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Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

Die Söldnertruppe Wagner wirbt seit dem Frühjahr 2022 gezielt Gefängnisinsassen an, die sich parallel zur russischen Armee an der Invasion in die Ukraine beteiligen. Wenn sie sechs Monate im Einsatz überleben, winkt den Kämpfern die Begnadigung. Inzwischen kehren einige in ihre Heimatorte zurück – unter ihnen verurteilte Schwerverbrecher wie der 28-jährige Iwan Rossomachin. Sein 200-Seelen-Heimatdorf Nowy Burez in der Oblast Kirow, knapp 1000 Kilometer östlich von Moskau, machte in russischen Medien Schlagzeilen, seit er dort eine Rentnerin ermordet haben soll. Alina Ampelonskaja hat sich für das Sankt Petersburger Nachrichtenportal Fontanka auf seine Spuren begeben – und schildert in einer Reportage ihre Eindrücke.

Source Fontanka

Um 17 Uhr ist die Straße [in Nowy Burez] menschenleer. Am Einkaufsladen hängt ein Schild: Öffnungszeiten 8 bis 19 Uhr. Ich ziehe an der Tür – geschlossen. Erst da sehe ich einen zweiten Aushang, ein ausgedrucktes A4-Blatt, das etwas oberhalb der Augenhöhe an der Scheibe klebt: Heute bis 15 Uhr.

Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach. Die Tür steht offen. Ich spähe hinein, in der Hoffnung, irgendjemanden anzutreffen oder wenigstens kurz aufs Klo gehen zu können: Von Kasan bis Nowy Burez sind es vier Stunden Autofahrt. Es gibt auch einen Bus von der Nachbarstadt Wjatskije Poljany hierher, aber er fährt nur dreimal die Woche. Wen es interessiert: montags, mittwochs und freitags.

Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach / Foto ©  Alina Ampelonskaja

Drinnen steht vor der Bühne mit den zwei russischen Flaggen ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke. Daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Die drei wirken überaus freundlich, zumindest bis zu dem Moment, in dem ich mich als Journalistin vorstelle.

„Wir haben keine Zeit, wir proben für den 9. Mai. Vielleicht finden Sie draußen jemanden, der mit Ihnen sprechen will ...“ Ich nicke mit einem Lächeln, aber innerlich resigniere ich. Von draußen komme ich ja gerade und weiß, wie es dort aussieht. „Kann ich vielleicht Ihre Toilette benutzen?“ „Ja, raus und nach links.“

Vor der Tür bleibe ich kurz stehen: An einem Aushängebrett sind die Eintrittspreise für diverse Veranstaltungen und Dienstleistungen angeschlagen: Film- und Zeichentrickvorführung – 30 Rubel [etwa 0,35 Euro – dek] pro Person, Diskothek – 30 bis 80 Rubel [etwa 0,35 bis 0,90 Euro – dek], Benutzung des Fitnessraums – 30 bis 50 Rubel [etwa 0,35 bis 0,60 Euro – dek] pro Stunde. Aber einen Fitnessraum gibt es hier gar nicht.

Drinnen steht ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke, daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Sie proben für den 9. Mai / Foto © Alina Ampelonskaja

Aus dem Inneren dringt der Anfang einer Reportage des lokalen Fernsehsenders Wjatskije Poljany herüber: „An einem grauen Sonntagmorgen haben sich besorgte Bürger im Kulturzentrum eingefunden, die sich von der Polizei und der regionalen Verwaltung Auskunft über den Vorfall erhoffen ...“

Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma

Seit der Rückkehr von Iwan Rossomachin, der als Söldner für die Gruppe Wagner an der Front war, sind knapp zwei Wochen vergangen. Jetzt sitzt er hinter Gittern: Zuerst fünf Tage wegen Sachbeschädigung, mittlerweile steht er unter Mordverdacht. Nicht zum ersten Mal: 2020 hat er eine Bewohnerin von Nowy Burez umgebracht. Sie wird hier von allen nur Tante Tanja genannt, ohne Nachnamen.

