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„Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“

„Wir spielen ehrliche Musik.“ Das sagte Dimitri Golowatsch, Gitarrist der belarussischen Band Tor Band, in einem Interview. Mit ins Ohr gehenden Refrains und Melodien und Texten, die das Gefühl der Proteste von 2020 aufgreifen, wurde das bis dato völlig unbekannte Trio zu einer der populärsten Bands, ihre Songs wurden Hymnen der damaligen Demokratiebewegung. Trotz der Repressionen, die sich auch gegen Kulturschaffende richten, blieben die Musiker in Belarus. Im Januar 2023 wurde die Band zur „extremistischen Vereinigung“ erklärt, bereits im Oktober 2022 waren die Musiker festgenommen worden, seit Mitte September läuft hinter verschlossenen Türen ein Prozess gegen die Mitglieder der Band – ihnen drohen bis zu zwölf Jahre Haft.

Der Journalist Michail Polosnjakow hat sich in einem Beitrag für Mediazona Belarus eingehend mit der weitgehend unbekannten Geschichte der Band und den Repressionen gegen die Musiker beschäftigt, die der LukaschenkoAlexander Lukaschenko, 1954 geboren, wurde nach der Unabhängigkeit von Belarus 1994 zum ersten Präsidenten des jungen Landes gewählt. Mit seinem Talent, Menschen zu erreichen, und seinen populistischen Losungen, die versprachen, die Korruption und die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, konnte er die Wahl für sich entscheiden. Danach begann er, die demokratischen Freiheiten sukzessive abzuschaffen, das Parlament zu entmachten und die Opposition zu verfolgen. Er errichtete eine Diktatur, die sich bis heute als äußerst zäh erweist. Waleri Karbalewitsch über die Entwicklung des Systems Lukaschenko und die Gründe für dessen Langlebigkeit.   Mehr dazu in unserer Gnose -Staat anscheinend derart fürchtet.

Quelle
Mediazona Belarus

Mediazona Belarus

Tor Band aus der ostbelarussischen Kleinstadt Rogatschow (bel. Rahatschou), das sind Dimitri Golowatsch, Jewgeni Burlo und Andrej Jaremtschik. Sie schrieben den Songtext „Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge, wir sind das lebendige Volk, wir sind die Belarussen“. Das Musikvideo bekam mehr als eine Million Klicks, aufgenommen wurde es mit einzelnen Clips der Fans.

Als die Proteste abgeflaut waren, blieb Tor Band in Belarus, Dimitri Golowatsch arbeitete weiterhin im KulturhausSogenannte Kulturhäuser oder -paläste sind in sozialistischen bzw. postsozialistischen Ländern zu kulturellen Zwecken genutzte Gebäude. Sie beherbergen oft Kinosäle und Bibliotheken und dienen als Veranstaltungsorte für Ausstellungen und Diskussionsabende. von Rogatschow. Doch irgendwann kamen sie auch an die Reihe: zuerst ein eintägiger Gewahrsam, aus dem die Musiker nicht freigelassen wurden, später wurde die Rockband zur „extremistischen Formierung“ erklärt. Den Bandmitgliedern werden mehrere Straftaten vorgeworfen, darunter auch die Diskreditierung von Belarus. 
Mediazona stellt die Geschichte der Band vor, die die Hymne der Proteste schrieb, und sprach dazu mit Denis Daschkewitsch, ein Aktivist aus Rogatschow und ehemaliger Direktor des Kulturzentrums im Dorf Pobolowo. 

Auftritt auf der Hauptbühne in Rogatschow am Unabhängigkeitstag

Zu Beginn des Sommers 2020 ging Denis Daschkewitsch mit seiner Familie in Gomel im Park spazieren. An diesem Tag hörte er aus „allen Autos“ das Lied Uchodi (dt. Hau ab) von Tor Band.
„Damals bekam ich sofort Angst um die Jungs“, sagt Daschkewitsch. 

„Hau ab! Friedlich, still und leise
Hau ab! Wir finden neue Ehrenleute
Hau ab! Jetzt ist die Zeit der Mutigen, nicht der Feiglinge
Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“ 

Als 2019 in Rogatschow der Unabhängigkeitstag begangen wurde, bespielte Tor Band den zentralen Platz neben der Stadtverwaltung und donnerte mit einem mehrstündigen Konzert los. Daschkewitsch erinnert sich, dass „die Jugendlichen fast durchdrehten“.
 
Bandmitglied Dimitri Golowatsch erzählte in einem Interview. „Wir haben einen Song mit dem Text: 
Die Revolution reift in uns heran, 
im Innern reift Veränderung.
Weg mit den offenen Metastasen, 
brich die Mechanismen des Systems.
Diesen Titel haben wir auf dem zentralen Platz von Rogatschow am Unabhängigkeitstag gespielt, Organisator war die städtische Ideologieabteilung!“

Daschkewitsch sagt: „Bis 2020 gab es keinerlei Verdacht auf Opposition oder Terrorismus oder Extremismus. Das war eine Band, auf die die Stadtverwaltung von Rogatschow stolz war, über die in der Kreiszeitung geschrieben wurde.“ 

Dieselbe Zeitung schrieb im März 2023 über die Band: „Ab 2020 verstärkte das eingeschworene Kollektiv aus Rogatschow seine destruktive Aktivität enorm, indem es die Interessen verschiedenster oppositioneller Strukturen bediente, und die Belarussen buchstäblich zu Brudermord und anderen rechtswidrigen Handlungen drängte.“

Bevor sie Tor Band gründeten, spielten die Musiker in der Band Sex. Damals hatten sie Probleme mit der lokalen Verwaltung. Der Band wurde vorgeworfen, Drogenkonsum zu propagieren und Pornografie zu verbreiten. 2014 änderte die Band ihren Namen dann in OjraOjra ist ein Polkatanz, der zu Zweit im Zweivierteltakt getanzt wird und der ab Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Osteuropa populär wurde.. In den Texten dieser Gruppen kamen auch politische Motive vor. 

