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Kanonenfutter: „Wenn sie sterben – umso besser“

Wie hoch sind die menschlichen Verluste auf Seiten Russlands? Offizielle Zahlen zu Gefallenen in der „Spezialoperation“, die in Russland von Gesetz wegen nicht als Krieg bezeichnet werden darf, werden seit März nicht mehr veröffentlicht. Doch Schätzungen zufolge sind etwa 80.000 russische Soldaten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verwundet oder getötet worden. In den Straßen größerer russischer Städte wirbt derweil das private Militärunternehmen TschWK Wagner mit Plakaten um neue Söldner. Einige Söldnertruppen bestehen laut Recherche der Novaya Gazeta Europe zu etwa einem Drittel aus verurteilten Straftätern und Vorbestraften, manche Rekrutierer versprechen den Bewerbern Straferlass.

Diese „verdeckte Mobilisierung“, so schreibt die Novaya Gazeta Europe, laufe auf vollen Touren. Die weiterhin im Land arbeitenden Korrespondenten der Zeitung haben dazu verdeckt recherchiert und auch mit Militärexperten gesprochen, um herauszufinden, wie die Rekrutierung funktioniert und welche Ausbildung die Söldner bekommen, bevor es an die Front geht. In ihrer umfangreichen Recherche gibt die Novaya detailliert Einblick in ein „zynisches und unmenschliches System“ der Söldneranwerbung in Russland.

Quelle Novaya Gazeta Europe

Achmat  

Alexander (Name geändert) hat ein Drittel seines Lebens hinter Gittern verbracht – aufgrund „schwerer Vergehen“ und „besonders schwerer Straftaten“. Dieses Mal fand er sich jedoch ein paar Monate nach seiner Entlassung aus der Haft in der Nähe der Stadt Rubishne in der Oblast Luhansk wieder, in den Reihen des Freiwilligenbataillons Achmat – und unter Beschuss der ukrainischen Armee. Sein „Diensteinsatz“ fiel auf März und April, als bei Sewerodonezk eine der blutigsten Schlachten des Krieges ausgetragen wurde. 

 „Dass sie Freiwillige suchen, wusste ich von einem Bekannten beim FSB. Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Irgendwann haben sich unsere Wege getrennt, aber nach meiner Entlassung schickte er mir einen Link: Hier, da suchen sie Freiwillige“, erzählt Alexander.

Nach seiner Entlassung aus der Strafkolonie wurde Alexander unter „administrative Kontrolle“ gestellt: Das ist ein System zur strengen Überwachung ehemaliger Häftlinge. Man kann ihnen zum Beispiel verbieten, nachts aus dem Haus zu gehen, die Region zu verlassen oder an Massenveranstaltungen teilzunehmen. Außerdem werden sie verpflichtet, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, und die Silowiki können sie ganz legal beschatten. Laut Alexanders Aussage hinderten ihn diese Auflagen daran, Arbeit zu finden und sich um seine betagte Mutter zu kümmern. Er beschloss also, in die tschetschenische Stadt Gudermes zu fahren – es hieß, man könne dort seine Probleme mit dem Gesetz lösen, wenn man im Gegenzug dafür in den Krieg zieht.

In Gudermes werden auf dem Gelände der Russischen Speznas-Universität die Freiwilligen des Achmat-Regiments für den Krieg in der Ukraine ausgebildet. Mit Kampferfahrung dauert die Express-Ausbildung ein bis drei Tage, ohne – sieben bis zehn. Die Anforderungen an die Kandidaten sind minimal: Sie müssen zwischen 20 und 49 Jahre alt sein und fit genug, um täglich mit Gepäck Fußmärsche von sieben Kilometern zu bewältigen.

„Mein Hauptmotiv für den Kriegseinsatz war es, nicht mehr überwacht zu werden, damit ich in Ruhe in diesem Land leben kann. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht, indem sie mir verboten, nachts rauszugehen, mir ständig Tagesarrest verpassen wollten und es mir unmöglich machten zu arbeiten“, sagt Alexander. Beim Achmat versicherte man ihm, dass „jedes Problem mit dem Staat lösbar“ sei – die tschetschenischen Behörden können dein Strafregister in Absprache mit den Silowiki in anderen Regionen löschen.

In Gudermes verbrachte unser Gesprächspartner zehn Tage. In der „Universität“ (eine private Organisation, die an den Achmat-Kadyrow-Fonds gekoppelt ist) lernt man, wie man ein Maschinengewehr hält und lädt, übt Schießpositionen sowie das schnelle Wechseln des Magazins und erfährt etwas über taktische Medizin und Kartografie. Außerdem werden die Rekruten auf ihr Aggressionspotential hin überprüft.

„Die Aggressivität wurde ganz praktisch gemessen – sie haben geguckt, wie sich jemand im Team verhält, wenn man ihn provoziert. Wenn sich einer als Weichei entpuppte, also als nicht kampftauglich, wurde er einfach nach Hause geschickt“, berichtet Alexander. Der Gesundheitszustand interessierte die Anwerber dabei kaum – unser Gesprächspartner wurde trotz Hepatitis C aufgenommen.

