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Lieber tot als in Haft

Auf der Krankenstation der Strafkolonie Nr. 2 im Gebiet Krasnodar misst ein Arzt Fieber bei einem Häftling. Ein neues Gesetz erlaubt es, jederzeit Strafverfolgung oder Haft gegen einen Einsatz an der Front zu tauschen / Foto © Roman Sokolov/ Tass/ Imago 

Das Anwerben von Straffälligen für Russlands Krieg gegen die Ukraine ist innerhalb von zwei Jahren von einer Ausnahme zur Normalität geworden: 

Im Juli 2022 kursierten erstmals Aufnahmen davon, wie Jewgeni Prigoshin in russischen Straflagern Gefangene für seine irreguläre Wagner-Truppe anwarb. Zu diesem Zeitpunkt gab es dafür keinerlei rechtliche Grundlage – weder für eine Anwerbung von Häftlingen noch für deren Entlassung aus dem Strafvollzug. Per Geheimerlass verfügte Wladimir Putin persönlich die Begnadigungen von Verbrechern, die bereit waren, sich dem privaten Militärunternehmen Wagner anzuschließen. Gemäß informellen Vereinbarungen sollten die aus den Strafkolonien Freigekommenen sechs Monate in Sturmeinheiten dienen, bevor sie dann ihre volle Freiheit erhalten würden.  

Vom Herbst 2022 an begann auch das Verteidigungsministerium, Häftlinge für die reguläre russische Armee zu rekrutieren. Die Praxis weckte Erinnerungen an die berüchtigten Strafbataillone, die Stalin im Zweiten Weltkrieg aufstellen ließ. Ende des Jahres verlor Prigoshin sein informelles Recht, Häftlinge für Wagner anzuwerben; dieses Recht hatte jetzt nur noch das Verteidigungsministerium. 

Im Juni 2023 – ein Jahr nachdem die Anwerbung von Häftlingen für die Front faktisch begonnen hatte – verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das den ersten rechtlichen Rahmen schuf, um Verbrecher aus der Haft zu entlassen. In dem Gesetz gibt es die Bestimmung über eine „Entlassung auf Bewährung“ von Häftlingen, die einen Vertrag mit der russischen Armee geschlossen haben. Dasselbe Gesetz erlaubt es auch, Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, für den Krieg anzuwerben. Die Begnadigung von Personen, die in den Krieg ziehen, wurde beendet. Seither können Strafgefangene oder Beschuldigte nur dann von ihrer strafrechtlichen Verantwortung befreit werden, wenn sie eine Auszeichnung erhielten oder wegen einer Verwundung aus dem Dienst entlassen wurden; oder wenn die militärische Spezialoperation beendet ist. Damit gilt der Vertrag mit der Armee für die Häftlinge jetzt unbefristet. Sie werden nicht mehr nach sechs Monaten entlassen. Diese Neuerungen wurden später als Änderungen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung festgeschrieben. 

Seit September 2024 können Häftlinge in jeder Phase eines Strafprozesses in den Krieg ziehen, aus der Strafkolonie, nach der Urteilsverkündung, während der Ermittlungen, und jetzt auch direkt im Laufe des Gerichtsprozesses. Formal erfolgt eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung nur dann, wenn ein Vertragssoldat eine staatliche Auszeichnung erhielt oder den Vertrag aufgrund der Beendigung der Kriegshandlungen erfüllt hat. 

Faktisch werde damit eine Parallelstruktur zum regulären Rechtsweg geschaffen, urteilt die Novaya Gazeta Europe: In jedem beliebigen Stadium eines Strafverfahrens hat der Beschuldigte nun die Wahl, an die Front zu gehen – von der Festnahme bis zur Ankunft in einer Strafkolonie. 

Aus Gesprächen mit Polizisten, Anwälten, Beschuldigten und deren Angehörigen hat die Novaya Gazeta Europe den Eindruck gewonnen, dass diese Form der Anwerbung für die Streitkräfte inzwischen zu einer Routine geworden ist, mit der jeder konfrontiert sein kann, der ins Visier von Strafermittlungen gerät. Im folgenden Text schildern die Autoren, wie das Verfahren abläuft und wer davon profitiert. 

Die Namen der Personen in diesem Text wurden geändert, um sie nicht zu gefährden. 

Quelle Novaya Gazeta Europe

Dmitri sitzt seit sechs Monaten in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Er ist 36. In Freiheit machte er Musik und konnte sogar davon leben. Nebenbei verkaufte er Drogen, deswegen ist er hier. „Ich war auf meinem Gebiet recht erfolgreich. Aber ich ließ mich auf Drogen ein“, erzählt Dmitri. „Vieles, was man mir vorwirft, stimmt, aber ich habe nicht gedacht, dass es dafür so harte Strafen gibt“, sagt er. „Ich wurde wegen des Handels mit Drogen verurteilt, die in vielen Ländern legal sind. Ich habe gestanden, wurde aber trotzdem abgeurteilt als wäre ich ein Drogenbaron.“ 

Da Dmitri ein Geständnis ablegte, ging der Prozess schnell über die Bühne, endete aber mit einem harten Urteil. „Ich bekam zehn Jahre unter verschärften Bedingungen. Das finde ich ungerecht. Ich konnte das nur schwer verdauen und bin immer noch aufgewühlt“, berichtet er. Das ließ bei ihm den Gedanken aufkommen, in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. „Das allgemeine Gefühl der Machtlosigkeit wegen des harten Urteils brachte mich auf den Gedanken, dass das vielleicht keine schlechte Lösung wäre.“ 