Aus dem Titel Königreich der glücklichen Sklaven:

„Ich sitz auf meinem Arsch an einem geilen Platz, 
ich bin der coole Gockel auf der gold’nen Hühnerstange, 
Jetzt verbiete ich mal all die Festivals, 
hab kein‘ Bock zu rackern, ihr könnt mich alle mal!“

Im Song Ach, Leute fragen die Musiker: „Wie soll man da nicht fluchen, bei 200 Dollar Monatslohn“, und „in der Glotze tönen sie, alles sei so wie es soll“. 2014 spielte die Band Konzerte in Moskau, gemeinsam mit Lyapis Trubetskoy und der Band Lumen. Außerdem gingen sie auf Tour durch die Ukraine. Bis dahin war Jewgeni Burlo der Schlagzeuger, Dimitri Golowatsch sang und spielte Gitarre – heute sind sie zwei von drei Bandmitgliedern, die im Fall der 2017 gegründeten Tor Band angeklagt sind. 

Jewgeni Burlo hatte bis 2020 etwa zehn Jahre lang als Tontechniker im Kulturhaus von Rogatschow gearbeitet. „Er war der wichtigste Tontechniker der ganzen Stadt“, erinnert sich Denis Daschekwitsch. 
„Alle betonten sein hohes Niveau bei Tontechnik, Bühnentechnik und Ausstattung. Woanders mussten für größere Veranstaltungen Experten aus Minsk oder Gomel kommen. In Rogatschow war das nie ein Problem.“

Dimitri Golowatsch machte derweil Fotos und Videos auf Hochzeiten. Daschkewitsch zufolge war die Musik nicht seine Haupteinkommensquelle, sondern eher ein Hobby, in das er viel Geld hineinsteckte. 

Ein Lied wird zum Protesthit 

Den Titel My – ne narodez (dt. Wir sind kein Völkchen), der zu einer der Hymnen der Proteste wurde und die Band bekannt machte, hatten sie im Juni veröffentlicht. 

„Die Leute schreiben uns: ‚Was für ein cooler Protestsong!‘ Aber es ist ein patriotischer Song, kein Protestsong. Es ist ein Song darüber, was die Leute wirklich von sich selbst denken. Seine [Lukaschenkos] Phrasen über das ‚Völkchen‘ riefen bei mir und bei vielen anderen Leuten Empörung hervor. Das hat die Selbstliebe des belarussischen Volkes wirklich stark getroffen“, sagte Golowatsch in einem Interview mit Onliner im September 2020 (der Artikel ist von der Seite gelöscht, aber noch im Webarchiv auffindbar). 

„Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge, 
Wir sind ein lebendiges Volk, wir sind die Belarussen.
Mit Glauben im Herzen halten wir stand, 
die Flamme der Freiheit über uns!“

Für den Videoclip von My – ne narodez lud die Band ihre Fans ein, Videos davon aufzunehmen, wie sie den Refrain singen. Dimitri Golowatsch zufolge haben nicht alle mitgemacht, aber diejenigen, die in den Clip aufgenommen wurden, seien „die mutigsten und verwegensten“.

Vor dem Videodreh zu Shywje! (dt. Es lebe!) luden die Musiker per Insta-Livestream ihre Fans ein, nach Rogatschow zu kommen und im Video aufzutreten. „Als wir dann am Dnepr-Ufer die Unmenge von Autos sahen, wurden unsere Augen immer größer und in der Stadt ging das Gerücht um, eine Gang sei angerückt und bald würde wohl eine Schlägerei beginnen“, erzählte Golowatsch. 

Noch vor dem Song My – ne narodez waren die lokalen Behörden auf die Band aufmerksam geworden. Dimitri Golowatsch berichtet, die Kreisverwaltung habe ihn angerufen und darum gebeten, weniger Aufmerksamkeit auf die Stadt Rogatschow zu lenken: „Die zentrale Aussage war: Wir wollen, dass in Rogatschow alles ruhig ist.“

Tor Band nahmen weiterhin Songs auf und produzierten Videos. Im Clip zu Kto, jesli ne ty (dt. Wer, wenn nicht du) treten 23 Familien auf. Kinder, Eltern und Musiker singen zusammen:

„Wer denn sonst, wenn nicht du?
Man schenkt uns wieder Glauben
Wir malen alles ganz weiß an
Und vertreiben all das Grau.“

Im Interview mit Nasha Niva sagte Dimitri Golowatsch, Tor Band habe zum Ziel, „die stabile emotionale Haltung unseres Volkes zu unterstützen“. 
Im März 2021 brachte die Band ein Album mit allen Protesthits heraus: Finita La Commedia

Wir waren überzeugt, dass alles vergessen sei

„Die Musiker waren davon überzeugt, dass alles vorbei sei – und Schluss. Jewgeni Burlo nahm einen Kredit auf und kaufte sich wenige Monate vor seiner Verhaftung noch ein teures Motorrad“, erzählt Daschkewitsch. Golowatsch arbeitete auch nach den Protesten weiter als Hochzeitsfotograf, und Burlo blieb Tontechniker im Kulturhaus. Er kündigte dort Anfang Oktober 2022, wenige Wochen vor seiner Festnahme. 

Laut Denis Daschkewitsch war eine lokale Beamtin darüber sehr empört. Nachdem die Musiker festgenommen worden waren, hatte Daschkewitsch die Beamtin angerufen. Daschkewitsch gibt an, sie habe im Gespräch zugegeben, Jewgeni Burlo schriftlich denunziert zu haben. 
Daschkewitsch gibt ihre Worte so wieder: Er habe nicht einfach nur gekündigt. Erstens habe er den Staat verraten, der ihm auf die Beine geholfen hat. Und zweitens sei er noch so dreist gewesen, die digitale Infrastruktur zu entfernen. Mit „digitaler Insfrastruktur“ meine sie eine lizenzpflichtige Software, die Burlo nach seinem Weggang als Tontechniker im Kulturhaus deinstalliert habe. 

„Ich sagte ihr, dass man dieses Programm zur Audioaufzeichnung aus dem Internet herunterladen kann. Habt ihr in der Kreisverwaltung  etwa alle lizensierte Windows-Versionen? Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten“, erinnert sich Daschkewitsch. 