Zu den „Absolventen“ von Gudermes gehören Leute mit ganz unterschiedlichen Biografien: Söldner der Gruppe Wagner, OMON-Leute, ehemalige Häftlinge. Jeder Dritte war vorbestraft.

„Nach zehn Tagen wurden wir über die Donezker Volksrepublik nach Sewerodonezk geflogen. Jeder bekam 300.000 Rubel [im März/April 2022 rund 3000 Euro] und Tarnkleidung. Kampfstiefel und Schutzwesten mussten wir uns selbst kaufen. Wer das Geld sparen wollte, zog sie direkt von den Ukropy ab, wenn wir ihre Stellungen einnahmen.“

Laut unserem Interviewpartner hatten die Freiwilligentrupps während der Kämpfe um Sewerodonezk keine richtige Verbindung zu der regulären Armee. Dadurch sei es immer wieder zu „friendly fire“ und Unstimmigkeiten mit der Volksmiliz der DNR gekommen.

Um den 20. Mai marschierten die Achmatowzy in Rubishne ein. Zu diesem Zeitpunkt war von dem Regiment nur noch ein Drittel übrig. „Fast alle wurden getötet, ich selbst habe es durch ein Wunder aus der Kampfzone herausgeschafft. Es war, als würden sie uns einfach als Kanonenfutter da reinwerfen, bis zum letzten Mann“, erzählt der Ex-Söldner.

Alexander beschloss zu desertieren. Er nahm ein paar Granaten als Souvenir mit und tauchte in Russland unter. Um seine Geschichte zu erzählen, ruft uns Alexander nachts an, manchmal stark alkoholisiert – wegen der Folgen seiner Kriegsverletzungen kann er nicht schlafen, und weil er sich eigenmächtig vom Einsatzort entfernt hat, hat er Angst, zum Arzt zu gehen.

Nach dem Vorbild in Tschetschenien haben auch andere Regionen Bataillone gebildet 

Für das Achmat-Regiment, in dessen Reihen Alexander gekämpft hat, hatte Dimitri Kisseljow im Staatsfernsehen zur besten Sendezeit Werbung gemacht. Es hat in diesem Krieg berüchtigte Bekanntheit erlangt. Wegen der vielen inszenierten PR-Videos werden Kadyrows Kämpfer auch als „TikTok-Armee“ bezeichnet. Nach Aussage der ukrainischen Seite kämpfen ethnische Tschetschenen in der Regel in den hinteren Reihen der Angriffsbataillone. Nichtsdestotrotz soll vor allem das Achmat-Regiment an der brutalen Folterung ukrainischer Kriegsgefangener und dem Massaker an der Zivilbevölkerung in Butscha beteiligt gewesen sein.

Nach dem Vorbild Tschetscheniens haben auch andere Regionen begonnen, Bataillone zu bilden, die Eigennamen tragen und zwischen 150 und 400 Mann stark sind. Insgesamt haben wir 52 Bataillone in 33 Regionen gezählt, die bereits an der Front sind oder gerade gebildet werden. Ausgehend von dieser Zahl könnten so insgesamt 9500 bis 20.000 Mann rekrutiert werden.

„Diese Dinge entwickeln sich in Russland meist hybrid. Eine Region – in diesem Fall war es Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow – bietet ein Modell an. Daraufhin, auch um sich vor dem Kreml verdient zu machen, fangen Gouverneure in anderen Regionen an, dem Beispiel zu folgen. Genauso war es diesmal“, sagt Politologe Iwan Preobrashenski.

Der Kreml geht laut Preobrashenski davon aus, dass die Bataillone aus Häftlingen und sozialen Randgruppen bestehen, die als Kanonenfutter an der Frontlinie „utilisiert“ würden oder als „Hilfspolizisten“ auf den okkupierten Gebieten bleiben. Doch in Wirklichkeit berge die Situation das Risiko, dass es nach dem Krieg zu separatistischen Stimmungen kommt.

Parallel zum Staat werden die Freiwilligen auch von anderen Strukturen angeworben, die offensichtlich oder verdeckt mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung stehen. Wir haben über zehn verschiedene Organisationen gezählt, die miteinander um die Rekruten konkurrieren. Wir haben diese Einheiten nach formalen Merkmalen in verschiedene Gruppen unterteilt: Es gibt die, die direkt dem Verteidigungsministerium unterstellt sind und die, die einer privaten Militäreinheit oder gar den Strukturen der sogenannten LNR und DNR unterstehen. 

„Verdeckte Mobilisierung“: Söldner statt Soldaten

Die massenhafte Anwerbung von Söldnern und Freiwilligen ist Teil der sogenannten „verdeckten Mobilisierung“. Eine offizielle Zwangsmobilisierung kann der Staat aus politischen Gründen nicht ausrufen – das würde zu massenhafter Wehrdienstverweigerung, wachsender Korruption unter den Mitarbeitern der Musterungsbehörden und in der Folge zu massenhafter Unzufriedenheit unter den Bürgern führen, erklärt Militärexperte Juri Fjodorow.