Ende September 2024 verabschiedete die Staatsduma zwei weitere Gesetze, die Verbrechern die Möglichkeit eröffnen, einer strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium schließen und an die Front gehen. Die Verfasser dieser Gesetzesvorlagen sagen, dass damit lediglich eine Gesetzeslücke geschlossen werde: Wenn zuvor nur Leute an die Front gehen konnten, die bereits verurteilt sind und im Gefängnis ihre Strafe verbüßen, könnten jetzt Leute in jeder Phase der Strafverfolgung angeworben werden. Das wird ihnen sowohl von Polizisten sofort nach der Festnahme angeboten, als auch in Untersuchungshaft, bei Gericht, während der Ermittlungen und während des Prozesses. 

Die Praxis wirkte anfangs wie aus einem Actionfilm: Der Söldnerchef Jewgeni Prigoshin landete nachts mit einem Hubschrauber in den Strafkolonien und warb dort persönlich Häftlinge für die militärische Spezialoperation an, die schwere oder besonders schwere Taten verübt hatten, damit sie dann „als Helden zurückkehren“. Inzwischen ist daraus eine Routine geworden, die jeden erwartet, der in das russische System der Strafjustiz gerät. 

Die Rekrutierung 

Dmitri entschied sich, einen Antrag auf Entlassung an die Front zu stellen, nachdem er mit Zellengenossen gesprochen hatte. Die Idee, in den Krieg zu ziehen, taucht in der U-Haft sofort auf, wie aus dem Nichts. „Es ist inzwischen eine ganz gewöhnliche Sache: Sobald du ankommst, sollst du unbedingt einen Antrag beim Wehrersatzamt stellen, dass du bereit bist zu dienen“, beschreibt Dmitris Anwalt die Stimmung der Untersuchungshäftlinge. 

Als nächstes bekommen diejenigen, die ein Gesuch gestellt haben, Besuch von Männern in Uniform vom Wehrersatzamt. Sie landen dann diejenigen Häftling zum Gespräch, die einen Antrag gestellt haben, oder diejenigen, die über Kampferfahrung verfügen. Die Einberufung erfolgt nicht sofort; einigen Häftlingen wird aus verschiedenen Gründen ein Wechsel an die Front verweigert. „Viele meiner Zellengenossen schreiben jeden Monat an die Meldestelle in der Jablotschkow–Straße [die Moskauer Meldestelle für die Einberufung in die Armee – Novaya Gazeta Europe]; sie bitten um beschleunigte Bearbeitung ihres Antrags auf einen Vertrag“, sagt Dmitri. 

Eine fröhliche Winkfigur in Flecktarnkleidung wirbt an einer mobilen Rekrutierungsstelle in Weliki Nowgorod um Freiwillige für die Front / Foto © Pond5 Images, Imago 

Mit der Anwerbung befassen sich jetzt auch Mitarbeiter von Polizei und Justiz – von einfachen Polizisten bis hin zu Ermittlern. 

„Wir wurden etwa im März dieses Jahres angewiesen, Leute für den Krieg anzuwerben“, erzählte Alexej M. der Novaya Gazeta Europe. Er arbeitet als Fahnder in einer Polizeieinheit in der Leningrader Oblast. Im August berichtete der Telegram-Kanal Baza, dass Polizisten in einigen Regionen eine Prämie für jeden Festgenommenen ausgelobt wird, der einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben hat. Die Polizisten, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, haben solche Prämien zwar nicht erhalten; sie hatten jedoch andere Gründe, sich aktiv an der Anwerbung zu beteiligen.  

„Voraussetzung dafür, dass ein Festgenommener zur militärischen Spezialoperation geschickt wird, ist ein Geständnis. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die bereit sind, in die Ukraine zu gehen, die Aufklärungsquote erhöhen (Schließlich haben sie gestanden!)“, erzählt Alexander S., ein Mitarbeiter der Fahndung in der Hauptverwaltung des Innenministeriums für St. Petersburg ganz offen. 

„Für einfache Revierpolizisten, die ihren Dienst auf der Wache tun, ist diese Anordnung schlicht ein Geschenk des Himmels. Zunächst einmal aus dem Grund, dass es weniger Schreibkram gibt. Überhaupt wird die Arbeit weniger: Der Festgenommene unterschreibt ein Geständnis, schreibt einen Antragt auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation – und damit ist die Sache erledigt. Die Statistik verbessert sich, was gewisse Dividenden einbringt: Prämien, Vergünstigungen, Rangerhöhung außer der Reihe, Beförderung.“ 

Die Vorschrift, dass ein Schuldeingeständnis Voraussetzung ist, wird in der föderalen Gesetzgebung nicht erwähnt. Polizisten berichteten der Novaya Gazeta Europe, dass die Anweisung, Festgenommene für den Krieg in der Ukraine anzuwerben, in einer internen Dienstanweisung des Ministeriums verankert ist, den in den lokalen Polizeidirektionen kaum jemand je gesehen hat. 

