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„Ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter”

Die Zustände in belarussischen Arbeitslagern und Gefängnissen beschreiben ehemalige Inhaftierte als unmenschlich. Politische Gefangene werden zusätzlich erniedrigt. Vor allem Frauen wird die Haft zur Qual gemacht, indem das Gefängnispersonal ihnen Tampons und Binden vorenthält. Mit ihrem wenigen Geld müssen sie sich beim Einkauf im Gefängnisladen entscheiden, ob sie dafür Lebensmittel kaufen, die helfen, die körperlich und psychisch belastende Haft zu überstehen, oder eben Menstruationsprodukte. 

Die Journalistin und Aktivistin Jewgenija Dolgaja hat im Exil die Initiative Politvyazynka gegründet, um auf die besondere Lage von weiblichen politischen Gefangenen in Belarus aufmerksam zu machen. Im Auftrag des russischen Online-Portals Meduza hat sie Berichte von Frauen über ihre Haft protokolliert. Dazu hat die unter Pseudonym arbeitende Fotografin Volya, die auch selbst Teil dieser Stimmen-Sammlung ist, beschriebene Vorfälle mit Videos und Fotos nachgestellt. 

Quelle Meduza

Die Untersuchungshaftanstalten: Waladarka, Akreszina, Shodino 

Seit den Protesten 2020 haben sich die Untersuchungsgefängnisse auf der Wolodarski- und der Okrestin-Straße sowie in der Kleinstadt Shodino im Gebiet Minsk einen besonderen Namen gemacht: Die Festgenommenen, die gegen Alexander Lukaschenko und die Wahlfälschung protestiert hatten, wurden dort geschlagen und gefoltert.  

Die Verfolgung Andersdenkender in Belarus dauert bis heute an. In Erwartung ihrer Gerichtsverhandlung oder in administrativer Kurzhaft leben die Menschen in diesen Gefängnissen ohne Matratze und Decke, ohne Zugang zu einer Dusche oder die Möglichkeit, Paketsendungen zu erhalten. Eine besondere Herausforderung ist das für Frauen während ihrer Monatsblutung. 

Jelena (Name geändert)  

Festgenommen im Jahr 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in den U-Haftanstalten Waladarka und Okrestina sowie im Frauenstraflager in Gomel.  

Als sie mich festnahmen, hatte ich meine Tage. Zuerst brachten sie mich nach Hause, es gab eine Durchsuchung, dann brachten sie mich zur GUBOPIK. Zuhause schaffte ich es, mich umzuziehen und ein paar Sachen einzupacken: drei Unterhosen, fünf Paar Socken – es war ja nicht das erste Mal, ich kenne die Geschichte [meines Landes]. Außerdem nahm ich eine Packung Damenbinden mit. Natürlich packte ich auch Zahnbürsten ein, die wurden mir aber sofort weggenommen. Die Bindenpackung gab ich nicht aus der Hand, verwahrte sie immer zusammen mit meinem Pass. Ich nahm sie überall mit hin: zum Verhör bei der GUBOPIK und dann zum Bezirksamt des Inneren. 

Dann brachten sie mich nach Okrestina. Dort nahmen sie mir alles ab. Aber die Binden drückte ich fest an meine Brust und sagte: „Das geht nicht, ich blute Ihnen sonst sie ganze Zelle voll, geben Sie sie mir.“ Sie gaben mir die Binden zurück, sie waren alles, was ich noch hatte. 

Nach dem Gerichtstermin brachten sie uns [die Häftlinge] zur Verbüßung der Administrativstrafe ins ZIP [Isolationszentrum für Straffällige - dek], in die Strafzelle. Dort gibt es absolut nichts, nicht einmal Toilettenpapier. Wir waren acht Frauen in der Zelle. Eine hatte eine 1,5-Liter-Plastikflasche mit Wasser dabei – das war unsere Rettung. Erst tranken wir alle daraus, dann benutzten wir sie für die anderen Bedürfnis, alle acht. Wasser gab es im Karzer, der Hahn kam einfach aus der Wand, ohne Waschbecken. Um es aufzufangen, stellten wir den Abfalleimer unter den Wasserhahn. Wir versuchten, uns mit diesem kalten Wasser zu waschen – es war eh schon alles egal. 