Tor Band hatte noch ein weiteres Bandmitglied – den Bassisten Andrej Jaremtschik. Mediazona konnte nicht herausfinden, wann genau er zur Band gestoßen ist, und ob er 2020 dazugehörte. Neben seinem Musiker-Leben arbeitete Jaremtschik als Geschichtslehrer in der Mittelschule Nr. 5 in Rogatschow. Auf der Mitarbeiterliste der Schulwebseite ist er nach wie vor verzeichnet. 

Plötzlich waren sie „Extremisten“ und Straftatverdächtige

Am 28. Oktober 2022 nahmen die SilowikiÄhnlich wie in Russland, bezeichnet der Sammelbegriff Silowiki auch in Belarus Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates.  alle drei Bandmitglieder sowie zwei der Ehefrauen fest. Bei den Hausdurchsuchungen wurde das komplette Musik- und Computerequipment mitgenommen, sagt Daschkewitsch. 

„Die hätten fast einen LKW gebraucht, um das alles wegzubringen. Allein bei Golowatsch haben sie sieben Gitarren mitgenommen“, erzählt eine Bekannte der Band. 

Damals schrieb das Menschenrechtszentrum WjasnaWjasna (dt. Frühling) ist eine belarussische Menschenrechtsorganisation. Sie spielt eine wichtige Rolle für die Dokumentation und Aufklärung aller möglichen Verletzungen von Menschen- und Grundrechten in Belarus. Die Organisation war in der Vergangenheit immer wieder Ziel von staatlichen Repressionen. Sie wurde 1996 von Ales Bjaljazki (geb. 1962) gegründet und seitdem vielfach für ihre Arbeit ausgezeichnet. Bjaljazki selbst, der 2011 wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, erhielt 2022 den Friedensnobelpreis gemeinsam mit der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial., dass auch die Wohnungen jener durchsucht würden, die in den Videos der Band aufgetreten waren. Dimitri Golowatschs Ehefrau Julia wurde vom Gericht zu 960 Rubel Strafe verurteilt. Die Bandmitglieder und Jaremtschuks Frau Anna Musyka wurden für 15 Tage in Gewahrsam genommen, vorgeworfen wurde ihnen die Verbreitung „extremistischen“ Materials. Bis dahin war Tor Band in keinerlei „extremistischen Listen“ aufgetaucht, aber diese Informationen verbreiteten sich in den Betrieben von Rogatschow.

Am 4. November wurde die republikweite Liste der extremistischen Materialien um den Gerichtsbeschluss des Bezirksgerichts Gomel vom 29. August ergänzt. Die Social-Media-Seiten, der Youtube-Kanal und zehn Songs der Band wurden für „extremistisch“ erklärt. Am nächsten Tag wurden die Videos, die millionenmal angeschaut wurden, vom Youtube-Kanal der Band gelöscht. 

Die Musiker kamen nicht nach 15 Tagen Gewahrsam frei, auch nicht nach 60 Tagen. Am 16. Januar erklärte der KGBDas Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus (russ. Komitet gossudarstwennoi besopasnosti Respubliki Belarus) ist der staatliche Geheimdienst und die Geheimpolizei. Er wurde als Nachfolgeorganisation des sowjetischen KGB in Belarus, dessen Geschichte in das Jahr 1917 zurückgeht, am 23. Oktober 1991 gegründet. Der KGB ist dem Präsidenten direkt unterstellt und gilt damit als wichtiges Machterhaltungs- und politisches Kontrollinstrument. die Band zu einer „extremistischen Vereinigung“. Neben den drei Bandmitgliedern nahm der KGB auch Julia Golowatsch in die Liste auf. 

Die Bandmitglieder wurden in Untersuchungshaft überführt, gegen sie wurde Anklage erhoben. Man wirft ihnen Volksverhetzung, Bildung einer extremistischen Vereinigung, Diskreditierung des Landes und Beleidigung Alexander Lukaschenkos vor. Auf einen der Anklagepunkte stehen zwölf Jahre Freiheitsentzug. Der Gerichtsprozess begann am 14. September 2023 und wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. 
 
Laut Daschkewitsch hat sich Jewgeni Burlos Gesundheitszustand in der Untersuchungshaft ernsthaft verschlechtert. Er habe bereits früher an einer Krebserkrankung gelitten, aber „ohne kritischen Verlauf“. Zudem leide der Musiker dauerhaft unter Rückenschmerzen und nehme Schmerzmittel. Informationen von Wjasna zufolge wurde bei Burlo in der U-Haft eine Hüftgelenknekrose diagnostiziert, er wurde im Gefängniskrankenhaus behandelt. 

Über den Zustand der anderen Mitglieder von Tor Band ist nichts bekannt. 

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Die moderne belarussische Sprache

Eine Fahrt mit der Minsker Metro verrät einiges über die sprachliche Situation in der Belarus. Die Fahrgäste unterhalten sich auf Russisch. In dieser Sprache sind auch die Bücher und Zeitschriften in ihren Händen, genau wie die Werbeanzeigen an den Wänden. Und gibt es einmal Störungen im Betriebsablauf, so erfolgt die entsprechende Durchsage ebenfalls auf Russisch. Wird jedoch ein planmäßiger Halt angekündigt, hört man aus den Lautsprechern plötzlich eine andere Sprache: das Belarusische.

Wären auf dem Gebiet der heutigen Belarus vor 200 Jahren auch schon Metros gefahren, hätte sich ein anderes Bild geboten. Russisch wäre kaum zu hören gewesen, denn die Gebiete der heutigen Belarus sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts erst seit kurzer Zeit Teil des Russischen Zarenreichs. Zuvor hatten sie jahrhundertelang zur Adelsrepublik Polen-LitauenDie Polnisch-Litauische Adelsrepublik (auch Rzeczpospolita oder Erste Polnische Republik) war ein bis 1795 in Mittel- und Osteuropa bestehender Staat. Die Republik bestand als Personalunion des Königreich Polens und des Großfürstentum Litauens bereits seit 1385, als Realunion seit 1569. Der Name Adelsrepublik leitet sich davon ab, dass der König vom Adel gewählt wurde. Die Adelsrepublik umfasste neben Polen und Litauen auch große Teile der heutigen Ukraine sowie die gesamten Gebiete des heutigen Belarus und des heutigen Lettlands. Mit den Teilungen 1772, 1793 und 1795 fielen die Gebiete der Adelsrepublik an Österreich-Ungarn, Preußen und das Russische Zarenreich. gehört, und deswegen wären auch zu jener Zeit die offiziellen Durchsagen der nächsten Station wohl noch auf Polnisch erfolgt. Auch die Namen der Stationen hätte man auf Polnisch ausgeschildert. Zwar hatte es im 16. und 17. Jahrhundert auf den Gebieten der Belarus bereits eine autochthone, ostslawische Schriftsprache1 gegeben, diese war aber längst vom westslawischen Polnischen verdrängt worden. Unterhalten hätten sich die Fahrgäste des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Sprachen: Einige auf Polnisch, der Sprache des Adels, andere auf Jiddisch, und wieder andere in unterschiedlichen dialektalen Formen des ostslawischen Belarusischen, der Sprache der breiten Bevölkerung.