An dieser Stelle kommen nun die Ermittler ins Spiel. Sie sind das Bindeglied im Strafprozess. Für sie ist es eigentlich ungünstig, wenn Verdächtige an die Front geschickt werden. „Ein Indikator für gute Ermittlungsarbeit ist eine Übergabe des Verfahrens ans Gericht. Wenn sich viele Beschuldigte jetzt in einem Frühen Stadium des Verfahrens an die Front melden, ruiniert das den Ermittlern die Statistik. Deshalb sind sie unzufrieden“, erklärt die Anwältin Jelisaweta. Die Strategie der Ermittler bestehe daher darin, den Moment hinauszuzögern, an dem die Beschuldigten einen Vertrag als Soldaten abschließen. „Bei Eingang eines entsprechenden Antrags versuchen die Ermittler, ihn möglichst auf die lange Bank zu schieben, um das Verfahren abschließen und ans Gericht übergeben zu können; alles Weitere ist dann Sache des Gerichts.“ 

„Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden“  

In einer VK-Gruppe zum Untersuchungsgefängnis Kresty gibt es einige Dutzend recht aktueller Posts und Kommentare, in denen Angehörige von Verhafteten schreiben, dass diese in den Krieg ziehen wollen. Neben Fragen zu Dokumenten und Kleidung interessiert die Nutzer zum Beispiel auch, wie man sich so scheiden lassen kann, dass die Ehefrau nichts davon erfährt. Denn im Falle einer Verwundung oder des Todes bekäme sie sonst die ganzen Entschädigungszahlungen. 

Jelena, eine Frau fortgeschrittenen Alters, berichtet, dass ihr Sohn Jewgeni gleich nach Verkündung des Urteils aus dem Untersuchungsgefängnis an die Front gefahren ist, noch bevor er in eine Strafkolonie verlegt wurde. Dort ist er in der zweiten Julihälfte gefallen. Jewgeni war ebenfalls wegen des „Drogenparagrafen“ 228 verurteilt worden; er hatte elf Jahre bekommen. 

„Er zog am 3. Juli los, ich konnte mich noch von ihm verabschieden“, erzählt Jelena. „Shenja [Jewgeni – dek.] hatte große Angst, dass er zu spät kommt und der Krieg ohne ihn zu Ende geht. Er war ein wunderbarer Sohn, aber diese verdammten Drogen… Als er elf Jahre bekam, sagte er, dass er in den Krieg zieht; dort habe er eine Chance, und das Gefängnis sei nichts für ihn. Er wusste nicht, der Gute, dass seine Chancen dort minimal sind!“  

Die Mutter des gefallenen Verurteilten erzählte, dass dieser im Krieg Kommandeur eines Zuges war, von dem „fast keiner mehr übrigblieb“. Trotz dieser Tatsache, und obwohl Jewgeni starb, ist seine Mutter von seiner Tat begeistert und sagt, dass ihr Sohn als Held starb: „Shenja dachte, dass er Glück haben würde. Natürlich haben wir ihm gesagt, dass es dort gefährlich ist, aber er hat sich anders entschieden. Er hat den Vertrag und ist gegangen. Jetzt werden alle genommen, Hauptsache ohne AIDS oder Syphilis. Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er starb als Held. Er wusste, wohin er geht. Ich muss ihn jetzt nur noch finden, damit ich ihn beerdigen kann. Da herrscht so ein Chaos auf dem Schlachtfeld, dass das schwer wird. Hoffen wir nur, dass er seine Erkennungsmarke noch bei sich hat!“ 

Eine andere Frau, Anastassija, hat im Krieg ihren Mann verloren, der ebenfalls nach Paragraf 228 verurteilt wurde. Er war zunächst in U-Haft geblieben, in einer Hauswirtschaftsbrigade. Dort kommt man eigentlich nur schwer rein, sie nehmen nur Häftlinge mit mustergültiger Führung, weil die Bedingungen dort besser sind als in der Strafkolonie. Der Gefallene war lediglich zu drei Jahren verurteilt worden, für den Besitz psychotroper Substanzen. Aber schon anderthalb Jahren nach dem Urteil unterschrieb er einen Vertrag, obwohl die Verwandten ihm abrieten. „Ich weiß nicht, ob sie unter Druck gesetzt wurden, aber er ist guten Mutes losgezogen! Er hat auf niemanden gehört!“, sagt seine Witwe. 

Angehörige von gefallenen Häftlingen behaupten oft, diese seien aus Patriotismus in den Krieg gezogen. Aber die Häftlinge, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, hatten unter ihren Zellengenossen keine sonderlich patriotischen Stimmungen festgestellt. „Ihre Einstellung zum Krieg ist so, wie es ihnen die Propaganda aufträgt. Sie wiederholen ihre Phrasen. Deshalb kann man mit ihnen gar nicht richtig diskutieren“, sagt Dmitri über die, mit denen er jetzt in Moskau in U-Haft sitzt. „Selbst die Ermittler ziehen sie auf: Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden.“ 

Viele sagen ehrlich: „Jetzt hab ich wenigstens die Chance, freizukommen. Und obendrauf gibt es noch Geld.“ 

Sogar Kriegsgegner lassen sich auf einen Deal ein 

Anwälte, die Beschuldigte in politischen Prozessen vertreten, berichten, dass selbst diejenigen über eine Teilnahme am Krieg nachdächten, die wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ in Haft sind. „Einer meiner Mandanten, der in einem Untersuchungsgefängnis in Sankt Petersburg einsitzt [wiederum aufgrund dieses Paragrafen 228], hat dermaßen den Kopf hängen lassen und die Haft so unglaublich schlecht vertragen, weil er überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Er wollte um jeden Preis raus, obwohl wenn er den Krieg total ablehnte“, erzählt Jelisaweta, die politische Gefangene verteidigt. „Es hat mich viel Geld und Nerven gekostet, um ihn von dieser tödlichen Entscheidung abzubringen.“ Letztendlich sei er doch nicht zur Armee gegangen. 