Durch die Panik wollte meine Periode gar nicht mehr aufhören. Irgendwann hatte ich nur noch fünf Binden übrig. Ich wusste, dass ich auf unbestimmte Zeit mit ihnen auskommen musste. Es war Februar und wir schliefen in der Strafzelle gestapelt auf dem Fußboden. Auf Beton. Wir merkten, wie uns langsam die Nieren abfroren. Wir teilten also diese letzten fünf Binden untereinander auf und klebten sie uns auf die Nieren – um wenigstens ein bisschen vor der Kälte geschützt zu sein [das hat sicher nicht geholfen]. Denn zusätzliche Kleidung hatten wie nicht, wir trugen bereits alle Kleidungsstücke, die wir besaßen – es war sehr kalt. So gingen also meine letzten Binden drauf.   

Manchmal kam eine Krankenschwester und wir sagten – alle acht Frauen im Chor – dass wir alle gerade unsere Tage hätten. Sie gab, glaube ich, [jeder von uns] eine Binde pro Tag aus. Wir sammelten alle und gaben sie denen, die sie gerade brauchten. Indem wir teilten, retteten wir uns gewissermaßen. 

 
Bei der Festnahme trugen die Silowiki Farbe auf die Kleidung der Protest-Teilnehmenden auf. Damit markierten sie diejenigen, die sich widersetzt hatten oder im Verdacht standen, Organisatoren zu sein. Blutflecken auf der Gefängniskleidung benutzten die Aufseherinnen ebenfalls als Möglichkeit, zu brandmarken und zu bestrafen, berichtet die Fotografin Volya, die ebenfalls in Kurzhaft saß.  

Olga Loiko  

Festgenommen im Mai 2021, saß bis März 2022 in U-Haft in der Waladarka. 

Im Laden des Untersuchungsgefängnisses gibt es Damenbinden, aber man kommt nicht regelmäßig dorthin, vielleicht einmal aller zwei Wochen, manchmal seltener. Die Auswahl ist sehr dürftig, mehrmals gab es nur Slipeinlagen. Aber auch sonst haben sie dort nur die dünnen Binden mit dem Zwei-Tropfen-Symbol. „Super“, „Night“ oder Tampons gibt es nur in Paketen von Angehörigen oder als Mitbringsel. Wer keine oder nur selten Päckchen bekommt, ist schlecht dran.  

Eine Zellengenossin [verurteilt wegen einer unpolitischen Sache] bekam von ihrer Mutter zu kleine Binden geschickt, was ihr sehr zu schaffen machte: Sie musste mehrere auf einmal einkleben und ging nicht mit zu den Spaziergängen – um nicht auszulaufen [und Blutflecken auf der Kleidung zu vermeiden]. 

Einige Male im Monat trank sie vor dem Schlafengehen Kaffee und versuchte, halb im Sitzen zu schlummern. Andere Frauen in der Zelle hatten genügend verschiedene Hygieneartikel, aber sie wollte nicht darum bitten: Sie war überzeugt, dass sie allein zurechtkommt. Als ich ging, überließ ich ihr einen großen Vorrat. Sie nahm ihn und sagte: „Das hebe ich für die Verhandlung auf.“ Da ist man [während der Fahrten zum Gericht] tagelang im Gefängniswagen und danach im Käfig im Gerichtssaal. Da lässt einen keiner häufiger als nötig zur Toilette. 

In diesen Positionen mussten Häftlinge auf Anweisung des Sicherheitspersonals während der Leibesvisitationen im Gefängnis stehen. 

Tatjana  

Festgenommen im Winter 2023, weil sie einen „extremistischen“ Instagram-Kanal abonniert hatte; saß im Minsker Isolationszentrum Okrestina. 

Nach der Festnahme wurde ich sofort zur Aufnahme des Protokolls ins Bezirksamt gebracht. Dort überredete ich eine Mitarbeiterin, mich zur Toilette zu bringen und mir eine Binde aus meinen persönlichen Sachen zu geben. Ich wusste, dass mich im besten Fall Kurzhaft, im schlimmsten Fall ein Strafverfahren erwartete. Ich bat die Mitarbeiter, mir noch eine Binde mitzugeben, bevor es nach Okrestina weiterging. Sie lehnten ab. Da geriet ich in Panik: Ich wusste, dass bald meine Periode einsetzen würde. 