Um 17 Uhr ist die Straße in Nowy Burez menschenleer / Foto © Alina Ampelonskaja

Da sehe ich auf der Straße einen Mann in Gummistiefeln. „Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma“, antwortet er lustlos. Gleich nach dem Schulabschluss sei er in die Stadt gezogen, berichtet er. Das Gespräch ist vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Über das Leben im Dorf wisse er nicht viel. „Da kann ich nicht helfen“, antwortet er knapp und verschwindet im Kulturzentrum.

Später erfahre ich den Grund: In einem gemeinsamen Chat wurden die Dorfbewohner eindringlich davor gewarnt, mit der Presse zu sprechen. Während der drei Tage, die ich hier verbringe, wird man mich immer wieder bitten, das Diktiergerät auszuschalten und keine Namen zu nennen. Ich bin ratlos.

Ich klopfe an ein Tor, unter dem eine Hundeschnauze hervorschaut. Es muss doch jemand hier sein, der diese Schnauze füttert? Nach ein paar Minuten höre ich im Hof Schritte und eine genervte Stimme: „Ist ja gut, jetzt gib schon Ruhe.“ Ein Mann in Camouflage-Overall und Gummistiefeln öffnet mir die Tür. „Ich wohne hier nicht, bin nur auf Besuch bei meiner Mutter. Hier gibt es nichts, nur den Laden und die Kolchose. Die Schule hat dichtgemacht, der Kindergarten auch.“

„Die Kolchose“ ist der Agrarbetrieb Rus. Laut den Dorfbewohnern arbeitet dort der Großteil der hiesigen Bevölkerung. Die Popularität lässt sich leicht erklären: Erstens verdient man in der „Kolchose“ relativ gut – als Melkerin zum Beispiel rund 30.000 Rubel [etwa 340 Euro – dek]. Zweitens gibt es keine andere Arbeit. Die meisten Männer versuchen ihr Glück in der Stadt oder verdingen sich irgendwo als Tagelöhner.

In der „Kolchose“ arbeitet der Großteil der Bevölkerung. Eine andere Arbeit gibt es nicht / Foto © Alina Ampelonskaja

In einem der Nachbarhäuser geht ebenfalls eine Tür auf. Ein Mann gesellt sich zu uns, dann kommen noch weitere dazu – der eine wollte gerade etwas erledigen, ein anderer kommt gerade vom Angeln zurück. Auch die „Hundeschnauze“ rennt heraus – ein junger Rüde mit schwarzen Zotteln. „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“

„Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“ / Foto © Alina Ampelonskaja

Die Männer gehen in die Hocke und unterhalten sich da unten weiter. Ich bin unschlüssig: Soll ich mich auch so hinhocken? Ich bleibe lieber erst mal stehen.

„Noch mehr Journalisten, oder was?“

Vor dem Kulturzentrum hält ein Auto an, das keiner von den Männern kennt.
„Noch mehr Journalisten, oder was?“

„Wir sind ja jetzt berühmt. Ob Skabejewa wohl kommt?“ Er dreht sich zu mir: „Haben Sie gesehen, wie sie sich im Fernsehen aufgeregt haben über diese Brigade in der Ukraine? Weil die angeblich Edelweiß heißt, wie bei der Wehrmacht? Wissen Sie, wie der militär-patriotische Club hieß, in den Wanja [Rossomachin] gegangen ist? Edelweiß.“ Ich schaue später nach: Den Club gibt es immer noch. Eine staatliche Organisation, wohlgemerkt.

„Wie viele Menschen leben hier im Dorf?“ „Das Haus hier steht leer, das da auch, die hier kommen nur im Sommer … Vielleicht zweihundert? Die Alten sterben weg. Das haben die Menschen ja so an sich. Wir haben vier wichtige Dokumente im Leben: Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Scheidungsurkunde und Sterbeurkunde. So sieht’s aus. Wir sind hier die Jüngsten, auch wenn wir selber nicht mehr ganz frisch sind.“

Viele Häuser stehen leer, manche sind nur im Sommer bewohnt / Foto © Alina Ampelonskaja

Bei der Volkszählung 2010 hatte Nowy Burez knapp über 350 Einwohner. Die Charakterreferenz für Rossomachins Gerichtsverhandlung haben 150 Menschen unterschrieben – fast jeder im Dorf, wie mir die Bewohner erzählen.