Fjodorow geht davon aus, dass in der Ukraine bis zu 10.000 Söldner kämpfen. Das wären rund zehn Prozent des Gesamtkontingents der russischen Streitkräfte. Militärexperte Pawel Lusin schätzt die Zahl der Söldner und Freiwilligen in den verschiedenen „nicht-regulären“ Einheiten auf etwa 15.000 bis 20.000 Mann.

Der Staat verfolgt mit dem Anwerben von Söldnern drei Ziele, meint der Experte: „Kanonenfutter“ zu kumulieren, „überflüssige“ Personen loszuwerden, die theoretisch die Waffe gegen die Macht erheben könnten (wie z. B. die Primorskije Partisany, die 2010 Mitarbeiter des Innenministeriums angegriffen hatten), und ein Gegengewicht zu den Streitkräften zu bilden.

Die strengsten Aufnahmekriterien herrschen bei zwei Privateinheiten (Private Military Company, PMC): Redut und Wagner (obwohl Wagner wegen des zunehmenden Mangels an potentiellen Bewerbern seine Ansprüche allmählich herunterschraubt: Das maximale Alter wurde von 45 auf 52 angehoben, Wehrdienst geleistet zu haben ist keine Voraussetzung mehr, Vorstrafen werden in Kauf genommen). Beide PMCs stehen implizit in Verbindung zum Staat. Die Gruppe Wagner wird von Putins Vertrautem, dem Unternehmer Jewgeni Prigoshin finanziert, Redut wird mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung gebracht.

Kämpfer mit weniger Kampferfahrung wenden sich an die Freiwilligenunion des Donbass unter der Führung des Duma-Abgeordneten Alexander Borodai oder die Russische Legion des Ex-Nationalbolschewisten Sergej Fomtschenkow. Die Freiwilligen dieser Einheiten werden offiziell als Reservisten der Armeereserve des Landes registriert, dem BARS, der dem Verteidigungsministerium untersteht. Eigentlich sollen die Barsiki, wie sie genannt werden, auf den Blockposten eingesetzt werden und Konvois bewachen, also im Hinterland dienen. Aber faktisch landen diese Bataillone oft direkt an der Front.

Die Miliz-Einheiten der selbsternannten LNR und DNR schließlich nehmen so gut wie jeden „Bewerber“ auf. Allerdings verspricht man ihnen dort weder Geld noch Ausrüstung. Für den Dienst gibt es die russische Staatsbürgerschaft oder die der DNR.
„Der Kreml hat Angst vor der Armee, davor, dass ein neuer Shukow, ein neuer Lebed, Rochlin oder meinetwegen Troschew kommen könnten (Аlso bekannte, populäre Generäle, die zu einer eigenständigen politischen Macht werden könnten – Anm. d. Novaya Gazeta Europe). Die Fragmentierung der militärischen Macht ist ein charakteristischer Zug aller autoritären Regime“, so Pawel Lusin.

Die Freiwilligenunion des Donbass (SDD)

„Begreifen Sie überhaupt, wohin Sie da gehen? Was dort passieren kann? Haben Sie alle Risiken gut abgewogen?“

Wir rufen bei der Freiwilligenunion des Donbass (SDD) an. Unser „Freiwilliger“ ist 23 Jahre alt, er hat bereits gedient und will an die Front. Doch die Anwerberin Anastassija versucht überraschend, ihn davon abzuhalten.

„Das Mindestalter ist 23, ja, aber eigentlich wollen wir keine Kinder im Bataillon sehen“, sagt Anastassija. „Denken Sie an Ihre Mutter ...“
„Ich denke immer an meine Mutter.“

„Wie viele Kinder haben Sie?“, fragt die Anwerberin weiter.
„Keine.“
„Aber Russland braucht Kinder! Wir haben eine demografische Krise im Land! Vielleicht kümmern Sie sich lieber darum?“

Schließlich gibt sie aber nach. Die Freiwilligenunion des Donbass schließt mit den Freiwilligen offizielle Verträge des Verteidigungsministeriums. Die Mindestlaufzeit beträgt zwei Monate. Als Gehalt winken einem einfachen Soldaten 205.000 Rubel [heute 3400 Euro]  pro Monat, außerdem staatliche Zahlungen im Fall von Verwundung oder Tod. Wenn der Staat einen „fallen lässt“, heißt es, werde man helfen, das Versprochene „rauszuboxen“.

Militärexperte Pawel Lusin nimmt an, dass die Freiwilligenunion des Donbass an den FSB angegliedert ist. Aber faktisch werden die Freiwilligen in den Bataillonen der Reservearmee registriert. Das Verteidigungsministerium hatte bereits im Herbst 2021 angefangen, Reservisten zu rekrutieren.
„[Die Freiwilligen] sind meistens Leute über 40“, berichtet der Kommandeur des Bataillons Grom (BARS 20) Alexej Naliwaiko mit dem Rufnamen Ratibor.

Anforderungen an die Freiwilligen der BARS gibt es fast keine. In ihren Reihen kämpfen laut Ratibor auch Opas – ab 60 aufwärts. Für diese Infanterie-Bataillone sind weder Panzer, Kriegsgerät noch Artillerie vorgesehen, nur eine Mörsereinheit. Die Freiwilligen kämpfen nicht autonom wie 2014. In der Regel werden die Bataillone der BARS einer regulären Armeeeinheit angeschlossen und von professionellen Militärs kommandiert.