„Das war für mich eine Frage des Prinzips. Er wurde keiner schwerwiegenden Straftat beschuldigt und hätte wahrscheinlich noch nicht einmal eine Freiheitsstrafe bekommen. In so einer Situation wäre es sehr dumm gewesen, in den Krieg zu ziehen, selbst wenn man die moralische Seite außen vor lässt“, fasst die Verteidigerin zusammen. 

Sie erzählt, dass er im Untersuchungsgefängnis „einen derart tiefen Schock erlebte, und ihm in Gefangenschaft klar wurde, dass sein Leben gescheiter war“, dass er diesen Zustand um jeden Preis beenden wollte: „Egal was, nur nicht sitzen. Außerdem hatte er idealistische Vorstellungen von einem Vertrag mit der Armee. Als ob er dann als Feldarzt oder Koch davonkommen würde, obwohl er weder von Medizin etwas versteht noch vom Kochen“, erklärt sie weiter. 

Abgesehen davon, dass die Anwältin nach eigenem Bekunden „sehr spezifische“ Mandanten hat, und die Paragrafen, nach denen diese beschuldigt werden, nahelegen, dass sie den Krieg und eine Rolle als Vertragssoldat entschieden ablehnen, wollen in ihrem Umfeld alle – Zellengenossen wie Weggefährten – „um jeden Preis aus dem Gefängnis raus“. Ein anderer ihrer Mandanten sitzt im Untersuchungsgefängnis Kresty in Sankt Petersburg mit einem einzigen Zellengenossen zusammen. Der ist Jurist, ein intelligenter Mann. Ihm wird Betrug vorgeworfen, und auch er will an die Front. „Leute, die wegen bandenmäßiger Verbrechen beschuldigt werden (§ 210 des Strafgesetzbuches), müssen ein Gesuch an Alexander Bastrykin persönlich schreiben, den Chef des Ermittlungskomitees. Er muss darüber entscheiden, dass dieser Punkt fallengelassen wird. Solange dieser Anklagepunkt besteht, kann man kann keinen Vertrag abschließen. Nach Einschätzung dieses Mandanten wird das Gefängnis [nach Verabschiedung der Gesetzesreform] wohl verwaisen – alle werden den Dienst als Vertragssoldat wählen.“ 

Dmitri berichtet, dass das Untersuchungsgefängnis die Menschen schockiert und orientierungslos macht, dazu muss man noch nicht einmal gefoltert oder misshandelt werden. „Die U-Haft war von Anfang an ungewohnt, vor allem wegen der viele Leute in der Zelle. Die ständige Kontrolle und die Enge machen es unmöglich, sich zurückzuziehen und nachzudenken.“ 

Fast jeder Dritte wählt die Front 

Bei der Frage, wie viele der U-Häftlinge tatsächlich bereit sind, in den Krieg zu ziehen, weichen die Schätzungen der Polizisten ein wenig von den Angaben der Anwälte ab. „Es gibt keinerlei Statistik, doch meinem persönlichen Eindruck nach sind rund 30 Prozent der Häftlinge, die wegen schwerer oder besonders schwerer Taten sitzen, bereit, an die Front zu gehen. Und wenn die begangene Tat nicht besonders schwer war (also etwa Diebstahl, geringfügiger Betrug, Amtsanmaßung, oder sogar Raub, sofern er nicht gemeinschaftlich begangen wurde), dann lehnen die Beschuldigten meiner Erfahrung nach sofort ab“, sagt Alexander S. von der Fahndung in Sankt Petersburg. 

„Vor zwei Wochen hatte ich einen Beschuldigten, der betrunken bei einer Prügelei einen Saufkumpan erschlagen hat“, berichtete Sergej T., ein Fahnder aus Sankt Petersburg der Novaya Gazeta Europe. Da er schon zwei Haftstrafen auf dem Buckel hatte, drohte ihm fast lebenslänglich. Als er hörte, dass man ein „Geständnis“ ablegen und dann einen Antrag auf drei Jahre Kriegsdienst stellen könne [und dafür nicht ins Gefängnis muss], hat der sich riesig gefreut. Da er aber schon Erfahrung hatte (immerhin zwei Haftstrafen!), verlangte er, den Erlass zu sehen, demzufolge ihm seine Strafe für eine bestimmte Zeit Kriegsdienst in der Ukraine vollständig erlassen würde. Da ich ihm den Erlass nicht zeigen konnte, weigerte er sich zu gestehen. Er sagte, es sei wohl besser, in der Strafkolonie zu leben als in der Ukraine beim Sturm im ‚Fleischwolf‘ zu verrecken.“ 