„Das Leben ist ein Mysterium!“, sagt einer meiner Gesprächspartner. „Sie sollten sich mal mit Vytas unterhalten. Aber der war heute so besoffen, dass ihm sein Gebiss rausgefallen ist.“

Ein Taxi in die Stadt und zurück kostet 1500 Rubel – unbezahlbar

Vytautas Antanowitsch ist 80 Jahre alt. Er hat seinerzeit im Bergwerk in Workuta gearbeitet. In der Rente zog er gemeinsam mit seiner Frau zurück in ihr Heimatdorf Nowy Burez. Das gelb-grüne Holzhaus hat er selbst gebaut. Es hat mehrere große Zimmer, aber Vytautas verbringt die meiste Zeit in der ehemaligen Sommerküche. Mehr braucht er nicht, sagt er. Seine Frau ist nach langer Krankheit gestorben, sein Sohn ist ertrunken.

„Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas. Er sitzt auf dem Bett auf einer kratzigen Wolldecke. In der kleinen Küche ist alles in greifbarer Nähe: Vor ihm steht ein Tisch, direkt dahinter der Kühlschrank.

„Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas / Foto © Alina Ampelonskaja

Links neben Vytautas liegt ein Haufen Medikamente. Er hat eine ganze Reihe von Krankheiten, eine davon ist Krebs. Mein gestriger Bekannter Slawa setzt dem alten Mann Spritzen. Anders geht es nicht: Die Spritzen braucht er täglich, aber die Feldscherin ist an Covid gestorben. Jeden Tag in die Stadt zu fahren, wäre unbezahlbar: Ein Taxi kostet hin und zurück fast 1500 Rubel [etwa 17 Euro – dek]. 

Das gelb-grüne Holzhaus hat Vytautas selbst gebaut / Foto © Alina Ampelonskaja

Auf dem Staatssender Rossija 1 läuft eine Renovierungssendung. Die Moderatorin schwärmt, wie toll die Lounge-Ecke in der Moskauer Wohnung geworden ist.

In der Küche sind außer uns noch zwei Männer. Nennen wir sie Petja und Jura. Jura holt die Wurst aus dem halbleeren Kühlschrank. „Wo hast du denn die *** [geklaut]? Die gibt’s hier doch gar nicht zu kaufen!“ „Mitgebracht.“ „[Lüg] *** doch nicht!“ Vytautas und Jura beschimpfen einander ständig, aber ihre Augen sind gutmütig.

Petja ist jünger als ich. Er hält sich wie so viele mit Gelegenheitsjobs über Wasser: „In der Kolchose verdienst du zur Erntezeit als Traktorfahrer 20 bis 25 [Tausend; etwa 230 bis 285 Euro – dek]. Aber im Winter … Da kannst du nur Eier schaukeln, bekommst vielleicht grad mal die Hälfte rein.“

Das Zimmer ist verqualmt. Der alte Mann raucht Gestopfte mit Bauerntabak. Neben der Packung liegt eine Schachtel normale Zigaretten einer mir unbekannten Marke. Ich hole zwei Schachteln Parlament aus meinem Rucksack, die ich „zum Tee“ mitgebracht habe. „Oho!“, lacht Jura. „Hast du gesehen? Der Tageslohn einer Melkerin. Eine Packung ist für mich!“

Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wodka und zwei staubige Pinnchen. Eins ist für mich, wie sich zeigt. Als Vytautas noch fit war, brannte er seinen Schnaps selbst. Das Geschäft lief gut: In elf Tagen stellte er 12,5 Liter her. Pro Flasche nahm er 200 Rubel ein. Dieser Satz hat sich in Nowy Burez in den letzten Jahren übrigens nicht geändert. Nur Verkaufsstellen gibt es jetzt nur noch zwei anstatt vier. Wegen der Krise.

Wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen

„Jeder Mensch braucht doch irgendwas zu tun“, sagt Jura und schaut dabei rauchend aus dem Fenster. Viele von Vytautas' Nachbarn haben gesessen. Überhaupt kannst du in diesem Dorf mit einer Gefängnisstrafe niemanden groß beeindrucken.