Von den Anwerbern, aber auch von den Söldnern selbst, werden die Barsiki offen als Kanonenfutter bezeichnet. Vielleicht hat uns Anastassija deshalb so nachdrücklich davon abgeraten, in das Bataillon einzutreten.

Einfacher kommt man nur noch in die Einheiten der selbsternannten Republiken – Sparta oder Pjatnaschka. Hier wird man mit ukrainischem, russischem Pass, den Pässen der LNR, DNR oder der ehemaligen Sowjetstaaten aufgenommen, unabhängig davon, welche Probleme oder Dokumente man hat. Dafür gibt es auch null Garantien.

Freiwillige müssen auf eigene Faust bis Donezk kommen. Auch die Ausrüstung bezahlen sie selbst. „Die Versorgung ist schlecht, für Schutzwesten und Helme gibt es Wartelisten“, heißt es ganz offen bei der Organisation Drugaja Rossija von Eduard Limonow, die Söldner für den Pjatnaschka-Bataillon rekrutiert. Das Kommando über die Einheit hat Achra Awidsba, Rufname Abchas.

„Offiziell läuft alles über die DNR. Das Geld kommt aus Donezk. Kann sein, dass es damit und mit den zugesicherten Garantien Probleme gibt, das will ich nicht leugnen. Besser, man klärt alle finanziellen Fragen selbst. Garantien bei Verwundung oder Tod gibt es keine.“

Ausgebildet werden die Freiwilligen innerhalb von zehn Tagen direkt in Donezk – „es ist halt Krieg.“ Laut Aussage von Experten sind es vor allem die schlecht ausgerüsteten Truppen der LNR und DNR, die die größten Verluste davontragen.

Söldner-Suche über soziale Netzwerke

Wir beschließen, die Einheiten, die in sozialen Netzwerken Freiwillige anwerben, abzutelefonieren und die Vertragsbedingungen herauszufinden. Unsere Basisgeschichte ist die: junger Mann von 27 Jahren, militärische Ausbildung – Schütze, Erfahrung als Vertragssoldat – zwei Jahre. Manchmal erwähnen wir noch eine offene Vorstrafe, um zu erfahren, ob man sie durch den Kriegseinsatz in der Ukraine „löschen“ kann.

In der Regel reicht diese Basisinformation aus, um unsere Fragen zu beantworten und eine Einladung zum Treffpunkt zu bekommen. Das kann ein Hotel, ein Truppenübungsplatz, ein Rathaus oder sogar ein Privathaus sein, wie beim Bataillon Weterany. Die Anwerber teilen uns mit, dass die Papiere der potentiellen Freiwilligen direkt vor Ort überprüft würden.

Die Anforderungen an die Kandidaten unterscheiden sich je nach Einheit. Die Kriterien sind Alter, Staatsbürgerschaft, Kampferfahrung und Vorstrafen. Dabei stehen die Headhunter oft in Konkurrenz zueinander und werben sich die Kandidaten gegenseitig ab.

Redut

Redut ist eine der größten inoffiziellen Formationen in diesem Krieg. Laut Berichten von Meduza waren es vor allem Redut-Truppen, die als erste PMC an der Front waren und am 24. Februar aus der LNR, DNR und Belarus in die Ukraine einmarschiert sind.

Unmittelbar hinter der PMC Redut stehen hochrangige Generäle des Verteidigungsministeriums. Darüber berichteten (damals hieß die PMC Redut noch Schtschit) die Novaya Gazeta, Meduza und Ura.ru. „Der Vertrag wird mit der PMC geschlossen. Aber wir unterstehen dem Verteidigungsministerium“, erklärt am Telefon Timofei Bormin, der Redut-Anwerber mit dem Rufnamen Kescha.

Das Gehalt bekommen die Redut-Kämpfer einmal im Monat ausgezahlt – bar auf die Hand, in Dollar. Bei Bedarf kann man sie gleich vor Ort umtauschen oder auf sein Konto überweisen. „Es gibt auch Kompensationen: Bei Verwundung 5000 bis 20.000 Dollar. Bei Grus 200 bis 60.000 Dollar“, sagt Kescha.

Zum Vergleich: Die offiziellen Zahlungen bei Verwundung oder Tod sind um ein Vielfaches höher. Armeeangehörige oder Kämpfer der Rosgwardija bekommen bis zu 6 Millionen Rubel [derzeit rund 100.000 Euro – dek], wenn sie verletzt sind, und die Angehörigen 12,5 Mio. Rubel [derzeit etwa 200.000 Euro – dek], wenn der Armeeangehörige stirbt.

Ein Teil der Ausrüstung (Kleidung, Schlafsack, Rucksack, Geschirr) kommt von Redut. Aber alles andere – Einsatz-, Schutzwesten und so weiter – bezahlen die Söldner selbst. In der Regel kostet sie das um die 700 Dollar.

Für den Staat ist es günstig, Söldner anzuheuern. Sie gehen nicht in die offizielle Verluststatistik ein (die seit Ende März nicht mehr aktualisiert wurde), viele von ihnen bekommen weder die staatlichen Auszahlungen im Todesfall noch eine kostenlose Reha, kostenlosen Wohnraum oder sonstige Vergünstigungen für Armeeangehörige.