Das moderne Belarusische

Im 19. Jahrhundert setzte sich in Europa der Glaube an die Einheit von Volk, Nation und Sprache und damit das Bedürfnis nach einheitlichen StandardsprachenStandardsprachen sind Sprachen, die über eine überregionale Norm verfügen, welche in Grammatiken und Wörterbüchern kodifiziert ist. Diese Norm wird in einer Gesellschaft als verbindlich angesehen und in Bildungseinrichtungen vermittelt. Standardsprachen sind prestigeträchtig und ihre Beherrschung ist unabdingbar für eine gesellschaftliche Teilhabe. Sie sind sowohl im Alltag als auch in Wissenschaft, Publizistik und Literatur verwendbar. durch. Für die drei modernen ostslawischen Standardsprachen, für das Russische, das Ukrainische und das Belarusische, war dieses Jahrhundert das entscheidende. Auch die Idee einer belarusischen Identität gewann nun an Bedeutung und damit der Wunsch nach einer einheitlichen belarusischen Sprache. Anfang des 19. Jahrhunderts standen beide allerdings in Konkurrenz zur polnischen Sprache und Identität. Exemplarisch zeigt sich das in Biographie, Werk und Wahrnehmung der beiden befreundeten Schriftsteller Adam MickiewiczAdam Mickiewicz (1798–1855, belarussisch: Adam Mizkewitsch) ist der wohl bekannteste Dichter Polens. In seinen Texten warb er für ein unabhängiges Polen, wobei ihm ein Gebilde entsprechend der polnisch-litauischen Adelsrepublik vorschwebte. „Litwo, ojczyzno moja“, hieß es in seinem Schlüsselwerk Pan Tadeusz, „Litwa, mein Heimatland“. Mickiewicz wurde in die Familie eines Landadeligen geboren, die ihre Ländereien in der Nähe der heute belarussischen Stadt Nawahrudak hatte. Die Region ging mit der zweiten Teilung der Adelsrepublik 1793 an das russische Zarenreich. Bis heute wird Mickiewicz auch in Belarus verehrt.  und Jan TschatschotJan Tschatschot (1796–1847, pl. Jan Czeczot) war ein polnischer Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker belarussischer Herkunft. Er leistete ethnografische Pionierarbeit im belarussischen Kulturraum, indem er Volkslieder sammelte und ins Polnische übersetzte. Vor allem mit seinen Gedichten trug er zur belarussischen literarischen Renaissance im 19. Jahrhundert bei. . Obwohl beide am Ende des 18. Jahrhunderts unweit des heute belarusischen NawahrudakNawahrudak ist eine belarussische Stadt mit rund 30.000 Einwohnern und Hauptstadt des gleichnamigen Rajons. Nawahrudak war ab dem 10. Jahrhundert eine wichtige Stadt der Kiewer Rus’ und geriet im Laufe der Jahrhunderte zunächst unter litauische, dann unter russische und schließlich unter polnische Herrschaft. Ab 1939 war sie Teil der Belarussischen Sowjetrepublik. geboren wurden, avancierte der erste zum Nationaldichter Polens, während der zweite zu einem der Gründer der belarusischen WiedergeburtsbewegungDie belarussische Wiedergeburtsbewegung entstand im 19. Jahrhundert in den belarussischen Gebieten des Russischen Zarenreiches. Ihr Ziel war die Entwicklung der belarussischen Kultur, Sprache und Bildung; ihre Vertreter setzten sich für die sozialen Rechte der Bauern, für das griechisch-römische Glaubensbekenntnis und für die Popularisierung einer nationalen belarussischen Identität ein. Der Begriff Wiedergeburt (belarussisch: adradshenne) bezog sich auf das Mittelalter, als Belarussisch (Ruthenisch) die Kanzleisprache des Großfürstentums Litauen gewesen war. Aufgrund zaristischer Repressionen und einer geringen Anhängerschaft blieb die Bewegung lange im Untergrund, erst nach der Revolution von 1905 erlangte sie politischen Einfluss. wurde. „Von nahezu identischen Ausgangspunkten“ schlugen sie Bahnen ein, „wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten“2.