Wir kommen schnell auf das Thema Tod zu sprechen. Einer ist unter die Traktorräder geraten, ein anderer hat sich aufgehängt. Manchmal lauert das düstere Ende, wo man es am wenigsten erwartet: Zum Beispiel in den Geschichten von Kunden der „Verkaufsstelle“, die gern anschreiben ließen. „Eine hat über viertausend zusammenkommen lassen. Als sie ihre Rente bekam, sollte sie bezahlen, kam hier an mit zitternden Händen. Ich sag zu ihr: ‚Wenn du zu geizig bist, darfst halt nicht trinken.‘ Hab ihr nichts mehr gegeben. Jetzt ist sie schon tot.“

Jura fällt Vytautas ins Wort. Er hat seine eigene Version der Geschichte: „Das hat doch nichts … Sie hat doch erzählt, dass ihre Neffen sie mit einer ganzen Horde *** [vergewaltigt] haben. Da war sie 80. Wir haben ihr gesagt, sie soll sie anzeigen, aber sie hatte Angst.“

Von diesen Gesprächen wird mir übel. Offenbar merken sie das, ich höre: „Ja, *** [richtig krass]. Da gab es doch diesen Kafka, der hat über so was geschrieben. Wenn der heute noch leben würde, der würde *** [sich wundern]. Der hätte *** [ganz schön viel] Material. Da brauchst du weder Reporter noch eine Zeitung. Nur die Chroniken von Nowy Burez.“

In der Dorfschule hat nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden im Nachbardorf unterrichtet / Foto © Alina Ampelonskaja

Von Vytautas' Haus bis zur ehemaligen Dorfschule ist es zu Fuß etwa eine Viertelstunde. Jetzt hat dort nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden in das [knapp 18 Kilometer entfernte] Dorf Srednjaja Toima gefahren. Seit ein paar Monaten funktioniert das [nach einer Unterbrechung] wieder: Man hat einen neuen Busfahrer gefunden. Der alte war in den ersten Tagen der Mobilmachung [im September 2022] einberufen worden. Die Kinder bekamen ihre Aufgaben per WhatsApp und mussten drei Mal die Woche mit dem Linienbus zur Schule fahren.

Der 24-jährige Kirill (Name v. d. Red. geändert) hat noch die hiesige Dorfschule besucht. Die neunte Klasse schloss er mit drei anderen ab (eine zehnte und elfte Klasse gab es nicht). Zwei von ihnen sind zum Arbeiten weggegangen: Alexej nach Moskau, ein anderer irgendwo in den Norden. Der dritte starb bei der Armee und kehrte im Sarg vom Wehrdienst zurück. Iwan Rossomachin war nur ein paar Jahre älter.

Meine nächste Station führt mich in den Laden, der gestern geschlossen war. Ich werde von Einheimischen begleitet. Verlaufen kann man sich zwar nicht, aber so ist es sicherer.

Vom Shampoo bis zur Bettwäsche – im Geschäft von Nowy Burez kann man alles kaufen / Foto © Alina Ampelonskaja

In Nowy Burez gibt es nur ein Geschäft, deshalb kann man dort alles kaufen: Lebensmittel, Shampoo und Waschmittel, Schulhefte und Bettwäsche. Die Nudeln werden gleich in Großpackungen zu 1,5 Kilo verkauft. Mitten im Raum steht ein Tisch. Vermutlich zum Einpacken der Einkäufe. Auf dem Tisch liegen zwei ausgedruckte Zettel: „Sehr geehrte Dorfbewohner, wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen. Annahme in der Verwaltung.“ „Interessenten für Beichte, Krankensalbung und Fürbitten melden sich bitte in der Verwaltung. Kosten: circa 500 Rubel plus eine Kerze. Bei mindestens zehn Interessenten kommt Vater Anatoli (in die Bibliothek).“

