben werden? Das wird in jeder Familie anders sein. Die Frage ist, ob sie zu einem gemeinsamen Bild zusammengefügt werden, anhand dessen die Verantwortung und Beteiligung der Gesellschaft sichtbar werden, die Verantwortung des Staates, und ob daraus irgendwelche tiefgreifenden Veränderungen resultieren. Aber wahrscheinlich wird das eher ein Mosaik bleiben. Das heißt, jede Familie wird eine eigene Geschichte erleben, mit individuellen Folgen – und irgendwie damit zurechtkommen, so gut es eben geht. Und wir werden in dem Zustand verharren, in dem wir jetzt sind. Oder es wird noch schlimmer.