Ich kam in Untersuchungshaft und am nächsten Tag gab mir das Gericht zehn Tage [Haft - dek]. In der Zelle waren acht Frauen. Eine von ihnen war obdachlos, sie hatte Läuse. Wir hatten weder Decken noch Matratzen. Die Verwandten konnten uns das Notwendigste nicht übergeben, wir hatten nur das, worin wir festgenommen worden waren. Ich trug ein schwarzes Blusenhemd, darunter ein weißes T-Shirt, und Jeans. 

Die Binde, die ich eingelegt hatte, trug ich schon länger als 24 Stunden. Als sie nutzlos geworden war, musste ich mich entscheiden: Entweder ich zerreiße mein T-Shirt und habe ein paar Stoffeinlagen, friere dann aber in der Bluse (in der Zelle war es kalt), oder ich laufe aus. Ich zerriss das T-Shirt. Meine Zellengenossinnen begriffen, was ich vorhatte, und halfen mir, es in Lappen zu zerteilen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl der Ohnmacht, als ich mein weißes Lieblings-T-Shirt zerriss, die Luke in der Tür sich öffnete und ein grinsender Mitarbeiter sagte: „Was machst du denn da?“  

Es half nicht viel, ich lief trotzdem aus.  

Ich bat um Binden, doch die Gefängnismitarbeiter sagten, das sei nicht vorgesehen. Ich fragte auch beim medizinischen Personal: Eine ältere Frau mit Locken kam und fragte, was los sei. Ich bat sie, wenigstens Watte zu bringen, aber sie hörte gar nicht hin. 

In der Zelle gab es keine Möglichkeit, sich richtig zu waschen: nur kaltes Wasser. Ein Lappen, der vom T-Shirt übriggeblieben war, war mein Duschschwamm. Ich tunkte ihn in Wasser und versuchte mich damit zu waschen. Als ich aus der Haft entlassen wurde, war meine Jeans hinten voll Blut. Ich ging und heulte, ich schämte mich. Mir kam es vor, als würden alle Gefängnismitarbeiter mit dem Finger auf mich zeigen und lachen.  

Olga (Name geändert)  

Zweimal festgenommen während der Proteste – 2020 und 2021. Beide Male saß sie im Gefängnis Okrestina. 

Im August 2020 gab es in Okrestina gar nichts [an Hygieneartikeln]. Man durfte auch nichts mitbringen, nicht einmal Zahnpasta. Wenigstens gab es Toilettenpapier – es war von den Vorgängerinnen übriggeblieben. Das war alles, was man für die Periode hatte. Ich hatte Glück: Während der Zeit dort bekam ich meine Tage nicht. Die Frauen, die sie hatten, nahmen Toilettenpapier, aber trotzdem lief das Blut an den Beinen herunter, ohne dass man duschen gehen konnte. 

Die Frauen zerrissen ihre Kleidungsstücke, was sie eben hatten. Zum Beispiel ein T-Shirt, wenn sie noch eine zusätzliches Stück Oberbekleidung hatten. Daraus machten sie dann so etwas wie Einlagen. Diese mussten dann auch gewaschen werden, in der Zelle war es heiß, über 40 Grad, und Wäsche trocknete recht schnell. Bei den Aufsehern konnte man um nichts bitten. Einer Frau mit Diabetes wurde sogar ihr Medikament verweigert. 

Ein Jahr später, 2021, musste ich noch einmal in Kurzhaft [in Okrestina]. Da mussten wir auch sparen: Wir bekamen eine Binde bei der medizinischen Visite, aber die fand nicht täglich statt. Wir taten also immer alle so, als hätten wir gerade unsere Periode, um wenigstens ein bisschen was zu bekommen. Aber auch das war nicht genug. Damals gab es schon keine Pakete von außen mehr, an Binden war kein Rankommen. Jeden Tag wurde die Zelle gefilzt, da gab es einen Mann [einen Mitarbeiter der Strafvollzugsbehörde], der in unseren Schränkchen wühlte und auch einen Tampon weggenommen hätte. Stellt euch das mal vor: Du brauchst etwas so dringend, ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter, aber für ihn ist das ein Spaß. Er klaut es einfach, wozu auch immer. 