„Mit reinem Gewissen zurück in die Freiheit“ – Inschrift am Ausgang der Strafkolonie Nr. 1 in Nertschinsk in der Region Transbaikalien / Foto © Yevgeny Yepanchitntsev, TASS, Imago 

Alexander S., der Polizist aus Sankt Petersburg, räumt ein, dass die neuen Regelungen der Regierung zur Anwerbung für den Krieg bei ihm ambivalente Gefühle auslösen: „Für den Krieg melden sich gerade diejenigen, gegen die handfeste Beweise vorliegen. Wenn sie auf diese Weise einer Strafe entgehen und sich dann auch noch mit dem ‚Kampf gegen die Nazis‘ brüsten, begehen sie später auf Fronturlaub zuhause oft richtig schwere Straftaten. Sie sind überzeugt, dass sie selbst dann, wenn sie geschnappt werden, der Strafe entgehen, wenn sie erneut einen Antrag auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation stellen." 

Dennoch überwiegt der potenzielle Nutzen in Gestalt einer guten Statistik, und bei den Einsatzkräften dominiert den Worten von Alexander zufolge das Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Insbesondere weil sie ja „faktisch keinen Straftäter freilassen, sondern diesen auf eine andere juristische Ebene überführen“. 

Nach Berechnungen von Verstka sind in zweieinhalb Jahren Krieg mindestens 500 russische Bürger Opfer von Menschen geworden, die an der militärischen Spezialoperation beteiligt waren. Aus der Untersuchung geht hervor, dass ehemalige Häftlinge öfter morden und öfter Straftaten gegen Frauen begehen.   

Nur die Angehörigen sind dagegen 

Die wohl einzigen Menschen, die sich heftig gegen die Entsendung der Beschuldigten in den Krieg wenden, sind deren Angehörige. 

„Sagen Sie Ihren Verwandten, dass sie da besser nicht hingehen sollen, dass das eine Einbahnstraße in den Tod ist. Wenn ihnen Lebenslänglich droht – meinetwegen. Aber alle anderen sollten besser ihre Strafe absitzen“, schreibt Alla Danilina in einer Gruppe für Angehörige von Häftlingen auf VK. „Ich habe versucht, das meinem Sohn auszureden; er hat von mir solche Flüche zu hören bekommen, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich so schimpfen kann“, antwortet Irina. 

„Mein Mann ist am 7. Juli zur Spezialoperation gegangen. Wir haben’s ihm nicht ausreden können; morgen ist die Beerdigung. Zwei Kinder hab‘ ich! Lasst das nicht zu!!!“ 

In den Kommentaren gibt es viele ähnliche Geschichten: „Ende Juni sind 30 Mann aus Jablonewka zum Einsatz in der Spezialoperation aufgebrochen. Am 29. oder 30. Juni waren nur noch zwei am Leben, und selbst die waren verwundet.“ Viele Angehörige, die die Novaya Gazeta Europe angeschrieben hat, berichteten, dass ihre Verwandten innerhalb von Monaten nach ihrer Entsendung in den Krieg umgekommen sind. 

Der Mann von Olga, die viel in der VK-Gruppe Kresty schreibt, war nach dem Urteil bereits in die Strafkolonie verlegt worden; er ist nicht in den Krieg gezogen. Aber ein enger Freund von ihm, mit dem sie sprach, der wollte da hin. „Er hat ‘ne lange Strafe, und niemand wartet draußen auf ihn. Einige dort werden moralisch unter Druck gesetzt. Natürlich nicht alle. Sie machen ihnen mit der Strafkolonie Angst. Jetzt hat er Kontakt zu seinen Eltern und seiner Freundin, bei der sein Kind lebt. Er wird wohl nicht gehen.“ 

Dmitri, der noch aus der U-Haft ein Gesuch geschrieben hatte, um an die Front zu kommen, hat sich in Bezug auf den Krieg dennoch umentschieden. „Ich will einfach leben und meine Familie wiedersehen. Über die Zukunft habe ich noch nicht nachgedacht.“ 

 

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Jewgeni Prigoshin

Dass er keines natürlichen Todes sterben wird, war für manche schon im Februar 2023 klar – rund vier Monate vor seiner Meuterei. Am 23. August wurde Wagner-Chef Prigoshin nach einem Flugzeugabsturz für tot erklärt.

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Das russische Strafvollzugssystem

„Unser freundliches Konzentrationslager“ – so nennt Alexej Nawalny sein derzeitiges Zuhause, die Pokrowskaja-Kolonie. Mitte März 2021 wurde der Oppositionspolitiker in diese sogenannte Besserungsarbeitskolonie mit allgemeinem Regime (IK-2) verlegt. Die Kolonie liegt in der Oblast Wladimir, rund 100 Kilometer östlich von Moskau und ist die in Russland am häufigsten anzutreffende Art der Justizvollzugsanstalt. Mit einem Gefängnis westlichen Typs ist sie kaum vergleichbar – wie sich auch das gesamte russische Strafvollzugssystem grundlegend vom westlichen unterscheidet.

Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Rund 480.000 Menschen haben im März 2021 ihre Haftstrafe verbüßt. Im Jahr 2000 waren es noch etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner. 