Das Bekleidungssortiment hängt an einer Stange beim Fenster. Das meiste sieht nach Frauenkleidung aus. Ein T-Shirt – 500 Rubel [etwa sechs Euro – dek], ein Hauskleid – 900 [etwa 10 Euro – dek]. Während ich das Angebot studiere, betritt ein Kunde den Laden, ein hagerer Typ mit Mütze. „Zwei Flaschen Wodka.“ „Ich hab dir doch gleich gesagt, du sollst mehr nehmen!“, lacht die Verkäuferin. „Ja ja …“

Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst

Ich sehe mir noch ein paar Minuten lang die Vitrinen an und gehe wieder raus. Meine neuen Bekannten streifen sich lachend Gummihandschuhe ab. Jeder hat nur einen an. „Hast du den Typen gesehen? Das ist Tolja (Name v. d. Red. geändert). Weißt du, warum wir Handschuhe anziehen? Er will einem immer die Hand geben, aber er bumst mit Schwangeren. Was guckst du so? Wirklich! Ist schon ein paar Mal vorgekommen in der Kolchose.“ „Warum denn Schwangere?“ „Na, sonst lässt ihn keine ran!“ Sie wiehern laut los.

Auch der örtliche Kindergarten ist geschlossen / Foto © Alina Ampelonskaja

Das Gebäude der Dorfverwaltung befindet sich zwischen dem Einkaufsladen und dem Kulturzentrum. Im Vergleich zum Nachbargebäude, dem ehemaligen Kindergarten, wirkt es äußerst gepflegt. Vor dem Eingang sind weiße, dreieckige Steinplatten im Rasen verlegt.

Die Bürgermeisterin von Nowy Burez zu treffen, entpuppt sich als die schwierigste Aufgabe. Weder geht Ljubow Wladimirowna ans Telefon, noch reagiert sie auf das Klopfen an der Tür. Zu Hilfe kommen mir ein paar Rentnerinnen, die zufällig da sind. Als ich mein Vorhaben erkläre, wählen sie gleich eine Nummer und überreichen mir das Handy – fast sofort geht jemand ran. „Ich kann Ihnen keine Auskunft geben“, wimmelt mich Ljubow Wladimirowna ab. Nichts zu machen. Ich sage: „Auf Wiederhören“ und gebe das Klapptelefon seiner Besitzerin zurück.

Im Vergleich zum benachbarten Kindergarten wirkt das Gebäude der Dorfverwaltung äußerst gepflegt / Foto © Alina Ampelonskaja

„Ob er sie wohl umgebracht hat? Wir waren früher jeden Tag spazieren. Jetzt haben wir Angst. Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst, wenn sie [aus dem Gefängnis] zurückkamen.“

Das Nächste, was ich höre war, dass er schon tot ist

Neue Informationen über den Mordfall gibt es nicht – nur die trockene Pressemitteilung der Mordkommission. Nach ihrer unerwarteten Auskunftsfreude vor Rossomachins Verhaftung schweigt die Polizei nun. Der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoshin, hat sein Bedauern angesichts des Vorfalls geäußert und geraten, sich an seine Organisation zu wenden, sollten ehemalige Häftlinge durch aggressives Verhalten auffallen: „Wir schicken unseren Werbungstrupp, der hakt sich bei ihm unter und bringt ihn schnurstracks an die Front.“

Gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor / Foto © Alina Ampelonskaja

Vor meiner Reise hatte ich mir vorgenommen, die Leute über Iwan auszufragen. Jetzt sehe ich, dass es keinen Sinn hat: gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor und keiner bittet mich herein.

Sweltlana und Jelena (Namen v. d. Red. geändert) stelle ich auch keine besonderen Fragen. Wir müssen in dieselbe Richtung, also laufen wir zusammen. Bereits nach wenigen Minuten klingelt Swetlanas Handy. Sie hebt ab und geht ein Stück weg. Als sie zurückkommt, will Jelena sofort wissen:
„Hat sie dir gesagt, du sollst schön den Mund halten?“ Pause. „Ja.“

Was wir besprochen hatten, war bestimmt streng geheim: Wie oft die beiden Freundinnen am Fluss spazieren gehen und welche Bücher sie zuletzt aus der Bücherei ausgeliehen haben.