Die Straflager: Gomel und Saretschje 

In Belarus gibt es zwei Straflager für Frauen. Dort sitzen mindestens 111 belarussische politische Gefangene und hunderte Frauen, die aus nichtpolitischen Gründen verurteilt wurden, ihre Freiheitsstrafen ab. Das größere der beiden Lager ist in Gomel, dorthin kommen alle Frauen, die zum ersten Mal verurteilt werden. Dort sitzt auch Maria Kolesnikowa, eine der Anführerinnen der belarussischen Opposition. Sie verbüßt eine elfjährige Freiheitsstrafe in einer Einzelzelle. Bis Mitte November, als sie endlich ihren Vater treffen durfte, gab es mehr als 18 Monate lang keine Nachricht von ihr. Frauen, die zum zweiten Mal verurteilt werden – angebliche „Gewohnheitstäterinnen“ – kommen in das kleinere Straflager in der Siedlung Saretschje im Gebiet Gomel. 

Ein Vergehen, das in den belarussischen Straflagern sehr weit verbreitet ist, ist der Verstoß gegen eine Regel der Lagerordnung, die als „Enteignung und Aneignung“ bezeichnet wird. Demnach dürfen die Gefangenen nichts miteinander teilen. Das Verbot bezieht sich auf alles, sogar Essen und Hygieneartikel. Für einen Verstoß gegen diese Regel können die Gefangenen in eine Strafisolationszelle gesteckt werden oder die Erlaubnis verlieren, Pakete zu erhalten, zu telefonieren oder Angehörige zu treffen.  

Nahezu alle politischen Gefangenen müssen ohnehin auf diese Möglichkeiten verzichten: Viele von ihnen wurden von den belarussischen Machthabern zu „Extremisten“ erklärt. Im Frauenstraflager fallen die „Extremistinnen“ unter die Kategorie der Gewaltverbrecherinnen. Sie tragen Uniformen mit Aufnähern in Form eines gelben Dreiecks. 

Die Lagerverwaltung kann den „Gewaltverbrecherinnen“ nach eigenem Ermessen Anrufe und Pakete untersagen, ebenso die Einkaufsmöglichkeit im Gefängnisladen limitieren. Diese Begrenzung kann bei ein oder zwei Basiseinheiten liegen [eine Basiseinheit beträgt aktuell 40 Belarussische Rubel, das sind etwa 11 Euro - Meduza/dek]. Für diesen Betrag muss die politische Gefangene dann Toilettenpapier, Binden und Tampons kaufen – und Lebensmittel, wenn sie keine Pakete erhält.  

Alena  

Verurteilt im Herbst 2022 wegen der Teilnahme an Protestaktionen, verbrachte zwei Jahre in Gefangenschaft, unter anderem im Frauenstraflager Gomel. 

Der Arbeitslohn im Straflager liegt zwischen 2 und 20 Belarussischen Rubeln im Monat [entspricht aktuell 0,58 – 5,80 Euro - dek]. Die Eine kauft sich dafür einen Quarkriegel oder einen Jogurt, die Andere einen Apfel, um sich wenigstens eine kleine Freude zu bereiten. Man hat so einen Appetit auf Obst und Gemüse! Die Möglichkeit, Päckchen zu erhalten, durch die man ohne den Einkauf im Gefängnisladen auskommt, steht auf sehr wackeligen Füßen. Gegen politische Gefangene kann ohne nachvollziehbaren Grund Meldung gemacht werden – und schon wird die Paket-Erlaubnis entzogen. 

Im Straflager darf man einmal im Monat eine Hygienebestellung aufgeben: ein Stück Kernseife, ein Stück Toilettenseife, eine Rolle vom billigsten Toilettenpapier, eine Packung Damenbinden. Das Toilettenpapier ist von so schlechter Qualität, dass es förmlich zwischen den Fingern zerfällt. Wenn diese Artikel aufgebraucht sind, behilft sich jede, wie sie eben kann. Die Eine stiehlt bei anderen, die Andere riecht schlichtweg nach Urin. Wieder andere bringen heimlich Stoffstücke aus der Nähwerkstatt mit.  

Was Frauen in Straflagern und Gefängnissen als Monatsbinden verwenden: Kleidung, Stoffreste, Schnittmuster aus der Textilfabrik, Papier, Wattepads, Brot, Zellophan. 

Anna (Name geändert)  

Festgenommen im Herbst 2022, verurteilt wegen der Teilnahme an den Protesten, freigelassen im Frühling 2024. 

Den Frauen reicht nicht, was pro Monat an Hygieneartikeln verteilt wird. In meiner Einheit verschwanden ständig Socken vom Wäscheständer. Ich verstand nicht, woran das lag. Erst später erfuhr ich, dass die Häftlinge sie stehlen, die keine Hilfe von außen mehr bekommen – hauptsächlich Frauen, die schon lange einsitzen. Sie benutzen diese schwarzen Socken als Binden. Socken und Stoffreste, die sie aus der Textilfabrik mitnehmen, all das benutzen sie als Binden. Ich war entsetzt, als ich zum ersten Mal sah, dass in der Toilette der Werkshalle ständig blutige Stofffetzen liegen.  