Hinter dem System des Strafvollzugs steht in Russland der Föderale Strafvollzugsdienst FSIN (federalnaja slushba ispolnenija nakasani). Die Behörde begründet den massiven Rückgang der Insassenzahlen mit der zunehmenden Anwendung von Strafen ohne Freiheitsentzug: Hausarrest gehört etwa dazu oder Verbüßung der Strafe zu Hause bei regelmäßiger Meldung in der zuständigen strafrechtlichen Exekutivinspektion. Der FSIN führt außerdem auch eine allgemeine „Liberalisierung“ der Strafvollzugspolitik an1: Das, was früher mit einer Haft bestraft wurde, wird heute vermehrt mit Geldstrafen geahndet; vor allem die Anzahl der Freiheitsstrafen im Wirtschaftsstrafrecht ist dadurch zurückgegangen.2

Dies sowie der allgemeine Rückgang der Kriminalität haben dazu geführt, dass die russischen Strafvollzugsanstalten heute nur zu etwa 73 Prozent ausgelastet sind, der gesamteuropäische Durchschnitt liegt dagegen bei rund 90 Prozent.3

„Folterkolonien“

Eine gesunkene Auslastung der ehemals notorisch überfüllten Gefängnisse müsste sich eigentlich in besseren Haftbedingungen widerspiegeln. Doch Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese nach wie vor als menschenunwürdig.
Wegen massiver Korruption in russischen Haftanstalten können sich manche Häftlinge zwar tatsächlich besondere Privilegien von der Gefängnisleitung erkaufen, wie sie beispielsweise Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, beschreibt. Insgesamt sei das russische Gefängniswesen laut Romanowa aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.4 

Auch Oleg Senzow gab nach seiner Freilassung aus rund fünfjähriger Haft einen traurigen Einblick in die russische Gefängniswelt: Diese sei nur dazu geschaffen, um die Gefangenen zu entmenschlichen, so der ukrainische Regisseur. In manchen Anstalten herrschen laut Senzow menschenunwürdige Verhältnisse: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehörten dort faktisch zum System. 
Ähnliches wurde bereits mehrmals aus der Anstalt berichtet, in der Nawalny einsitzt. Als berüchtigte „Folterkolonie“ sorgte die IK-2 vor allem zu der Zeit für Schlagzeilen in unabhängigen Medien, als deren Abteilung für interne Verbrechensbekämpfung und Kriminalprävention noch von Roman Saakjan geleitet wurde. Dieser wechselte im Januar 2020 seinen Arbeitsplatz und wurde Leiter der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, ebenfalls in der Oblast Wladimir. Was er laut einem im März 2021 veröffentlichten Bericht des Insassen Iwan Fomin offenbar aus der IK-2 mitgebracht hatte, war für viele erschütternd: Systematische Folter und sexuelle Gewalt gehören in der IK-6 laut Fomin zur Tagesordnung, außerdem berichtete er über einen Mord an einem Mitinsassen, den der Gefängnisleiter Saakjan wohl abgesegnet hatte.

Das Ziel – Bestrafung statt Resozialisierung?

Oft heißt es: Während man im Westen auf Resozialisierung setze, sei das wichtigste Vollzugsziel in Russland die Bestrafung. Dabei ist die Resozialisierung der Verurteilten offiziell auch die Hauptaufgabe der russischen Strafvollzugsanstalten. Doch die Praxis ist vielschichtig und widersprüchlich.

Obwohl der Gesetzgeber vorsieht, dass die Häftlinge ihre Strafe in der Nähe ihres Wohnortes verbüßen sollen, um so ihre Resozialisierung zu erleichtern, verbringen sie die Strafe oftmals sehr weit weg von ihrem Zuhause und ihren Angehörigen. Auf diese Weise wird das Besuchsrecht de facto eingeschränkt. 

Bis heute gibt es kein einheitliches staatliches Resozialisierungsprogramm oder auch nur eine klare Vorstellung von staatlichen Resozialisierungsmaßnahmen. Die Resozialisierung wird vor allem von NGOs wie Rus Sidjaschtschaja übernommen. Diese erhalten nicht nur wenig bis keine staatliche Unterstützung, sondern werden zu allem Überdruss auch noch mit unzähligen bürokratischen Hürden konfrontiert.5 So wurde Rus Sidjaschtschaja aufgrund einer finanziellen Zuwendung der EU – es ging um den Aufbau juristischer Beratungszentren in einzelnen Regionen – zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.

Die Arbeit von NGOs wird zusätzlich von der weit verbreiteten Praxis der sogenannten Etappierung erschwert: eine Verlegungs- und Transport-Routine, die laut Rus Sidjaschtschaja keiner besonderen Logik und Logistik folgt.6 Der FSIN hält alle Informationen über die Verlegung von Häftlingen und deren späteren Haftort geheim, weswegen weder die Häftlinge noch deren nahe Verwandte oder Anwälte vor Beginn der Etappierung über das endgültige Ziel informiert werden. Die Strafgefangenen werden damit praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, teilweise bis zu einem Monat oder länger. Während der Überführung befinden sich die Häftlinge in überfüllten Spezialwaggons und Gefangenentransportern – sogenannten Stolypin-Waggons –, teils unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen: Bis zu 16 Menschen können laut Gesetz auf einer Fläche von dreieinhalb Quadratmetern zusammengepfercht werden, Bettwäsche und Matratzen werden nur selten zur Verfügung gestellt.