Die Bürgermeisterin von Nowy Burez treffe ich doch noch. Aber ein Gespräch wird daraus nicht: Ljubow Wladimirowna will als Erstes wissen, ob ich eine Genehmigung habe, mich hier aufzuhalten, und droht mir, mich der Kreisverwaltung zu melden.

„Es läuft alles gut bei uns. Soziale Probleme sind unsere interne Angelegenheit. Hören Sie auf, hier herumzurennen und Sachen zu schreiben. Dörfer wie unseres gibt es hier noch und nöcher. Mit der gleichen Infrastruktur und sozialen Zusammensetzung, ohne Schule und Kindergarten. Sind wir etwa die Einzigen, die solche Probleme haben?“

Vor meiner Abreise klopfe ich an die Tür eines Hauses, das ich bisher gemieden habe. Hier wohnt die Mutter des zweiten Wagner-Söldners, ebenfalls Iwan. Auch er hat sich im Gefängnis anwerben lassen, nur dass Rossomachin noch zehn Jahre abzusitzen gehabt hätte, und Iwan weniger als eins. Sie waren fast gleich alt.

Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn für Wagner kämpfte / Foto © Alina Ampelonskaja

Die Tür macht eine müde aussehende Frau mit einer leisen Stimme auf. Sie bittet mich herein. Über dem Sofa hängt eine gerahmte Urkunde mit der Unterschrift von Leonid Passetschnik [dem Chef der selbsternannten LNRdek]: „Iwan Wladimirowitsch kämpfte für die Freiheit und Unabhängigkeit der Volksrepublik Luhansk. Er fiel nach mutigem und selbstlosem Kampf als Held auf dem Schlachtfeld.“

Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass Iwan einen Vertrag unterschrieben hatte. Sie habe es vom Enkelsohn ihrer Nachbarin erfahren, der ebenfalls eine Haftstrafe in der Strafkolonie in Rudnitschny absaß: „Er hat es mir gesagt, aber ich habe nicht kapiert, dass das wirklich wahr ist. Das Nächste, was ich hörte, war, dass er schon tot ist. Davor hat Iwan am Telefon zu ihm gesagt: ‚Mich braucht doch niemand, ich gehe.‘“

Am Kreuz auf Iwans Grab liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner / Foto © Alina Ampelonskaja

Iwan liegt hier in Nowy Burez begraben. „In den Birken“, wie die Einheimischen sagen. Iwans Grab liegt ganz am Rand, beim Zaun. Aber an seinem Kreuz liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner.

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Gerechtigkeit (Sprawedliwost)

Gegen die breite Ablehnung in der Bevölkerung und gegen die Stimmen aller anderen Parteien hat die Regierungspartei Einiges Russland am 19. Juli 2018 in der Staatsduma in erster Lesung eine Gesetzesänderung über die Erhöhung des Rentenalters befürwortet. 
In der Sache geht es um die Frage, ob das Rentenalter ab 2019 bis sukzessiv 2034 bei Frauen von 55 auf 63 Jahre und bei Männern von 60 auf 65 Jahre heraufgesetzt werden soll.1 Mehr als 80 Prozent der Bürger äußern sich entschieden gegen diese Pläne2, die sie als äußerst ungerecht empfinden. 
Gerade in der Klage über Ungerechtigkeit scheinen die in einer Gesellschaft geltenden Gerechtigkeitsvorstellungen auf. Und so werfen auch die Reaktionen auf die Erhöhung des Rentenalters ein Schlaglicht darauf, was in der russischen Bevölkerung als gerecht und was als ungerecht gilt.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Eine besonders starke Empörung ruft der Umstand hervor, dass die geplanten Reformen auf einer grundlegenden Ebene die Vorstellung von einem gerechten (Tausch-)Verhältnis zwischen Staat und Bürger verletzten. Dieses beruht auf der Idee, dass die Bürger für die Allgemeinheit Leistung erbringen und dafür eine Gegenleistung in Form von Lohn, gesellschaftlicher Anerkennung und Sicherheit im Alter erhalten.
Das Gefühl, es mit Ungerechtigkeit zu tun zu haben, wird unter anderem durch die Art und Weise, wie die Gesetzesreform in Gang gebracht wurde, zusätzlich verstärkt. Einerseits entstand der Eindruck, sie sollte im Schatten der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land unauffällig durchgewinkt werden, andererseits nährte dieser zeitliche Zusammenfall den Verdacht, dass mit der Rentenreform die enormen Kosten der Weltmeisterschaft kompensiert werden sollen. 