Russitsch und Russische Reichslegion

Zuweilen kämpft man an der Front gegen die „Nazis“ paradoxerweise in rechtsextremen Einheiten. Freiwillige werden unter anderem auch von der Russischen Reichslegion und dem Bataillon Russitsch rekrutiert.

„Ich bin ein Nazi. Reiße auch mal die Hand hoch“, sagt Alexej Miltschakow im Interview mit dem Nationalisten Jegor Proswirnin.

Miltschakow, Kommandant von Russitsch, wurde 2011 für ein Video auf VKontakte bekannt, in dem er einen Welpen grausam tötet und dann isst. Im Grunde hat er nie einen Hehl aus seinen Ansichten gemacht. 

„Wenn du einen Menschen umbringst, spürst du: a) Jagdeifer (wer noch nie auf der Jagd war – versucht es mal) und b), dass es jetzt ein Problem weniger gibt“, brüstet er sich im selben Interview.  

Die Reichslegion wird faktisch von Denis Garijew angeführt. Das Motto der Bewegung ist: Gott. Zar. Nation. 

„Die angekündigte Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine sehen wir skeptisch. Für uns ist das ein Glaubenskrieg. Wenn wir diesen Krieg verlieren, wird die russisch-orthodoxe Kirche von Malorossija ausgelöscht. Das passiert schon. Die Kirchen werden bereits zu Unionen zusammengeschlossen. Es heißt schon, dass im Fall eines Sieges der Ukraine die russisch-orthodoxe Kirche ausgemerzt wird“, erklärt Denis Garijew in einem Video zur Mobilisierung seiner Anhänger. Als wir die Rekrutierer der Legion nach der Bezahlung fragen, kommt zurück, bei ihnen „geht es nicht um Geld“, und dann folgt Stille. 

Sowohl die Reichslegion als auch Russitsch waren von Anfang an am Krieg im Donbass beteiligt – seit 2014. In beiden Formationen ist Nationalität ein Aufnahmekriterium – es werden nur Russen genommen. Bei der Legion vor allem Orthodoxe und Kriegsveteranen. 

Die Heimat lässt dich im Stich, mein Sohn

Den Bedingungen der Freiwilligenrekrutierung nach zu urteilen, sieht der heutige Krieg nicht so aus, als hätten sich die Streitkräfte viele Jahre darauf vorbereitet. Situationen, in denen Grundwehrdiener, die gerade mal ein MG richtig halten können, ohne jede Vorbereitung an die Front geschickt werden, waren charakteristisch für die Verteidigung im Zweiten Weltkrieg und den im Chaos der 1990er beginnenden Ersten Tschetschenienkrieg. Die Freiwilligen sehen sich zudem häufig dazu gezwungen, sich auf eigene Kosten einzukleiden. Im Fall einer Verwundung bleiben die Entschädigungszahlungen oft aus, genauso wie das „Bestattungsgeld“ für die Familie. 

Ja, freiwillige Soldaten kommen in Militärspitäler. Ihnen wird Erste Hilfe geleistet. Aber Anspruch auf hochwertige Prothesen oder Rehabilitation haben sie aus staatlicher Sicht keinen. 

[Begünstigungen für Veteranen] sind Peanuts im Vergleich zu den sozialen Begünstigungen, die Berufsmilitärs zustehen. Diese müssen lange ausgebildet und mit Kleidung und Waffen ausgestattet werden. Sie gehen früh in Rente. Wenn sie fallen, beziehen ihre Familien eine Hinterbliebenenrente. Und die Kinder haben ohne Aufnahmeprüfung das Recht auf Hochschulbildung.

„Das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. Die Söldner haben keine Garantie auf solche sozialen Begünstigungen“, sagt Militärexperte Pawel Lusin. „In der Armee müssen sie diese Soldaten einkleiden und ernähren, sie mit Funkgeräten und Drohnen ausstatten. Viele Truppen – viele Veteranen. Aber hier rekrutiert man tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser.“

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Das russische Strafvollzugssystem

„Unser freundliches Konzentrationslager“ – so nennt Alexej Nawalny sein derzeitiges Zuhause, die Pokrowskaja-Kolonie. Mitte März 2021 wurde der Oppositionspolitiker in diese sogenannte Besserungsarbeitskolonie mit allgemeinem Regime (IK-2) verlegt. Die Kolonie liegt in der Oblast Wladimir, rund 100 Kilometer östlich von Moskau und ist die in Russland am häufigsten anzutreffende Art der Justizvollzugsanstalt. Mit einem Gefängnis westlichen Typs ist sie kaum vergleichbar – wie sich auch das gesamte russische Strafvollzugssystem grundlegend vom westlichen unterscheidet.

Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Rund 480.000 Menschen haben im März 2021 ihre Haftstrafe verbüßt. Im Jahr 2000 waren es noch etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner. 