Die politischen Häftlinge haben es damit ein bisschen leichter, weil sie, auch wenn es nicht erlaubt ist, untereinander teilen. Aber im Allgemeinen ist die hygienische Situation furchtbar. Eine endlose Erniedrigung. Im Straflager ist einmal pro Woche Duschzeit, gründlich waschen kann man sich nicht. Gut ist schon, wenn man sich über der Toilette in der Zelle mit einer Wasserflasche waschen kann. Stell dir das mal vor: Du wäschst dich über der Toilette und um dich herum sind überall Menschen. Daran muss man sich erstmal gewöhnen. 

Darja Afanassjewa  

Belarussische Feministin und Aktivistin, die sich für Frauenrechte und die LGBTQ-Community in Belarus einsetzt. Festgenommen 2021 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2024. Saß im Frauenstraflager in Gomel.  

Im Straflager hatte ich zum ersten Mal Menstruationsschmerzen. Vorher war mein Zyklus immer regelmäßig, die Blutung dauerte drei Tage und ich hatte keinerlei Beschwerden. Mit Beginn meines Lebens in Unfreiheit kam die Regel nicht mehr regelmäßig: Es konnte eine mehrmonatige Pause geben, danach zwei Wochen ununterbrochene Blutung. Der erste und der letzte Tag waren immer sehr schmerzhaft. Ich weiß noch, dass ich mich bei der Zellenkontrolle nicht gerade hinstellen konnte, solche Bauchschmerzen hatte ich. 

Dann gehst du zur sogenannten „Ausgabe“, einem Fenster, wo Tabletten ausgegeben werden. Du sagst, du hast deine Tage und bittest um Schmerzmittel. Das wird abgelehnt, weil du dafür ein Rezept vom Arzt brauchst, für dessen Sprechstunde du dich aber eine Woche vorher anmelden musst. Der Arzt überweist dich an den Gynäkologen, bei dem man sich wieder eine Woche vorher anmelden muss. Die Lagerangestellten wissen das alles. Du stehst also da, die Bauchschmerzen bringen dich fast um, du siehst vor dir diese Tabletten, die du aber nicht bekommen kannst. Zudem wirst du wegen der Schmerzen auch nicht von deinen Diensten (zum Beispiel Putzdienst), dem Abladen von angelieferten Kartoffelsäcken oder dem Reinigen des Außengeländes freigestellt. 

Einmal bekam ich meine Periode – und draußen schneite es. Im Straflager ist Schnee verboten: Alles muss bis auf den Asphalt weggeschippt werden. Also schippte auch ich nach dem Frühstück mehrere Stunden lang Schnee. Nachdem ich schon eine Weile Schnee in Säcken herumgeschleppt hatte, merkte ich, dass der Schmerz mich umbringt, dass ich bereits auslaufe, aber ich habe nur einen Rock, wenn da Blutflecken draufkommen, muss ich Zeit finden, sie noch vor der Arbeitsschicht auszuwaschen [um keinen Verweis zu bekommen]. 

 
Wie improvisiert man Binden mit verfügbaren Mitteln? Eine Rekonstruktion. Aus der Erzählung der politischen Gefangenen Nadeshda für das Projekt Politvyazynka: „Als ich nach Okrestina kam, gaben sie mir keine Binden. Schließlich machte ich mir selbst welche – aus Zellophan und Brot, eingewickelt in Toilettenpapier“. 

Maria (Name geändert)  

Saß von 2019 bis 2021 im Frauenstraflager in Gomel, verurteilt wegen Drogenbesitz. 

Menstruation im Gefängnis ist ein schwieriges Erlebnis. Durch den Stress verschlimmern sich die Schmerzen und die Dauer der Blutung verlängert sich. All das vor dem Hintergrund fehlender Hygieneartikel, die man nirgends bekommen kann.   