An Zwischenstationen werden die Häftlinge in Transitbereichen in Untersuchungshaftanstalten (SISO) untergebracht, wo sie manchmal wochenlang bleiben, bis sie wieder etappiert werden. Auf jeder Etappe dieses Transports findet in den Transitgefängnissen eine oftmals erniedrigende körperliche Untersuchung statt. Hinzu kommt, dass vermögende Häftlinge – die sogenannten kabantschiki – nicht selten systematisch auf Reisen geschickt werden, um sie auf jeder Etappe finanziell zu schröpfen. Der FSIN, so heißt es manchmal in diesem Zusammenhang sarkastisch, sei eben ein Konzern – ein gewinnorientiertes Unternehmen.

Archipel FSIN

Seit der Gulag-Epoche bleibt der Strafvollzug in Russland ein Staat im Staate: isoliert, unbarmherzig, entmenschlicht.7 Geschaffen wurde das System vor rund 100 Jahren, nur ein Mal wurde es seitdem laut Olga Romanowa reformiert – 1953, unter Lawrenti Berija.8 

Die Insassen werden in diesem System nicht als Menschen, sondern vielmehr als Arbeitsressource betrachtet. Wie der Gulag ist auch der FSIN ein geschlossenes System, das fast alle Daten über seine Wirtschaftstätigkeit geheim hält. Die wenigen vorhandenen Informationen stammen von Menschenrechtlern, die vor allem im europäischen Teil Russlands arbeiten.

Das Wirtschaftssystem umfasst unzählige Agrarbetriebe, Bauunternehmen und Fabriken. Die Insassen fertigen eine breite Palette von Produkten an. Im Jahr 2018 verfügte der FSIN mit umgerechnet 3,5 Milliarden Euro über das europaweit größte Gefängnisbudget. Zugleich hat Russland mit 2,40 Euro die niedrigsten täglichen Ausgaben pro Person9 – im europäischen Durchschnitt sind es 68,30 Euro pro Häftling und Tag. Laut Waleri Maximenko, stellvertretender Direktor des FSIN, wurden die Verpflegungskosten von 24 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 15 Milliarden Rubel im Jahr 2017 gekürzt.10 Damit kostet die Verpflegung pro Insasse und Tag rund 72 Rubel (damals umgerechnet etwa 1 Euro) – ein Betrag, der laut Maximenko die notwendige Menge an Kalorien deckt. Ein Grund für die geringen Verpflegungskosten besteht wohl darin, dass der FSIN nur einen Teil der Lebensmittel zukauft, der Großteil wird von den Kolonien in eigenen Nebenbetrieben selbst produziert. Grundsätzlich wird pro Häftling damit sogar weniger ausgegeben, denn de facto finanzieren sich die Gefangenen selbst, nicht selten verdient die Gefängnisleitung sogar an ihnen. 

Dies geschieht einerseits direkt, etwa dadurch, dass vom Arbeitslohn der Insassen Versorgungsleistungen der Strafkolonie abgezogen werden: In einem besonders krassen Fall bekam ein Insasse der IK-13 in Nishni Tagil laut Lohnabrechnung vom Juli 2015 1,99 Rubel (damals umgerechnet 0,03 Euro).11 Andererseits verdienen Gefängnismitarbeiter auch an kriminellen Machenschaften der Insassen: So wurde im Juli 2020 beispielsweise im landesweit bekannten Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe ein Call Center entdeckt, aus dem Betrugsanrufe getätigt wurden. Die Kosten der beschlagnahmten technischen Anlagen wurden dabei auf sieben Millionen Rubel beziffert (damals rund 82.000 Euro).12 Die bei der Razzia verhafteten FSIN-Mitarbeiter bilden womöglich nur die Spitze des Eisbergs: Olga Romanowa etwa ist überzeugt, dass die Verbindungen des FSIN zur organisierten Kriminalität mittlerweile schon zum System gehören.13 

Arten von Justizvollzugsanstalten

„Die Zone“, sona, so heißt in Russland dieser spezifische Ort der Haft mit seinem streng hierarchischen System und seinen Erniedrigungen. Insgesamt gibt es allerdings acht unterschiedliche Arten von Justizvollzugsanstalten, und nur rund 1300 (von insgesamt 480.000) Menschen sitzen in Gefängnissen ein. Die Gefängnisse sind nur für besonders schwere Verbrechen wie Terrorismus, Flugzeugentführungen oder etwa Geiselnahme vorgesehen. Genauso wie in sogenannten Spezialkolonien herrschen hier die strengsten Haftbedingungen. 

Am anderen Ende der Skala steht die sogenannte Ansiedlungsstrafkolonie, kolonija posselenije – so etwas wie offener Vollzug. In den Ansiedlungsstrafkolonien befinden sich 2021 rund 30.000 Menschen. 

Ersttäter verbüßen ihre Strafe häufig in den sogenannten Strafkolonien (isprawitelnaja kolonija) mit allgemeinem Regime. Die Unterschiede von diesen zu sogenannten Besserungsarbeitskolonien mit strengem Regime sind nicht allzu groß, sie betreffen vor allem die Anzahl der Besuche und Postpakete sowie der Höhe der Geldsummen, die die Insassen empfangen oder ausgeben dürfen. Es gibt insgesamt 670 Straf- und Besserungsarbeitskolonien in Russland, sie beherbergen rund 80 Prozent aller Häftlinge.