Hinter dem System des Strafvollzugs steht in Russland der Föderale Strafvollzugsdienst FSIN (federalnaja slushba ispolnenija nakasani). Die Behörde begründet den massiven Rückgang der Insassenzahlen mit der zunehmenden Anwendung von Strafen ohne Freiheitsentzug: Hausarrest gehört etwa dazu oder Verbüßung der Strafe zu Hause bei regelmäßiger Meldung in der zuständigen strafrechtlichen Exekutivinspektion. Der FSIN führt außerdem auch eine allgemeine „Liberalisierung“ der Strafvollzugspolitik an1: Das, was früher mit einer Haft bestraft wurde, wird heute vermehrt mit Geldstrafen geahndet; vor allem die Anzahl der Freiheitsstrafen im Wirtschaftsstrafrecht ist dadurch zurückgegangen.2

Dies sowie der allgemeine Rückgang der Kriminalität haben dazu geführt, dass die russischen Strafvollzugsanstalten heute nur zu etwa 73 Prozent ausgelastet sind, der gesamteuropäische Durchschnitt liegt dagegen bei rund 90 Prozent.3

„Folterkolonien“

Eine gesunkene Auslastung der ehemals notorisch überfüllten Gefängnisse müsste sich eigentlich in besseren Haftbedingungen widerspiegeln. Doch Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese nach wie vor als menschenunwürdig.
Wegen massiver Korruption in russischen Haftanstalten können sich manche Häftlinge zwar tatsächlich besondere Privilegien von der Gefängnisleitung erkaufen, wie sie beispielsweise Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, beschreibt. Insgesamt sei das russische Gefängniswesen laut Romanowa aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.4 

Auch Oleg Senzow gab nach seiner Freilassung aus rund fünfjähriger Haft einen traurigen Einblick in die russische Gefängniswelt: Diese sei nur dazu geschaffen, um die Gefangenen zu entmenschlichen, so der ukrainische Regisseur. In manchen Anstalten herrschen laut Senzow menschenunwürdige Verhältnisse: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehörten dort faktisch zum System. 
Ähnliches wurde bereits mehrmals aus der Anstalt berichtet, in der Nawalny einsitzt. Als berüchtigte „Folterkolonie“ sorgte die IK-2 vor allem zu der Zeit für Schlagzeilen in unabhängigen Medien, als deren Abteilung für interne Verbrechensbekämpfung und Kriminalprävention noch von Roman Saakjan geleitet wurde. Dieser wechselte im Januar 2020 seinen Arbeitsplatz und wurde Leiter der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, ebenfalls in der Oblast Wladimir. Was er laut einem im März 2021 veröffentlichten Bericht des Insassen Iwan Fomin offenbar aus der IK-2 mitgebracht hatte, war für viele erschütternd: Systematische Folter und sexuelle Gewalt gehören in der IK-6 laut Fomin zur Tagesordnung, außerdem berichtete er über einen Mord an einem Mitinsassen, den der Gefängnisleiter Saakjan wohl abgesegnet hatte.

Das Ziel – Bestrafung statt Resozialisierung?

Oft heißt es: Während man im Westen auf Resozialisierung setze, sei das wichtigste Vollzugsziel in Russland die Bestrafung. Dabei ist die Resozialisierung der Verurteilten offiziell auch die Hauptaufgabe der russischen Strafvollzugsanstalten. Doch die Praxis ist vielschichtig und widersprüchlich.

Obwohl der Gesetzgeber vorsieht, dass die Häftlinge ihre Strafe in der Nähe ihres Wohnortes verbüßen sollen, um so ihre Resozialisierung zu erleichtern, verbringen sie die Strafe oftmals sehr weit weg von ihrem Zuhause und ihren Angehörigen. Auf diese Weise wird das Besuchsrecht de facto eingeschränkt. 

Bis heute gibt es kein einheitliches staatliches Resozialisierungsprogramm oder auch nur eine klare Vorstellung von staatlichen Resozialisierungsmaßnahmen. Die Resozialisierung wird vor allem von NGOs wie Rus Sidjaschtschaja übernommen. Diese erhalten nicht nur wenig bis keine staatliche Unterstützung, sondern werden zu allem Überdruss auch noch mit unzähligen bürokratischen Hürden konfrontiert.5 So wurde Rus Sidjaschtschaja aufgrund einer finanziellen Zuwendung der EU – es ging um den Aufbau juristischer Beratungszentren in einzelnen Regionen – zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.

Die Arbeit von NGOs wird zusätzlich von der weit verbreiteten Praxis der sogenannten Etappierung erschwert: eine Verlegungs- und Transport-Routine, die laut Rus Sidjaschtschaja keiner besonderen Logik und Logistik folgt.6 Der FSIN hält alle Informationen über die Verlegung von Häftlingen und deren späteren Haftort geheim, weswegen weder die Häftlinge noch deren nahe Verwandte oder Anwälte vor Beginn der Etappierung über das endgültige Ziel informiert werden. Die Strafgefangenen werden damit praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, teilweise bis zu einem Monat oder länger. Während der Überführung befinden sich die Häftlinge in überfüllten Spezialwaggons und Gefangenentransportern – sogenannten Stolypin-Waggons –, teils unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen: Bis zu 16 Menschen können laut Gesetz auf einer Fläche von dreieinhalb Quadratmetern zusammengepfercht werden, Bettwäsche und Matratzen werden nur selten zur Verfügung gestellt.