Verantwortlich für das zweifelhafte Vorgehen, das vielen als Betrug am Volk gilt, wird die bürokratische Elite gemacht, die traditionell immer der Korruption und des Egoismus verdächtig ist.

Der Bürokratie als Ursache für Ungerechtigkeit steht in der Wahrnehmung der „gerechte Herrscher“ als Hüter der Gerechtigkeit gegenüber. Eben nach diesem Muster hat sich Putin bisher aus der Debatte über die Rentenreform herausgehalten, um eventuell in einem späteren Stadium mit einer Abmilderung der Pläne auftreten zu können. Immerhin steht er im Wort, denn 2005 hat er sich klar gegen die Erhöhung des Rentenalters ausgesprochen.3

Soziale versus politische Gerechtigkeit

Hier nur kurz skizziert, scheinen in diesem Fall einige Besonderheiten des Gerechtigkeitsverständnisses in Russland auf. Zunächst ist auffällig, dass es meist Verletzungen der sozialen Gerechtigkeit sind, die von weiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommen werden und zu Protesten führen können. Moralische Gerechtigkeit als Anforderung an das politische Führungspersonal spielt eine wichtige Rolle, und auffällig ist die herausgehobene Stellung des Staatsführers als höchste gerechtigkeitsschaffende Instanz. 
Diese Prioritäten im Verständnis von Gerechtigkeit haben ihre Wurzeln in der politischen Ordnung der Sowjetunion, in der rechtsschaffende Institutionen schwach ausgeprägt und nicht unabhängig waren. Herrschaft durfte nicht in Frage gestellt werden und blieb immer stark personalisiert. Der soziale Status und das materielle Wohlergehen des Einzelnen in der Gesellschaft hingen ausschließlich von der Obrigkeit ab.4

Gleichzeitig bedeutet dies nicht, dass Prinzipien der politischen Gerechtigkeit (wie Gewissens- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Kontrolle der Macht) sowie der juridischen Gerechtigkeit (wie Forderung nach unabhängigen Rechtsorgangen und Gleichheit aller vor dem Gesetz) keine Rolle spielen würden. Alle russischen Reformer seit den Dekabristen waren diesen Ideen verpflichtet, und alle politischen Führungen bis heute sehen sich unter dem Zwang, diesen Forderungen wenigstens formal zu entsprechen.

In den verschiedensten konkreten politischen Situationen hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass im Zweifelsfall die soziale Gerechtigkeit gegen die politische ausgespielt wird. Der Mensch lebt zwar „nicht vom Brot allein“5, aber ohne Brot lässt sich auch nicht leben. 
Die Begründung der Ordnung unter Putin folgt dieser Logik, indem permanent der Zusammenbruch der Staatlichkeit in den 1990er Jahren als negatives Gegenbild zur Gegenwart beschworen wird. Es heißt, hätte Putin nicht Anfang der 2000er Jahre das Ruder herumgerissen, so gäbe es heute keinen Staat mehr und damit weder elementare persönliche noch jegliche soziale Sicherheit, die Gesellschaft wäre in einen Urzustand ohne Gerechtigkeit verfallen. Wo es nichts mehr gäbe, ließe sich auch nichts verteilen.
Angesichts dieser elementaren Bedrohung scheint die Sicherung der Ordnung die erste Aufgabe des „gerechten Herrschers“, und dem hat sich im Zweifel alles andere unterzuordnen. Bürger, die in dieser Situation die Einhaltung von Prinzipien politischer Gerechtigkeit einfordern, haben es schwer und sehen sich leicht dem Vorwurf ausgesetzt, die Gesellschaft spalten, den Staat schwächen und die Einheit zerstören zu wollen. Sicherheit ist an die Stelle von Gerechtigkeit getreten.6