Die 209 Untersuchungshaftanstalten Russlands (SISO) dienen in erster Linie der Unterbringung von Beschuldigten. Rund 100.000 Menschen sitzen hier derzeit ein. 

Außerdem gibt es in Russland 18 Erziehungskolonien (wospitatelnaja kolonija), wo derzeit etwa 1000 Jugendliche ihre Strafen verbüßen. 

Frauen können zur Haft nur in Erziehungskolonien und Medizinischen Justizvollzugsanstalten (letschebnoje ispravitelnoje utschreshdenije) oder in Besserungsarbeitskolonien mit allgemeinem Regime und in einer Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt werden. Im Februar 2021 waren rund 40.000 Frauen in Haft, den Frauenstrafkolonien sind 13 Kinderheime angeschlossen, in denen 330 Kinder leben.14

Selbstverwaltung und Disziplinierung 

Die Besonderheit des russischen Strafvollzugs ist: In den Straf- und Besserungskolonien gibt es keine Zellen. Die Häftlinge sind meistens in schlafsaalartigen Baracken mit Stockbetten untergebracht. Die Insassen werden in Gruppen eingeteilt, die gemeinsam leben. In diesen Gemeinschaftsunterkünften können sie sich frei bewegen und miteinander kommunizieren.

Das System der Gemeinschaftsunterkünfte wirkt sich auch auf die Organisation der Selbstverwaltung von Insassen aus. So gibt es formale Verwaltungspositionen, die von Insassen bekleidet werden, etwa die sogenannten sawchosy oder dnewalnyje. Diese agieren ähnlich wie Verwaltungsangestellte und genießen gegenüber einfachen Insassen bestimmte Privilegien.

Daneben gibt es Zonen, in denen die sogenannten Diebe im Gesetz (wory w sakone) einsitzen. Diese kriminellen Autoritäten etablieren nicht selten auch eine von den Justizbeamten unabhängige Selbstverwaltung von unten. Die Diebesgesetze der Berufskriminellen gelten für alle Insassen, die Justizbeamten lassen das traditionell zu und greifen dabei nur in den allerseltensten Fällen ein.

Die Informationsbeschaffung und Kontrolle durch die Justizwache erfolgt nicht selten über einzelne Häftlinge selbst, die als Augen und Ohren der Beamten agieren. Die Kontrolle gründet dabei auf einem Netz von Spitzeln und sehr harten Strafen – selbst für geringfügige Vergehen. Weil eben jeder jeden beobachtet, gelingt es auch einer sehr geringen Zahl an Beamten eine große Anzahl von Insassen zu überwachen.

Alexej Nawalny wurde in der Besserungskolonie IK-2 jedenfalls im sogenannten Sektor mit erhöhten Kontrollmaßnahmen A untergebracht, mit fünf weiteren Häftlingen. Da der Oppositionspolitiker als fluchtgefährdet eingestuft ist, wird er nachts zur Kontrolle einmal pro Stunde geweckt. Er darf weder Besuche noch Postsendungen empfangen. Da den Häftlingen das Gefühl vermittelt werden soll, dass sie stets unter Zeitdruck stünden, hat Nawalny für das Verfassen von Briefen an nahe Angehörige pro Woche lediglich 15 Minuten Zeit. Im März 2021 beklagte er in einem Brief, dass ihm auch eine angemessene ärztliche Behandlung seiner Rückenschmerzen verwehrt würde. Ende März trat er aus Protest gegen die schlechte medizinische Versorgung und gegen Folter durch Schlafentzug in den Hungerstreik.


1.Vedomosti: Čislo zaključennych v Rossii vpervye stalo men’še 0,5 mln. 
2.Oreškin, M.I./Suturin, M.A. (2019): K voprosu o liberalizacii ugolovnoj otvetstvennosti za prestuplenija v sfere ėkonomičeskoj dejatel’nosti, in: Ugolovnaja justicija 13/2019, S. 48–51 
3.Rossijskaja Gazeta: Tjurma uže ne mnogoljudna 
4.Romanova, Ol'ga (2016): Butyrka: Tjuremnaja tetrad', S. 6 
5.Obščestvennaja palata Rossijskoj Federacii: Neobchodim federal’nyj zakon, napravlennyj na resocializaciju byvšich zaključennych 
6.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
7.Die Ausführungen basieren auf einer Recherche des Magazins Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
8.currenttime.tv: Čto takoe "ėtap" v Rossii i v kakich uslovijach po nemu povezut Naval'nogo: Ob''jasnjaet Ol'ga Romanova 
9.rbc.ru: Sovet Evropy podsčital traty Rossii na zaključennogo v den’ 
10.Echo Moskvy: V kruge sveta 
11.Secretmag: Archipelag FSIN: Kak ustroena ėkonomika tjuremnoj sistemy Rossii 
12.securitylab.ru: V SIZO "Matrosskaja tišina" obnaružen podpol'nyj koll centr 
13.republic.ru: Naši tjur'my stali bol'šim podrazdeleniem FSB 
14.Federal’naja služba ispolnenija nakazanij: Kratkaja charakteristika ugolovno-ispolnotel’noj sistemy Rossijskoj Federacii 
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