Ich hatte wirklich unglaubliches Glück: Ich hatte meine [wiederverwendbare] Menstruationstasse dabei. Damit hatte ich keinerlei Probleme, im Unterschied zu den anderen Frauen in der Zelle. Eine der Frauen, sie war schon über 40, benutzte Stofflappen, und ihre Monatsblutung dauerte 28 Tage lang. Ich teilte meine Binden mit ihr, bat meine Familie, mir mehr mitzuschicken, aber sie reichten trotzdem nicht. Sie verwendete Lappen, die sie dann wusch. Eine andere junge Frau wurde von der langen und schmerzhaften Monatsblutung krank. Sie hatte einen sehr niedrigen Eisenwert und wurde anämisch.  

Einmal hatte ich aber auch eine schlimme Erfahrung. Etwa in der Mitte der Haftzeit wachte ich auf der oberen Pritsche auf, ringsum war ein schreckliches Chaos. Innerhalb von 20 Minuten mussten sich 120 Frauen für die Arbeit fertigmachen und perfekte Sauberkeit hinterlassen. Alle versuchten, sich an der Toilette anzustellen und so schnell wie möglich ihr Bett zu machen. Ich aber wachte in einer Blutlache auf, die – so schien es mir – schon durch die Matratze tropfte, so viel war es. 

Ich wusste überhaupt nicht, wie ich aufstehen sollte. Alles war rot, was sollte ich machen, wohin gehen? Wo fange ich an, das zu beseitigen? Was mache ich mit der Bettwäsche, wie bringe ich das Bett in Ordnung? Mein Kopf drohte zu bersten, ich heulte los. Aber niemand hatte einen Nerv für mich. Ich begriff, dass ich absolut allein mit diesem Problem bin und dass ich keine Lösung dafür habe. Ich heulte einfach, mehr ging nicht. 

Zehn Minuten saß ich da und weinte, bis ich allein in der Zelle war. Dann kam eine junge Frau herein, die ein bisschen mit mir sprach: „Was machst du denn? Du musst raus, sonst kommst du in die Strafzelle!“ – das ist die Strafe, wenn man zu spät kommt. Ich erklärte ihr, dass ich nicht weiß, was ich tun soll, wie ich damit fertigwerden soll. Sie sagte: „Zieh dich an, komm schnell!“ Innerhalb von 30 Sekunden waren wir draußen. Auf dem Bett war keine Bettwäsche, die Matratze war voll Blut, aber wie durch ein Wunder klärte sich alles: Ich bekam nur Toilettendienst für die Verspätung. Unterwegs fragte uns eine Offizierin, was los sei. Die andere Gefangene erklärte ihr, ich hätte einen Nervenzusammenbruch wegen der Periode. Mir kam es damals so vor, als sei die ganze Welt zusammengebrochen. 

Ich denke, das lag an der Scham, die schon seit der Kindheit in mir steckt, seit der Zeit der ersten Periode. Damals wurde bei mir offensichtlich einiges ausgelöst: Angst und Scham, dass alle mich anstarren werden, dass in der Lagertoilette 40 andere Menschen zuschauen werden, wie ich das Blut auswasche. Ich muss jetzt neu betrachten, dass das alles überhaupt nicht peinlich ist. Du lebst einfach, und manchmal fließt Blut aus dir, das ist eine ganz normale physiologische Sache. Aber obwohl im Gefängnis nur Frauen um mich herum waren, gab es doch eine furchtbare Ablehnung dieses Normalen, Physiologischen, Weiblichen. Wenn irgendwo Tropfen vom Monatsblut zurückblieben, gab es gleich einen Skandal in der Zelle. Wahrscheinlich konnte ich aus diesem Grund mit der Situation nicht umgehen. 

Jelena (Name geändert)  

Festgenommen 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in der Waladarka und in Okrestina, danach im Frauenstraflager Gomel. 

Ich hatte meine Periode, als man uns gerade in die Quarantänestation gebracht hatte, vor der Aufnahme ins Straflager. Aber in der Quarantäne interessiert es niemanden, ob du krank oder gesund bist. Alle müssen der Reihe nach das Essen [aus der allgemeinen Kantine] in dieses isolierte Gebäude schleppen. Das Wirtschaftsgebäude, in dem gekocht wird, befindet sich am anderen Ende des Geländes. Man muss [mit den Kübeln] durch das ganze Lager, durch diese ganze Kleinstadt laufen.   