Prawda – Wahrheit und Gerechtigkeit

Auch die Frage, ob sich nun das Verständnis von Gerechtigkeit in Russland von dem in Europa unterscheidet, führt letztlich zur Idealisierung von Einheit als idealem, gottgegebenen Zustand. Diese wurzelt in der engen Verbindung von kirchlicher und weltlicher Gewalt, einer harmonischen Einheit, der sogenannten „Symphonia“, die aus der byzantinischen Tradition ins Moskowiter Zarentum übernommen wurde. Die Vorstellungen von einer göttlichen Ordnung des Guten werden mit dem Begriff Prawda beschrieben, der „Wahrheit“ und zugleich „Gerechtigkeit“ bedeutet.7 Der andere Begriff für Gerechtigkeit, Sprawedliwost, bezieht sich ursprünglich eher auf die moralische Integrität des Individuums.8 Heute werden die Begriffe oft synonym benutzt, eine deutliche Abgrenzung der Semantiken fällt schwer. 
Es ist aber zu betonen, dass die doppelte Bedeutung des Worts Prawda als Wahrheit und Gerechtigkeit spätestens seit dem 19. Jahrhundert zum Merkmal der kulturellen Identität Russlands hochstilisiert wurde und bis heute dazu dient, ein spezifisches, russisches Verständnis von Gerechtigkeit zu konstatieren. Dazu gehört auch, dass der Gedanke der Gerechtigkeit kaum mit den Vorstellungen von einem autonomen Recht, von Gesetz, Rechtsgleichheit und Rechtsstaat in Verbindung gebracht wird. Auf dieser Grundlage lässt sich auf populistische Weise ein Gegensatz zum „Westen“ konstruieren, der vergeblich versuche mit dem Rechtsstaat Gerechtigkeit zu verwirklichen, während Russland schon aus Tradition über ein höheres Verständnis von Gerechtigkeit verfüge.

Derartigen Diskursen haftet Beliebigkeit an, oder sie folgen einer bestimmten Intention. Sehr viel greifbarer und „wahrer“ sind dagegen Forderungen nach Gerechtigkeit in konkreten gesellschaftlichen Konflikten. In den vergangenen Jahren waren es meist Verstöße gegen die soziale Gerechtigkeit, die vermochten, die Menschen zu Protesten zu mobilisieren; ob bei der Monetarisierung von Sozialleistungen oder dem Abriss von Plattenbauten, es kommt zu einer explosiven Situation, wenn den Bürgern etwas genommen werden soll, was ihnen verdienter- und damit gerechterweise zusteht. Kritisches Potential und Dynamik entstehen außerdem, wenn die Bürger den Eindruck gewinnen, von einer moralisch zweifelhaften Führung betrogen und für dumm verkauft zu werden. So provozierten allzu offensichtliche Wahlmanipulationen die landesweiten politischen Demonstrationen im Dezember 2011.


1Duma.gov.ru: Odobren v pervom čtenii proekt zakona o soveršenstvovanii pensionnoj sistemy
2.Levada.ru: Pensionnaja reforma
3.Am 27. September 2005 im Rahmen der alljährlichen im Fernsehen übertragenen Fragestunde Primaja linia.
4.vgl. Brewer, Aljona/Lenkewitz, Anna/Plaggenborg, Stefan (Hrsg., 2014): „Gerechte Herrschaft“ im Russland der Neuzeit: Dokumente, München
5.Bibelwort, hier: Bezug auf Titel eines bekannten Romans von Valdimir Dudincev, der in der sowjetischen Tauwetterperiode 1956 erschien und die Wirtschaftsbürokratie kritisierte.
6.vgl. Kuhr-Korolev, Corinna: Gerechtigkeit und Herrschaft. Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn 2015.
7.Der erste Gesetzeskodex der Kiewer Rus aus dem 11. Jahrhundert hieß Russkaja Prawda.
8.vgl. Haardt, Alexander u. a.: Kulturen der Gerechtigkeit: Normative Diskurse im Transfer zwischen Westeuropa und Russland, unveröffentlichter Antrag beim BMBF auf Förderung eines Verbundprojektes

 

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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