Das Polnische verlor im späteren 19. Jahrhundert in den „Nordwestprovinzen“ des ZarenreichesMit den 1795 abgeschlossenen Teilungen Polen-Litauens gelangten große Gebiete des ehemaligen Großfürstentums Litauen als „belarussische und litauische Provinzen“ zum Russischen Zarenreich. Im Zuge der Russifizierung der Gebiete verbot Zar Nikolaus I. 1840 jedoch per Dekret die Verwendung dieses Begriffs. Stattdessen wurde die Gebiete nun als Nordwestprovinzen bezeichnet. zunehmend seine Bedeutung. In Reaktion auf zwei Aufstände, die 1830/31Der Novemberaufstand 1830/31 (auch Polnisch-Russischer Krieg) hatte die Unabhängigkeit des Königreichs Polen zum Ziel. Dieser 1815 auf dem Wiener Kongress entstandene polnische Rumpf-Staat unterstand durch eine Personalunion dem russischen Zar Nikolaus I. Da dieser die liberale Verfassung Polens überging, wurde er von den Aufständischen für abgesetzt erklärt. Der Aufstand wurde in der Folge durch Russland militärisch niedergeschlagen. und 1863Der Januaraufstand 1863/64 war ein Aufstand im Polnischen Königreich und in den Nordwestprovinzen des Zarenreiches gegen die russische Herrschaft. Er dauerte 15 Monate an. Der Aufstand wurde vor allem vom polnischen Adel getragen, genoss jedoch auch in Teilen des Bürgertums und der Bauernschaft Unterstützung. Die Zaristische Armee schlug den Aufstand rigoros nieder und verstärkte in der Folge die Russifizierung Polens.  auf den Gebieten des ehemaligen Polen-Litauens ausbrachen, nahm stattdessen der Einfluss des Russischen zu. Die westlichen Ostslawen wurden als „Teil des russischen Volkes“ betrachtet, der durch polnische Einflussnahme von diesem „entfremdet“ worden sei.3 Eine belarusische Standardsprache hatte in dieser Logik keinen Platz und wurde dementsprechend in ihrer Entwicklung behindert. Trotz dieser ungünstigen politischen Situation bildete sich bis zum Anfang des 20. Jahrhundert eine Literatur heraus, deren Sprache auf den damaligen belarusischen Dialekten aufbaute. Im Zuge der politischen Teilliberalisierung, die auf die Russische Revolution 1905Als Erste Russische Revolution bzw. Russische Revolution 1905 wird eine bis ins Jahr 1907 reichende Serie von Ereignissen bezeichnet, die ihren Anfang am sogenannten Blutsonntag nahm, als hunderte friedliche Demonstranten am 9. Januar 1905 (nach gregorianischem Kalender am 22. Januar) durch die Armee getötet wurden. Zar Nikolaus II. reagierte auf die andauernden Massenunruhen mit dem Erlass des sogenannten Oktobermanifests (Manifest über die Verbesserung der staatlichen Ordnung) – Vorläufer der ersten Verfassung, das unter anderem weitgehende Bürgerrechte gewährte. Da die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, Agrarreformen und einer Volksvertretung damit faktisch nicht erfüllt wurden, blieben die tiefgreifenden sozialen Spannungen weitgehend bestehen. Viele Historiker sehen darin eine der Ursachen für die Februar- und Oktoberrevolution 1917. folgte, konnte das Belarusische schließlich auch in publizistischen Bereichen verwendet und stilistisch ausgebaut werden. Maßgeblich für diesen Prozess war die zwischen 1906 und 1915 herausgegebene Zeitung Nascha NiwaNascha Niwa (dt. Unser Acker) war eine zwischen 1906 und 1915 in Vilnius erscheinende Wochenzeitung. Sie war ursprünglich das inoffizielle Organ der Belarussischen Sozialistischen Hramada, einer 1902 gegründeten sozialdemokratischen Partei. Nachdem die Partei 1907 ihre politischen Tätigkeiten einstellen musste, richtete sich Nascha Niwa zunehmend an Aktivisten der nationalen Bewegung und die künstlerische Intelligenzija und wurde zum zentralen Forum der belarussischen Wiedergeburtsbewegung. Ihre Auflage betrug etwa 3.000 Exemplare, das wichtigste Publikationsorgan der belarusischsprachigen Schriftsteller und Publizisten jener Zeit. 1918 wurden die orthographischen und grammatischen Regeln des Belarusischen durch Branislau TaraschkewitschBranislau Taraschkewitsch (1892–1938) war ein belarussischer Sprachwissenschaftler und Politiker. Durch seine Kodifizierung entstand 1918 die moderne belarussische Schriftsprache. Sie trägt als erste Norm der belarussischen Standardsprache seinen Namen: Taraschkewiza. Von 1922 bis 1924 war Taraschkewitsch Vorsitzender der belarussischen Partei im polnischen Sejm. 1938 fiel er den stalinistischen Säuberungen zum Opfer.  kodifiziert. Diese erste, aber nicht letzte Norm der belarusischen Standardsprache wurde nach ihrem Schöpfer als Taraschkewiza bekannt und war auf Abstand zum Russischen bedacht.

Das Belarusische in der Sowjetunion

Anfang des 20. Jahrhunderts stand die belarusische Sprache also gewissermaßen bereit, in einem künftigen belarusischen Staat die Funktionen einer Standardsprache zu erfüllen. Durchsetzen sollte sie sich jedoch letztlich nie, auch wenn es nach dem ersten Weltkrieg zunächst ganz danach aussah. Zwar gingen die westlichen Gebiete der heutigen Belarus an das neu entstandene Polen, wo eine Polonisierung der ostslawischen Bevölkerung angestrebt wurde. Im östlichen Teil, der nun als Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR)Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Mehr dazu in unserer Gnose Teil der Sowjetunion war, erfuhr das Belarusische jedoch im Zuge der sogenannten BelarussisazyjaAls Belarussifizierung (belaruss. Belarussisazyja) wird die Politik der Einwurzelung (russ. Кorenisazija) auf dem Gebiet der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik bezeichnet. Die Кorenisazija verfolgte das Ziel, nationale Minderheiten nach dem Russischen Bürgerkrieg (1918–1922) in die Sowjetunion zu integrieren. Die Belarussifizierung begann 1924 und umfasste vor allem sprach- und bildungspolitische Maßnahmen. Sie endete Anfang der 1930er Jahre. Dem Großen Terror 1937/38 fielen auch zehntausende belarussische Intellektuelle und Künstler zum Opfer. eine nie dagewesene Förderung. Insbesondere wurde das Belarusische als Schul- und Verwaltungssprache eingeführt und auch in beträchtlichem Maße durchgesetzt.

