Im Mai 2024 brach Pavel Kritchko Richtung Osten auf. Der belarussische Fotograf hatte wegen der Repressionen seine Heimat verlassen und war in Deutschland gelandet. Er fuhr nach Podlachien, eine Region im östlichen Polen, wo eine belarussische Minderheit beheimatet ist. „Während der gesamten Expedition hatte ich das Gefühl, nach Hause zurückzukehren”, sagt Kritchko, „und die gleichen Erfahrungen zu machen, die ich als Kind gemacht habe.”
So entstand das Fotoprojekt Podlachien, das sich um die Suche nach Identität dreht. Wir haben mit dem Fotografen gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.
Eine alte Eisenbahnbrücke an der polnisch-belarussischen Grenze, nahe dem Grenzübergang Bobrowniki, der im Februar 2023 von den polnischen Behörden geschlossen wurde, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko
„Der Schriftzug МИР (dt. Frieden oder Welt) befindet sich auf belarussischer Seite. Ende Mai 2024 präsentierten die polnischen Behörden einen Plan zur Errichtung von Grenzbefestigungen entlang der gesamten Grenzlinie zu Belarus und Russland. Die Kosten betragen voraussichtlich 2,5 Milliarden Euro.”
dekoder: Nicht alle unserer Leser haben von der Region Podlachien gehört - erzählen Sie uns ein wenig darüber. Was ist das für eine Region und was ist so besonders an ihr?
Pavel Kritchko: Podlachien (poln. Podlasie, belaruss. Padljaschscha) ist eine Region im Osten Polens an der Grenze zu Belarus, wo 56.000 polnische Staatsbürger leben, die im Zensus 2021 angaben, Belarussen zu sein. In der Region gibt es einige belarussische Schulen, an denen belarussische Sprache und Literatur auf dem Lehrplan stehen. Meinem Gefühl nach sind es hauptsächlich das orthodoxe Christentum und die mit kirchlichen Festtagen verbundenen volkstümlichen Bräuche, die die belarussische Gemeinschaft Podlachiens verbinden. Vor allem die ältere Generation beherrscht noch frei die podlachischen Dialekte, während die Jugend sie zwar versteht, aber nicht mehr aktiv nutzt. Jahrzehntelang galten diese Dialekte als Dorfsprache mit geringem Prestige, in letzter Zeit ist das Interesse an ihnen wieder gestiegen, da Aktivisten, Musiker und Schauspieler sie wieder unters Volk bringen.
Die Bewohner der grenznahen Wojewodschaft Podlachien waren im 20. Jahrhundert durch den Ersten Weltkrieg und die anschließenden nationalen und religiösen Konflikte einschneidenden Migrationszwängen ausgesetzt. Heute symbolisiert diese Region die Grenze zwischen den Belarussen, die ab 2020 ihr Land verlassen haben, und jenen, die geblieben sind, aber auch zwischen dem Westen (EU) und dem Osten (Belarus, Russland, China). Die angespannte Situation spitzte sich durch den Bau eines Grenzzauns zu, die Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika davon abhalten soll, durch Belarus in die EU zu gelangen, aber auch potentielle militärische Konflikte mit Russland verhindern soll.
Wie ist Ihr Fotoprojekt zu Podlachien entstanden?
Im März 2024 wurde ich in die Internationale Klasse für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover aufgenommen, wo ich mit großem zeitlichem Aufwand ein Archiv der Jahre 2020 bis 2023 anlegte: Ein Teil besteht aus Fotos von den Protesten, der andere aus Geschichten aus dem Exil. Das war ein sehr eigentümliches Großprojekt über parallele Realitäten: Belarus, wie ich es 2020 gesehen hatte, und die Belarussen, die – wie ich – im Ausland gestrandet waren. Je länger ich im Exil bin, desto schwächer wird meine Verbindung zu dem Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, zu den Menschen und Orten. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, dass Podlachien sich genau zwischen diesen beiden Realitäten befindet und dort viele ethnische Belarussen leben, die ungeachtet aller Schwierigkeiten und Veränderungen, die die letzten Jahrhunderte mit sich brachten, ihre Identität zu bewahren wussten. Ich dachte, diese Region könnte ein Bindeglied für mein Großprojekt sein, deshalb fuhr ich im Mai 2024 hin, um sie näher kennenzulernen.
Das Projekt als eine Art Spiegelbild ihrer eigenen Suche?
Als ich im Frühjahr 2024 durch Podlachien reiste, war ich fasziniert davon, dass ein Teil der ethnischen Belarussen dieser Gegend, oder einfach die Bewohner Podlachiens, sich jahrelang die Identitätsfrage gestellt und eine Antwort darin gefunden hatten, dass sie sich als Einheimische und ihre Dialekte als ihre bezeichneten.
Genau darum geht es in meinem Projekt – um das Finden und Bewahren der eigenen Identität. Darüber hinaus ist es auch ein sehr persönliches Thema. Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise, auf der ich meine Erfahrungen in verschiedenen Phasen meines Lebens nachempfinde: die Reise mit meinem Vater in sein Dorf vor 30 Jahren, oder das Belarussische Fest in Białystok, das mich irgendwie an Maladsetschna erinnerte, und viele andere Assoziationen.
Wie genau haben die Podlachen die Ereignisse in Belarus seit 2020 verfolgt?