An Zwischenstationen werden die Häftlinge in Transitbereichen in Untersuchungshaftanstalten (SISO) untergebracht, wo sie manchmal wochenlang bleiben, bis sie wieder etappiert werden. Auf jeder Etappe dieses Transports findet in den Transitgefängnissen eine oftmals erniedrigende körperliche Untersuchung statt. Hinzu kommt, dass vermögende Häftlinge – die sogenannten kabantschiki – nicht selten systematisch auf Reisen geschickt werden, um sie auf jeder Etappe finanziell zu schröpfen. Der FSIN, so heißt es manchmal in diesem Zusammenhang sarkastisch, sei eben ein Konzern – ein gewinnorientiertes Unternehmen.

Archipel FSIN

Seit der Gulag-Epoche bleibt der Strafvollzug in Russland ein Staat im Staate: isoliert, unbarmherzig, entmenschlicht.7 Geschaffen wurde das System vor rund 100 Jahren, nur ein Mal wurde es seitdem laut Olga Romanowa reformiert – 1953, unter Lawrenti Berija.8 

Die Insassen werden in diesem System nicht als Menschen, sondern vielmehr als Arbeitsressource betrachtet. Wie der Gulag ist auch der FSIN ein geschlossenes System, das fast alle Daten über seine Wirtschaftstätigkeit geheim hält. Die wenigen vorhandenen Informationen stammen von Menschenrechtlern, die vor allem im europäischen Teil Russlands arbeiten.

Das Wirtschaftssystem umfasst unzählige Agrarbetriebe, Bauunternehmen und Fabriken. Die Insassen fertigen eine breite Palette von Produkten an. Im Jahr 2018 verfügte der FSIN mit umgerechnet 3,5 Milliarden Euro über das europaweit größte Gefängnisbudget. Zugleich hat Russland mit 2,40 Euro die niedrigsten täglichen Ausgaben pro Person9 – im europäischen Durchschnitt sind es 68,30 Euro pro Häftling und Tag. Laut Waleri Maximenko, stellvertretender Direktor des FSIN, wurden die Verpflegungskosten von 24 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 15 Milliarden Rubel im Jahr 2017 gekürzt.10 Damit kostet die Verpflegung pro Insasse und Tag rund 72 Rubel (damals umgerechnet etwa 1 Euro) – ein Betrag, der laut Maximenko die notwendige Menge an Kalorien deckt. Ein Grund für die geringen Verpflegungskosten besteht wohl darin, dass der FSIN nur einen Teil der Lebensmittel zukauft, der Großteil wird von den Kolonien in eigenen Nebenbetrieben selbst produziert. Grundsätzlich wird pro Häftling damit sogar weniger ausgegeben, denn de facto finanzieren sich die Gefangenen selbst, nicht selten verdient die Gefängnisleitung sogar an ihnen. 

Dies geschieht einerseits direkt, etwa dadurch, dass vom Arbeitslohn der Insassen Versorgungsleistungen der Strafkolonie abgezogen werden: In einem besonders krassen Fall bekam ein Insasse der IK-13 in Nishni Tagil laut Lohnabrechnung vom Juli 2015 1,99 Rubel (damals umgerechnet 0,03 Euro).11 Andererseits verdienen Gefängnismitarbeiter auch an kriminellen Machenschaften der Insassen: So wurde im Juli 2020 beispielsweise im landesweit bekannten Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe ein Call Center entdeckt, aus dem Betrugsanrufe getätigt wurden. Die Kosten der beschlagnahmten technischen Anlagen wurden dabei auf sieben Millionen Rubel beziffert (damals rund 82.000 Euro).12 Die bei der Razzia verhafteten FSIN-Mitarbeiter bilden womöglich nur die Spitze des Eisbergs: Olga Romanowa etwa ist überzeugt, dass die Verbindungen des FSIN zur organisierten Kriminalität mittlerweile schon zum System gehören.13 

Arten von Justizvollzugsanstalten

„Die Zone“, sona, so heißt in Russland dieser spezifische Ort der Haft mit seinem streng hierarchischen System und seinen Erniedrigungen. Insgesamt gibt es allerdings acht unterschiedliche Arten von Justizvollzugsanstalten, und nur rund 1300 (von insgesamt 480.000) Menschen sitzen in Gefängnissen ein. Die Gefängnisse sind nur für besonders schwere Verbrechen wie Terrorismus, Flugzeugentführungen oder etwa Geiselnahme vorgesehen. Genauso wie in sogenannten Spezialkolonien herrschen hier die strengsten Haftbedingungen. 

Am anderen Ende der Skala steht die sogenannte Ansiedlungsstrafkolonie, kolonija posselenije – so etwas wie offener Vollzug. In den Ansiedlungsstrafkolonien befinden sich 2021 rund 30.000 Menschen. 