Doch die liberale Sprachenpolitik der frühen Sowjetunion, die das Ziel verfolgte, nationale Minderheiten und ihre Eliten in den neuen Staat und die neue Ideologie einzubinden, sollte nicht lange andauern. Unter Stalin wurde 1934 das Russische zur alleinigen Sprache der innersowjetischen Kommunikation erklärt, bereits ein Jahr zuvor war es die alleinige Sprache der Armee geworden. 1938 wurde es Pflichtfach in den Schulen aller Sowjetrepubliken. Ein neues Regelwerk, die nach dem VolkskommissariatDas Volkskommissariat war im revolutionären Russland und der UdSSR die oberste Behörde der Regierung. Als zentrale politische Organe mit voneinander abgetrennten Aufgabenbereichen hatten die Volkskommissariate faktisch die Funktion von Ministerien inne und die Volkskommissare die Rolle der Minister. Diese bildeten im Rat der Volkskommissare von 1917 bis 1946 die Regierung der UdSSR. 1946 wurde der Rat der Volkskommissare von Stalin in Ministerrat umbenannt. (narodny kamissaryjat) benannte Narkamauka, ersetzte 1933 die Taraschkewiza. Sie nähert das Belarusische in Grammatik, Wortbildung und Orthographie dem Russischen an. Diese Maßnahmen lesen sich heute recht nüchtern. Gleichzeitig fiel aber dem Großen TerrorAls Großen Terror bezeichnet man die staatlichen Repressionen gegen die sowjetische Bevölkerung zwischen 1936 und 1938. Der Begriff wurde durch die gleichnamige Monographie des britischen Historikers Robert Conquest geprägt. Während des Großen Terrors wurden Schätzungen zufolge rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, etwa 680.000 von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Die Repressionen erfolgten in mehreren Wellen. Waren zunächst vor allem hohe Parteikader betroffen, gerieten im Laufe der Zeit immer neue Gesellschaftsgruppen ins Visier der Sicherheitsorgane. Eine juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen fand bis heute nicht statt. Mehr dazu in unserer Gnose der 1930er Jahre auch fast die gesamte belarusischsprachige Intelligenz zum Opfer. Sich für das Belarusische einzusetzen oder lediglich Belarusisch zu sprechen, während der Kampf gegen „nationale Abweichler“ wütete, erforderte beträchtlichen Mut.

Doch nicht nur die Sowjetisierung, sondern auch der Zweite Weltkrieg hatte Folgen für die Stellung der belarusischen Standardsprache. Zwar gingen mit der sowjetischen Annexion OstpolensAls Ostpolen (auch Kresy) wurden im 17. und 18. Jahrhundert jene östlichen Gebiete Polen-Litauens bezeichnet, die vorher zum Großfürstentum Litauen gehört hatten. Ab 1772 gelangten sie im Zuge der Teilungen Polens in das Russische Zarenreich. Nach dem Ersten Weltkrieg, dem Polnisch-Ukrainischen (1918–1919) und dem Polnisch-Sowjetischen Krieg (1920–1921) wurden sie unter der Bezeichnung Ostpolen wieder Teil der Polnischen Republik. Im September 1939 wurden die Gebiete mit ihren etwa 13 Millionen Einwohnern von der Roten Armee besetzt und von der Sowjetunion annektiert. 1939 große Teile des in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden belarusischen Sprachgebiets an die BSSRDie Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) war eine Unionsrepublik der Sowjetunion. Sie wurde erstmals am 1. Januar 1919 im russischen Smolensk ausgerufen und bestand bis August 1991. Nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg und dem Friedensvertrag von Riga wurde die BSSR 1920 neu gegründet, ohne die westlichen Territorien, welche an Polen abgetreten wurden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden diese Gebiete 1939 jedoch wieder Teil der BSSR und blieben es auch nach 1945. Die rund 70 Jahre BSSR haben Belarus stark verändert und prägen das Land bis heute.  Mehr dazu in unserer Gnose . Der Umstand, dass die deutschen Besatzer die belarusische Sprache im Zweiten Weltkrieg – wie auch schon im Ersten WeltkriegRussland ist dem Ersten Weltkrieg an der Seite der Alliierten Anfang August 1914 beigetreten. Nach anfänglichen spektakulären Erfolgen kam es zu Rückschlägen. Die Transportprobleme und schlechte Versorgung der Städte führten Anfang 1917 zu großen Demonstrationen, die in die Februarrevolution mündeten. 
Die Frage von Frieden und Krieg war auch nach der Abdankung Nikolaus´ II. von entscheidender Bedeutung. Erst nach der Oktoberrevolution wurde am 3. März 1918 ein separater Friedensvertrag zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten geschlossen. Russland musste erhebliche Verluste an Territorium, Produktionskapazitäten und Bevölkerung hinnehmen. Mehr dazu in unserer Gnose
– in gewissem Umfang für ihre Zwecke gefördert hatten, trug jedoch dazu bei, das Belarusische in der Sowjetunion zu diskreditieren. Vor allem aber verlor die belarusische Standardsprache ihren stärksten Trumpf gegenüber dem Russischen, nämlich die größere Nähe zur Alltagssprache der breiten Bevölkerung. Denn mit der Ermordung von Millionen Menschen und der vollständigen Vernichtung von etwa 9000 Dörfern durch die Deutschen war auch die dialektale Landschaft zu großen Teilen zerstört worden. Nach dem Krieg wurden Städte im Zuge einer raschen Industrialisierung schneller wiederaufgebaut als Dörfer. Zahlreiche junge Sprecher*innen belarusischer Dialekte zogen daher als dringend benötigte Arbeitskräfte vom Land in die rasant wachsenden Städte, wo sie sich der sozial dominanten russischen Sprache zuwandten. Hieraus resultiert die weite Verbreitung der sogenannte TrassjankaAls Trassjanka wird eine sprachliche Mischform mit belarussischen und russischen Merkmalen bezeichnet, die aus dem Sprachkontakt zwischen belarussischen Dialekten und dem Russischen entstand. Der Begriff bezieht sich ursprünglich auf eine minderwertige Mischung aus Gras und Stroh und wurde auch von Verfechtern der Belarussifizierung als abwertende Bezeichnung benutzt. Trassjanka ist heute in Belarus weit verbreitet. Sie wird in informellen Situationen auch von Personen gesprochen, die das Russische in seiner Standardform beherrschen. im Lande, einer gemischten Rede, die Elemente des Belarusischen und des Russischen aufweist.