Schwer zu sagen, weil ich 2020 in Belarus war und nicht gesehen habe, wie man in Podlachien auf die Ereignisse reagierte. Ende 2021 war ich einen Monat lang in Białystok und konnte dort die belarussische Diaspora beobachten, die sich im Exil wiederfand und die das Jahr 2020 zusammengeschweißt hatte. Diese Welle von Menschen, die ab 2020 nach Polen kamen, brachte neue Ideen, frischen Schwung und Energie, sie motivierten die schon früher emigrierten Belarussen, die den Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung helfen wollten und konnten.
Ein Beispiel für die Anteilnahme an 2020 ist das Tattoo einer Belarussischlehrerin, die noch nie in Belarus war. Das Tattoo zeigt das Symbol der vereinten Opposition im Wahlkampf 2020. Ebenso kann man die Kundgebungen der lokalen Bevölkerung (sowohl polnischer Belarussen als auch einfach Polen aus Podlachien) zur Unterstützung des Wandels in Belarus erwähnen. Viele Podlachen haben Verbindungen nach Belarus: Manche haben dort Verwandte, manche haben dort gearbeitet, manche sind einfach hingefahren, um billige Zigaretten zu kaufen und zu tanken, manche hatten ein Geschäft für Belarussen, die nach Polen kamen. All das wurde von den Ereignissen 2020 indirekt beeinflusst.
Wie ist das Verhältnis zwischen den Podlachen und den Belarussen, die neu dazugekommen sind?
In Podlachien leben auch viele Belarussen, die Belarus aus politischen Gründen verlassen mussten. Man kann die Belarussen Podlachiens ins drei Gruppen unterteilen: die ethnische Minderheit (Belarussen, die in Polen geboren wurden, einen polnischen Pass haben, sich aber als Belarussen identifizieren), Belarussen, die vor 2020 emigriert sind, und diejenigen, die seit 2020 das Land verließen, um den Repressionen in Belarus oder dem Krieg in der Ukraine zu entgehen.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen drei Gruppen konnte ich nicht abschließend klären. Mein Eindruck war, und das erzählte man mir auch, dass die erste Gruppe in einer anderen Realität lebt als die zweite und dritte Gruppe, sie haben unterschiedliche Interessen: Die Einen kämpfen für den Erhalt der belarussischen Schulen in der Region und für die Kultur, die Anderen müssen zunächst ihren Alltag regeln und sich ein Leben im erzwungenen Exil aufbauen.
Wann haben Sie selbst Belarus verlassen?
Im August 2021, um an einem Residenzprogramm für Fotografen in Warschau teilzunehmen, organisiert vom Kollektiv Sputnik Photo. Ich hatte ein Ticket für die Rückfahrt, aber angesichts der Umstände ließ ich es verfallen: zuerst die Gerichtsverhandlungen gegen Maria Kalesnikawa und Maxim Snak und die Urteile, dann die Selzer-Prozesse und die Verhaftung des Journalisten (Henadz – dek) Maschejka von der Komsomolskaja Prawda. Irgendwann war ich endgültig überzeugt, dass man nicht mehr offen sagen kann, was man denkt, Freunde rieten mir, ein wenig abzuwarten und nach Möglichkeit nicht sofort zurückzukehren, und schließlich ließen mich die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze und der Beginn des Krieges in der Ukraine meine Rückkehr endgültig vergessen, solange sich nichts geändert hat.
War es schwer, sich an ein neues Leben zu gewöhnen?
Es war dann gar nicht so leicht, sich einzuleben. Das Schwierigste ist sich einzugestehen, dass es für lange ist. Es gibt einen Zustand der Ungewissheit. Leuten, die Belarus bewusst verlassen, fällt das Ankommen etwas leichter – weil es ihr Ziel ist, sich ein Leben irgendwo im Ausland aufzubauen. Ich würde nicht sagen, dass ich Heimweh habe, mich nach Dingen oder Orten sehne. Ich habe vielmehr das Gefühl, das irgendwo tief in mir vergraben zu haben und mir zu sagen, dass solche Gedanken mich nur daran hindern würden, auf die neue Umgebung einzulassen.
Ich habe zweieinhalb Jahre in Polen gelebt, davon fast anderthalb Jahre nur mit einem polnischen Visum [also ohne Reisemöglichkeit, Anm. dek], nun bin ich nach Hannover gezogen, um hier in die Fotografieszene einzutauchen. BelarusTown in Warschau lasse ich ein wenig hinter mir, weil es meine Integration und Sozialisation in der lokalen Gesellschaft auch ein bisschen behindert hat. Jetzt lebe ich in zwei Ländern – Deutschland und Polen: In dem einen studiere ich, im anderen setze ich meine Arbeit an den Geschichten über Belarus fort, weil es dort mehr Belarussen gibt und einfach deutlich mehr passiert.
Die Umgebung von Terespol nahe dem polnisch-belarussischen Grenzübergang für PKW und Busse, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko
„Dort wird geparkt, geschraubt und gerastet. Im Moment ist Brest-Terespol der einzige offene Grenzübergang für den Personenverkehr aus Belarus, der dortige Übergang kann jederzeit eingeschränkt oder geschlossen werden. Seit April 2022 besteht seitens der EU ein Einreiseverbot für LKW aus Belarus und Russland, auch für den Transit. Belarus reagierte umgehend und zwingt nun auch Spediteure aus der EU, ihre Fracht an der Landesgrenze zu übergeben.”