Ersttäter verbüßen ihre Strafe häufig in den sogenannten Strafkolonien (isprawitelnaja kolonija) mit allgemeinem Regime. Die Unterschiede von diesen zu sogenannten Besserungsarbeitskolonien mit strengem Regime sind nicht allzu groß, sie betreffen vor allem die Anzahl der Besuche und Postpakete sowie der Höhe der Geldsummen, die die Insassen empfangen oder ausgeben dürfen. Es gibt insgesamt 670 Straf- und Besserungsarbeitskolonien in Russland, sie beherbergen rund 80 Prozent aller Häftlinge.

Die 209 Untersuchungshaftanstalten Russlands (SISO) dienen in erster Linie der Unterbringung von Beschuldigten. Rund 100.000 Menschen sitzen hier derzeit ein. 

Außerdem gibt es in Russland 18 Erziehungskolonien (wospitatelnaja kolonija), wo derzeit etwa 1000 Jugendliche ihre Strafen verbüßen. 

Frauen können zur Haft nur in Erziehungskolonien und Medizinischen Justizvollzugsanstalten (letschebnoje ispravitelnoje utschreshdenije) oder in Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Regime und in einer Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt werden. Im Februar 2021 waren rund 40.000 Frauen in Haft, den Frauenstrafkolonien sind 13 Kinderheime angeschlossen, in denen 330 Kinder leben.14

Selbstverwaltung und Disziplinierung 

Die Besonderheit des russischen Strafvollzugs ist: In den Straf- und Besserungskolonien gibt es keine Zellen. Die Häftlinge sind meistens in schlafsaalartigen Baracken mit Stockbetten untergebracht. Die Insassen werden in Gruppen eingeteilt, die gemeinsam leben. In diesen Gemeinschaftsunterkünften können sie sich frei bewegen und miteinander kommunizieren.

Das System der Gemeinschaftsunterkünfte wirkt sich auch auf die Organisation der Selbstverwaltung von Insassen aus. So gibt es formale Verwaltungspositionen, die von Insassen bekleidet werden, etwa die sogenannten sawchosy oder dnewalnyje. Diese agieren ähnlich wie Verwaltungsangestellte und genießen gegenüber einfachen Insassen bestimmte Privilegien.

Daneben gibt es Zonen, in denen die sogenannten Diebe im Gesetz (wory w sakone) einsitzen. Diese kriminellen Autoritäten etablieren nicht selten auch eine von den Justizbeamten unabhängige Selbstverwaltung von unten. Die Diebesgesetze der Berufskriminellen gelten für alle Insassen, die Justizbeamten lassen das traditionell zu und greifen dabei nur in den allerseltensten Fällen ein.

Die Informationsbeschaffung und Kontrolle durch die Justizwache erfolgt nicht selten über einzelne Häftlinge selbst, die als Augen und Ohren der Beamten agieren. Die Kontrolle gründet dabei auf einem Netz von Spitzeln und sehr harten Strafen – selbst für geringfügige Vergehen. Weil eben jeder jeden beobachtet, gelingt es auch einer sehr geringen Zahl an Beamten eine große Anzahl von Insassen zu überwachen.

Alexej Nawalny wurde in der Besserungskolonie IK-2 jedenfalls im sogenannten Sektor mit erhöhten Kontrollmaßnahmen A untergebracht, mit fünf weiteren Häftlingen. Da der Oppositionspolitiker als fluchtgefährdet eingestuft ist, wird er nachts zur Kontrolle einmal pro Stunde geweckt. Er darf weder Besuche noch Postsendungen empfangen. Da den Häftlingen das Gefühl vermittelt werden soll, dass sie stets unter Zeitdruck stünden, hat Nawalny für das Verfassen von Briefen an nahe Angehörige pro Woche lediglich 15 Minuten Zeit. Im März 2021 beklagte er in einem Brief, dass ihm auch eine angemessene ärztliche Behandlung seiner Rückenschmerzen verwehrt würde. Ende März trat er aus Protest gegen die schlechte medizinische Versorgung und gegen Folter durch Schlafentzug in den Hungerstreik.


1.Vedomosti: Čislo zaključennych v Rossii vpervye stalo men’še 0,5 mln. 
2.Oreškin, M.I./Suturin, M.A. (2019): K voprosu o liberalizacii ugolovnoj otvetstvennosti za prestuplenija v sfere ėkonomičeskoj dejatel’nosti, in: Ugolovnaja justicija 13/2019, S. 48–51 
3.Rossijskaja Gazeta: Tjurma uže ne mnogoljudna 
4.Romanova, Ol'ga (2016): Butyrka: Tjuremnaja tetrad', S. 6 
5.Obščestvennaja palata Rossijskoj Federacii: Neobchodim federal’nyj zakon, napravlennyj na resocializaciju byvšich zaključennych 
6.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
7.Die Ausführungen basieren auf einer Recherche des Magazins Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
8.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
9.rbc.ru: Sovet Evropy podsčital traty Rossii na zaključennogo v den’ 
10.Echo Moskvy: V kruge sveta 
11.Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
12.securitylab.ru: V SIZO "Matrosskaja tišina" obnaružen podpol'nyj koll centr 
13.republic.ru: Naši tjur'my stali bol'šim podrazdeleniem FSB 
14.Federal’naja služba ispolnenija nakazanij: Kratkaja charakteristika ugolovno-ispolnotel’noj sistemy Rossijskoj Federacii 
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