Dass insbesondere in den Städten das Russische dominierte, lag einerseits daran, dass nach dem Krieg viele Russ*innen und Sprecher*innen des Russischen aus anderen Teilen der Sowjetunion in die belarusischen Städte gezogen waren, um dort Führungspositionen einzunehmen. Vor allem blieb aber auch unter Stalins Nachfolgern das Russische die Sprache des ideellen Wegs zum Kommunismus – und damit auch die Sprache des individuellen Wegs nach oben auf jedweder Karriereleiter. Seinem Ärger über eine belarusischsprachige Rede, die er wohlgemerkt auf dem 40. Jahrestag der BSSR hatte hören müssen, soll ChruschtschowNikita Chruschtschow (1894–1971) war zwischen 1953 und 1964 Parteivorsitzender der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Er übernahm das Amt nach Stalins Tod, 1956 initiierte er mit seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Entstalinisierung des Landes. Chruschtschow betrieb ein massives Programm der Aufrüstung, dessen Auswirkungen als eine der Ursachen für die Kuba-Krise 1962 gelten. Seine Annäherung an die BRD sowie seine tiefgreifende Parteireform kosteten ihn viele Unterstützer in der KPdSU-Führung: 1964 wurde Chruschtschow gestürzt, sein Amt übernahm Leonid Breshnew. mit den Worten Luft gemacht haben: „Je eher wir alle Russisch sprechen, desto eher haben wir den Kommunismus aufgebaut“.4 Das Russische hatte nun die „zweite Muttersprache“ aller nicht-russischen Ethnien zu sein. Trotz allem war das Belarusische als Unterrichtssprache bis in die Nachkriegszeit hinein aber noch recht gut vertreten. Als Eltern ab 1958 jedoch die Unterrichtssprache ihrer Kinder frei wählen durften, optierten die meisten für das in der Sowjetunion unverzichtbare Russische, nicht für das verzichtbare Belarusische.

Belarusisch im unabhängigen Belarus

Zum Ende der Sowjetzeit sah es für das Belarusische düster aus. Erst in der PerestroikaIm engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. Mehr dazu in unserer Gnose -Stimmung der 1980er Jahre konnten sich national orientierte Intellektuelle für das Belarusische stark machen. Als alleinige Staatssprache der nun unabhängigen Republik Belarus erlebte es dann Anfang der 1990er Jahre einen vorerst letzten Aufschwung. Insbesondere der Anteil der Schüler*innen, die auf Belarusisch unterrichtet wurden, stieg stark an. Der Rückhalt in der Bevölkerung für die allgemeine Durchsetzung einer Sprache, die von vielen kaum benutzt und eher mittelmäßig beherrscht wurde, war jedoch nicht allzu groß. Vielen ging es zumindest zu schnell und in der postsowjetischen Wirtschaftskrise waren vielen Belarus*innen andere Probleme dringlicher. Auf diese Stimmung bauend ließ Präsident Alexander LukaschenkoAlexander Lukaschenko, 1954 geboren, wurde nach der Unabhängigkeit von Belarus 1994 zum ersten Präsidenten des jungen Landes gewählt. Mit seinem Talent, Menschen zu erreichen, und seinen populistischen Losungen, die versprachen, die Korruption und die Wirtschaftskrise zu bekämpfen, konnte er die Wahl für sich entscheiden. Danach begann er, die demokratischen Freiheiten sukzessive abzuschaffen, das Parlament zu entmachten und die Opposition zu verfolgen. Er errichtete eine Diktatur, die sich bis heute als äußerst zäh erweist. Waleri Karbalewitsch über die Entwicklung des Systems Lukaschenko und die Gründe für dessen Langlebigkeit.   Mehr dazu in unserer Gnose kurz nach seinem Antritt im Mai 1995 ein in seiner Rechtmäßigkeit umstrittenes Referendum durchführen, das unter anderem auch auf die Staatssprache abzielte. Die entsprechende Frage war geschickt formuliert: Es ging nicht etwa darum, die Förderung des Belarusischen zurückzunehmen oder es gar zurückzudrängen, sondern darum, „dem Russischen den gleichen Status wie dem Belarusischen“ einzuräumen. Offiziell 87 Prozent der gültigen Stimmen zeigten sich damit einverstanden.

Heute sind Belarusisch und Russisch rechtlich gleichberechtigte Staatssprachen der Republik Belarus. Personen, die sich für eine stärkere Position des Belarusischen einsetzen, kann die offizielle Seite entgegnen, dass man das Belarusische ja keinesfalls zurückdränge. Man sei – so etwa Lukaschenko – lediglich dagegen, eine der beiden Sprachen mit Zwang durchzusetzen.5 Ganz ähnlich wie bei der freien Wahl der Unterrichtssprache in den 1950er Jahren ist das Belarusische ohne eine positive Diskriminierung jedoch chancenlos. Denn ob im alltäglichen Gebrauch, im öffentlichen Leben, den Medien, dem Bildungswesen, dem Buchmarkt, bei Regierungs- und Verwaltungsorganen, im Geschäftswesen, in der Wissenschaft – überall dominiert das Russische, das Belarusische spielt allenfalls eine marginale Rolle.
So gab im Zensus von 2019 zwar immerhin ein gutes Viertel der knapp acht Millionen ethnischer Belarus*innen6 an, zu Hause für gewöhnlich das Belarusische zu benutzen. Dass sich dahinter aber nicht die Standardsprache verbirgt, wird in anderen Umfragen deutlich. Können die Befragten nicht nur Belarusisch oder Russisch ankreuzen, sondern auch „Trassjanka“ oder „belarusisch-russisch gemischt“, dann sinkt der Anteil der Belarusischsprecher*innen auf unter fünf Prozent.7
 

Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt.8

Der zweifellos marginale Status des Belarusischen im Gebrauch wird zuweilen sogar in ein Argument gegen dessen Förderung umgemünzt: Dass niemand es im Alltag benutze, zeige, dass diese „Sprache der Schriftsteller“ nicht für den Alltag tauge. Das verkennt allerdings, dass das Belarusische für einige, wenn auch wenige, durchaus die praktikable und normale Alltagssprache ist. Bei dieser Gruppe handelt es sich um eine national gesinnte Minderheit, oft mit einer Vorliebe für die erste, nicht-russifizierte Norm des Belarusischen, die Taraschkewiza. Der Gebrauch des Belarusischen in der Öffentlichkeit ist ungewöhnlich und damit als Statement zu verstehen. Umgekehrt ist es jedoch keineswegs so, dass der Gebrauch des Russischen auf eine regierungstreue Haltung oder die Ablehnung einer belarusischen Eigenständigkeit schließen lässt. Die Sprachenfrage ist entsprechend auch in den gegenwärtigen Protesten „seltsam abwesend“9


Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt.10

Die Situation des Belarusischen ist heute von vielen Widersprüchen geprägt. So betrachten etwa viele Belarus*innen das Belarusische als ihre Muttersprache11, obwohl sie es kaum sprechen. Auch sehen viele die Sprache noch als wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Belarus*innen zu den Russ*innen, stimmen jedoch der Aussage zu, dass man auch Belarus*in sein könne, ohne die Sprache zu sprechen. Grundsätzlich beherrschen solle man sie jedoch schon, auch wenn für die allermeisten das Belarusische heute eine lediglich im Klassenzimmer erlernte und auf schulische Kontexte beschränkte Sprache ist. Nach wie vor hegen aber viele junge Belarus*innen den Wunsch, dass ihre eigenen Kinder einmal nicht nur das Russische, den jasyk, beherrschen, sondern auch: die belarusische mowa.12 Ob den Belarus*innen in ihrer Mehrheit die symbolischen, aber letztlich homöopathischen Dosen des Belarusischen in Metro, Schule und anderswo ausreichen, wird sich zeigen müssen.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

 

Zum Weiterlesen
Bieder, H. (2001): Der Kampf um die Sprachen im 20. Jahrhundert, in: Beyrau, D./Lindner, R. (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen, S. 451–471
Hentschel, G./Kittel, B. (2011): Zur weißrussisch-russischen Zweisprachigkeit in Weißrussland – nicht zuletzt aus der Sicht der Weißrussen, in: Bohn, Th. et al. (Hrsg.): Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld, S. 49–67
Woolhiser, Curt (2013): New speakers of Belarusian: Metalinguistic Discourse, Social Identity, and Language Use, in Bethea, David M./Bethin, Christina Y.  (Hrsg.): American Contributions to the 15th International Congress of Slavists, Minsk, August 2013, Bloomington, S. 63–115
Zaprudski, S. (2007): In the grip of replacive bilingualism: The Belarusian language in contact with Russian, in: International Journal of the Sociology of Language 183, S. 97–118

1.Moser, M. (2005): Mittelruthenisch (Mittelweißrussisch und Mittelukrainisch): Ein Überblick, in: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 50, S. 125–142; Bunčić, D. (2006): Die ruthenische Schriftsprache bei Ivan Uževyč unter besonderer Berücksichtigung der Lexik seines Gesprächsbuchs Rozmova/Besěda, München 
2.Kohler, G.-B. (2014): Selbst, Anderes Selbst und das Intime Andere: Adam Mickiewicz und Jan Čačot, in: Studia Białorutenistyczne 8, S. 79–94, hier S. 83 
3.Brüggemann, M. (2014): Zwischen Anlehnung an Russland und Eigenständigkeit: Zur Sprachpolitik in Belarus', in: Europa ethnica 3-4/2014, S. 88–93, hier S. 89 
4.zit. nach: Korjakov, Ju. B. (2002): Jazykovaja situacija v Belorussii i tipologija jazykovych situacij, Moskva, hier S. 39 
5.nach Brüggemann, M. (2014): Die weißrussische und die russische Sprache in ihrem Verhältnis zur weißrussischen Gesellschaft und Nation: Ideologisch-programmatische Standpunkte politischer Akteure und Intellektueller 1994–2010, Oldenburg, hier S. 112 
6.Mit ethnischen Belarus*innen sind dabei belarusische Staatsbürger*innen gemeint, die sich nicht als Russ*innen, Pol*innen, Ukrainer*innen etc. identifizierten. 
7.Kittel, B./Lindner, D./Brüggemann, M./Zeller, J. P./Hentschel, G. (2018): Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel: Eine sprachsoziologische Untersuchung der weißrussisch-russisch gemischten Rede „Trassjanka“ in Weißrussland, Berlin, hier S. 180; Informacionno-analitičeskij centr pri Administracii Prezidenta Respubliki Belarus’ (Hrsg.) (2018): Respublika Belarus’ v zerkale sociologii: Sbornik materialov sociologičeskich issledovanij, Minsk, hier S. 46 
8.Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt. Vgl. Kittel et al. 2018, S. 180 
9.Brüggemann, M. (2020): Demokratie nur auf Belarusisch? Eine Reise in die sprachpolitischen „Befindlichkeiten“ der Belarus, in: Bohn, T./Rutz, M. (Hrsg.): Belarus-Reisen: Empfehlungen aus der deutschen Wissenschaft, Wiesbaden, S. 53–69, hier S. 69 
10.Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt. Vgl. Hentschel, G./Brüggemann, M./Geiger, H./Zeller, J. P. (2015): The linguistic and political orientation of young Belarusian adults between East and West or Russian and Belarusian, in: International Journal of the Sociology of Language 2015/236, S. 133–154, hier S. 151 
11.In der Entsprechung zum deutschen Wort „Muttersprache“ ist weder im Belarusischen noch im Russischen von „Mutter“ die Rede. Im Belarusischen ist es „rodnaja mova“, im Russischen „rodnoj jazyk“. Das Attribut „rodnaja“ bzw. „rodnoj“ ist am ehesten vergleichbar mit dem englischen „native“. In anderen Kontexten kann es mit „leiblich verwandt“, „Heimat‑“ oder „angeboren“ übersetzt werden. Abgeleitet ist es von der Wurzel „rod“, zu übersetzen unter anderem mit „Stamm, Geschlecht“, die auch im Wort „narod“ „Volk“ vorkommt. Vgl dazu: Zeller, J. P./Levikin, D. (2016): Die Muttersprachen junger Weißrussen: Ihr symbolischer Gehalt und ihr Zusammenhang mit sozialen Faktoren und dem Sprachgebrauch in der Familie, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch (Neue Folge) 4, S. 114–144 
12.Hentschel, G et al. 2018, S. 151 
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Janka Kupala

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)