In der Quarantäne sind immer drei Einheiten à ungefähr 25 Personen. Für diese 60 bis 70 Leute muss das Essen in riesigen Gefäßen gebracht werden: Frühstück, Mittag, Abend. Eine nach der Anderen schleppten wir die Kübel, ich war vier Mal dran. Als ich einmal sagte, dass ich heute nicht schwer heben könne, antworteten sie mir: „Hier ist niemand gesund, alle sind krank. Es ist dein Problem. Alle tragen, also trägst du auch.“ 

Nach einer Woche war meine Periode noch immer sehr stark. Mir war klar: Da stimmt etwas nicht. Die medizinische Kontrolle begann, wir wurden zur Gynäkologin gebracht. Ich sagte, ich könne heute nicht, ich hätte meine „kritischen Tage“. Die Gynäkologin sagte, das interessiere sie nicht: Los, ab auf den Stuhl. Ich kletterte hoch, bekleckerte alles mit Blut. Die Ärztin erschrak und sagte: „Sie haben ja eine Schwallblutung.“ 

Mir wurden blutungsstillende Medikamente verschrieben, und etwa nach einer Woche hörte die Blutung endlich auf. Aus mir war also zwei, wenn nicht drei Wochen lang Blut geflossen. 

Dann gab es ein weiteres Problem. Ich hatte einen Vorrat an Binden in einem Paket bekommen, aber vom Stress war meine Blutung ja viel stärker als in normalen Zeiten. Mein Vorrat war sehr schnell aufgebraucht. Woher also neue nehmen? Im Gefängnisladen gab es nur dünne Slipeinlagen, Tampons gab es auch nicht. Es war furchtbar. Ich probierte alles Mögliche, verwendete am Ende sogar Wattepads. 

Es war jeden Monat von Neuem eine Herausforderung, besonders nachts. Alle „Extremistinnen“ schlafen auf der oberen Pritsche. Leise, ohne Knarren, kommst du dort nicht runter. Die „Eingesessenen“ schimpfen sofort fürchterlich, wenn sie gestört werden. Konflikte will man nicht. Aber diese ganze Wattekonstruktion muss man nachts austauschen. Duschen kann man nur einmal pro Woche, die übrige Zeit läuft man nur mit diesen Flaschen [mit Wasser für die Katzenwäsche] herum, und denkt permanent nur an eines – bloß nicht auslaufen. Wenn du nämlich Rock oder Uniform dreckig machst, kriegst du sie nicht wieder trocken. Auf dem Heizkörper darf man nichts aufhängen, eigentlich kann man nirgendwo etwas trocknen. Eine andere Uniform anzuziehen, ist nicht erlaubt – das ist dein Problem. Mit vollgeschmierten Sachen darfst du aber auch nicht rumlaufen [sonst gibt es einen Tadel]. Eine echte Denksportaufgabe. 

Olga Klaskowskaja  

Früher Journalistin bei Narodnaja Wolja, festgenommen im Oktober 2020, freigelassen im Winter 2022. Später noch einmal fast fünf Monate in der Strafzelle und im Karzer des Frauenstraflagers in Gomel im allgemeinen Strafvollzug. In Gefangenschaft erlitt sie abnorme Gebärmutterblutungen und musste zweimal operiert werden. 

In die Strafzelle darf man keine Bindenpackung mitnehmen, selbst wenn sie aus der eigenen Paketsendung stammt. Binden werden einzeln und nach Laune der Mitarbeiter verteilt: Wenn sie Lust haben, geben sie welche, wenn nicht, dann nicht. Du bittest und bettelst um Seife und eine Binde. Dann wendet sich der Verantwortliche für die Strafzelle an die Hauswartin der Abteilung, in der du gelistet bist, und dann bringt dir die Hauswartin die Sachen – wenn du Glück hast. 

Für mich war das ein Alptraum. Ich musste ständig betteln, mich erniedrigen. Aber welche Optionen hatte ich? Ich hatte starke Blutungen, hätte mehrere Binden gleichzeitig einlegen müssen. Man darf nur eine Unterhose in die Strafzelle mitnehmen. Aber bei starker Blutung reicht eine Unterhose nicht. Ein Mitarbeiter erbarmte sich und erlaubte mir eine zweite. Ich konnte also eine Unterhose mit kaltem Wasser waschen und hängte sie auf den Heizkörper, wofür ich gerügt wurde, weil man nur waschen darf, wenn Waschtag ist. Es war die reinste Hölle. 

