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Anders sein – Dissens in der Sowjetunion

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Samisdat

Der Begriff Samisdat kommt aus dem Russischen und bedeutet Selbstverlag. Er beschreibt die Herstellung und Verbreitung von Texten in den sozialistischen Staaten Ost(mittel)europas ohne offizielle Druckgenehmigung an den staatlichen Zensurbehörden vorbei. Seit Anfang der 1960er Jahre wurde die Herstellung und Verbreitung von illegaler Literatur in der Sowjetunion als „antisowjetische Agitation und Propaganda“ verfolgt. Auch in Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn blieben derartige Aktivitäten nicht ungeahndet.

Gründungserklärung der Moskauer Helsinki-Gruppe vom 12. Mai 1976 (Samisdat-Original) und ins Deutsche übersetze Version in der von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte herausgegebenen Dokumentensammlung (Tamisdat) / Foto © Fabian Winkler

„Man schreibt selbst, redigiert selbst, man zensiert selbst und sitzt auch selbst die Strafe dafür ab.“1 Mit diesen Worten brachte der bekannte Dissident Wladimir Bukowski das Phänomen Samisdat auf den Punkt. Der Begriff Samisdat geht auf einen Gedichtband zurück, der 1953 auf einem selbst hergestellten Heft die offiziellen Verlagsangaben mit dem Begriff „Selbstverlag“ parodierte. Stellte dieses Heft des Schriftstellers Nikolaj Glaskow noch eine Kuriosität dar, so gingen, inspiriert durch das Tauwetter unter Chruschtschow, seit Ende der 1950er Jahre einzelne Andersdenkende dazu über, mit Hilfe von Kohlepapier und Schreibmaschinen Literatur abzutippen. Sie hefteten oder banden die entstandenen Durchschläge und reichten sie an vertrauenswürdige Bekannte zur Lektüre oder Abschrift weiter.

Samisdat spielte eine wichtige Rolle sowohl bei der Herausbildung alternativer Milieus innerhalb der sozialistischen Staaten, als auch beim Entstehen personeller Netzwerke darüber hinaus. Häufig wurden Werke des Samisdat auch in den Westen geschmuggelt. Im Zuge der Systemkonkurrenz erregten dort insbesondere Dokumentationen über Menschenrechtsverletzungen oder Zeugnisse alternativer Literatur große Aufmerksamkeit und wurden von kommerziellen Verlagen und diversen Organisationen in den Originalsprachen oder in Übersetzung verlegt. Samisdat ist daher untrennbar mit dem sogenannten Tamisdat verbunden. Das westliche Publikum diente Andersdenkenden und Regimekritikern in Ost(mittel)europa als wichtiger Resonanzraum und umgekehrt prägte das Engagement für diese das Selbstverständnis westlicher UnterstützerInnen.

Die inhaltliche Bandbreite der selbst hergestellten Blattsammlungen, (Künstler-)bücher, Hefte und sogar ganzer Zeitschriftenreihen reichte von Klassikern der Weltliteratur über avantgardistische Gedichte bis hin zu religiösen Texten, politischen Pamphleten, Rechtsliteratur oder Gesetzestexten. Angesichts der eingeschränkten Verfügbarkeit von Ressourcen zur Herstellung von Druckerzeugnissen kam neben den Inhalten auch dem Material des Samisdat eine große Bedeutung zu.2 Typoskripte wurden nicht nur abgetippt, sondern auch abfotografiert oder gedruckt. Künstlerbücher und Collagen wurden vervielfältigt, wodurch jede Kopie einen besonderen Charakter erhielt. Während in der Sowjetunion vorwiegend per Hand gearbeitet wurde, entstanden in Polen und der Tschechoslowakei Untergrunddruckereien, in denen Materialien auch in hoher Auflage produziert werden konnten.

Sergej Sigey „Raritäten des Anarcho-Futurismus, 1963–1965“ / Quelle – Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen

In den 1960er bis 1980er Jahren etablierten sich mit Hilfe der Untergrundliteratur durchlässige und wechselseitige Kommunikationszusammenhänge über den Eisernen Vorhang hinweg.3 Doch die Kommunikation war oftmals so zerbrechlich wie das Butterbrotpapier, auf dem die Informationen geschrieben wurden. Das Risiko staatlicher Verfolgung – von Repressalien im beruflichen Fortkommen bis hin zur Zwangseinweisung in psychiatrische Kliniken und Lagerhaft – bestand bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion für alle, die an der Herstellung oder Verbreitung von Samisdatschriften beteiligt waren.


1.zitiert nach Eichwede, Wolfgang (Hrsg.) (2009): Die Forschungsstelle Osteuropa: Archiv und Geschichte, S. 8, in: ders.: Das Archiv der Forschungsstelle Osteuropa: Bestände im Überblick: UdSSR/Russland, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn und DDR, Bremen, S.7-21
2.Steiner, Peter (2008): Introduction: On Samizdat, Tamizdat, Magnitizdat, and Other Strange Words That are difficult to pronounce, S. 613, in: Poetics Today 29, S. 613-628; Komaromi, Ann (2004): The Material Existence of Soviet Samizdat, in: Slavic Review 63 (3), S. 597-618
3.Kind-Kovács, Friederike / Labov, Jessie (Hrsg.) (2013): Samizdat, Tamizdat and Beyond: Transnational Media during and after Socialism, New York
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