Als ich [aus dem Krankenhaus] wieder in meine Zelle zurückkam, verboten sie mir die Paketsendungen. Wenn du nur zwei Basiseinheiten [etwa 22 Euro - dek] zur Verfügung hast, kannst du nicht viele Binden kaufen. Die Qualität der Binden, die es im Gefängnisladen gibt, ist auch nicht gut. Deshalb musste ich mir mit Stofflappen behelfen. Ich sah andere Häftlinge, die das auch machten. Denn im Grunde gibt es keine andere Möglichkeit. 

Ich empfand völlige Erniedrigung, Ausweglosigkeit, Frustration, Minderwertigkeit. Ich weiß noch, wie ich mit nackten Beinen in der Strafzelle stand – dort darf man keine Leggins oder Strumpfhosen tragen – und an meinen Beinen Blut herablief, auf dem Boden war schon eine Lache. Die Kolonie-Mitarbeiterinnen standen da, lachten und sagten: „Was musstest du auch das Gesetz brechen.“ 

Die Fotografin Volya berichtet von ihrem Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis 

Während der Proteste in Belarus wurde Volya zweimal festgenommen – beim Frauenmarsch am 19. September und beim Sonntagsmarsch am 8. November 2020. 

Am 8. November 2020 fand eine der größten Massenfestnahmen statt. Zuerst nahmen sie nur Männer mit. Doch dann hörten wir aus den Funkgeräten die Anweisung: „Alle Weiber einsammeln“. Im Bezirksamt des Inneren, wohin ich gebracht wurde, waren schon über hundert Festgenommene, die Hälfte davon Frauen. Eine der Frauen hatte eine rote Markierung auf dem Arm, einer anderen war ein rotes Kreuz auf den Rücken gemalt. So markierten sie diejenigen, die sich bei der Festnahme widersetzt hatten oder unter Verdacht standen, Organisatorinnen zu sein. 

Nach den Formalitäten brachten sie uns ins Gefängnis Shodino. Dort begrüßte man uns mit Hunden und Beleidigungen. Sie nahmen uns die Taschen ab, dann mussten wir in der Hocke etwa einen Kilometer weit durch den unterirdischen Gang zu den Zellen rennen. Eine Frau bat darum, normal gehen zu dürfen, da sie Herzprobleme habe, aber man erlaubte es nicht. Sie sagten, wenn sie nicht so laufe wie alle, würde es für die anderen schlimmer. Die Frau weinte und lief weiter in der Hocke. 

Dann begann die Visitation. Vor der Zuweisung in eine Zelle musst du dich vor einer Mitarbeiterin [des Gefängnisses] nackt ausziehen und dich hinhocken – auch wenn du deine Tage hast. Die Binde muss man aus der Unterhose entfernen. Nach der Visitation verteilten sie uns auf die Zellen. In einer Viererzelle waren wir 20 Personen. In der Zelle selbst gab es nichts – keine Hygieneartikel, keine Matratzen, keine Kissen, nur eine Rolle Toilettenpapier. Trinkwasser und Essen bekamen wir auch nicht. Manche schliefen auf dem Bettgestell, manche auf den Bänken am Tisch. Ich schlief auf dem Fußboden. In der Zelle war es kalt, doch bei geschlossenen Fenstern konnte man nicht atmen. Die ganze Zeit über hörten wir, wie die Männer geschlagen wurden, wie man sie zwang, die Hymne zu singen. Am Morgen kam der Ermittlungsrichter zu uns. 

Ich las das Protokoll aufmerksam durch und fand Fehler darin. Meine Akte wurde zur Überarbeitung geschickt – unglaubliches Glück. Meine erste Akte [vom 19. September] war auf diesem Weg verloren gegangen, die zweite wurde überarbeitet, danach kam die Verhandlung. Ich bekam eine Geldstrafe mit fünf Basiseinheiten. An diesem Tag ließen sie fast alle gegen Geldstrafe gehen. Ziel der Festnahme war Einschüchterung und Aufnahme in die Datenbank [mit Teilnehmenden der Protestaktionen]. 

Wenn es einem wie durch ein Wunder gelingt, Binden mit in die Isolationshaft zu bringen, dann ist das ein Erfolg, da man sie auch anders verwenden kann. Manchmal können sie ein Kopfkissen ersetzen, vor dem [kalten] Beton schützen. Manche benutzten sie als Schlafmaske, da das Zellenlicht durchgehend brennt. 

Wenn du zu einem Protestmarsch gehst, nimm so viele Binden mit wie möglich: für dich selbst und deine Zellengenossinnen. So habe ich es gemacht – und alle meine Bekannten auch. 

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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