Der Protest in Belarus wird besonders von Frauen getragen und geprägt, darüber ist schon viel gesagt worden. Olga Shparaga ist eine der prominentesten Stimmen in diesem Diskurs. Die Philosophin lehrt am European College of Liberal Arts in Belarus, ist Mitglied im Koordinationsrat der Opposition – und auch international bekannt, im April 2021 erscheint ihr Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht in deutscher Übersetzung im Suhrkamp-Verlag.
Shparaga befindet sich aktuell in der Haftanstalt Shodino östlich von Minsk, nachdem sie während einer friedlichen Demonstration Anfang Oktober zunächst für einen Tag festgenommen und am 12. Oktober schließlich zu einer 15-tägigen Haftstrafe verurteilt wurde – für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“.
Inwiefern die Figur der Frau in patriarchalen Strukturen heute stellvertretend für die gesamte belarussische Gesellschaft steht, warum sich so viele Menschen in Swetlana Tichanowskaja wiedererkennen können, und wie die Oppositionsbewegung auch auf diejenigen zugehen kann, die ihr kritisch gegenüber stehen – darüber sprach Shparaga noch kurz vor ihrer Haft beim Spaziergang mit Darja Amelkowitsch vom unabhängigen belarussischen Portal Reformation.
Wir beobachten zurzeit, wie sich unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen zusammentun und gemeinsam protestieren. Kann man diese Bewegung als neue Solidarität bezeichnen?
Schon während der Wahlkampagne haben wir gesehen, wie eine neue gesellschaftliche Energie freigesetzt wurde. Nach den Wahlen erreichte sie eine neue Intensität, als den Leuten nichts anderes übrigblieb, als auf die Fälschungen und den von der Regierung entfesselten Terror zu reagieren. Für die Gesellschaft gab es kein Zurück mehr. Die Leute spürten, was für eine gewaltige Energie plötzlich da war, was für eine Solidarisierung im Gange war, und suchten nach Formen, sie zu bewahren. Wir sehen auch jetzt noch, wie diese Formen sich wandeln, wie neue erfunden und weiterentwickelt werden.
Was zeichnet diese Solidarität aus?
Die Idee der Humanität. Dass Menschen sich miteinander solidarisieren, einfach weil sie Menschen sind. Weil sie finden, dass niemandem Gewalt angetan und niemand in seinen Grundrechten und seiner Freiheit eingeschränkt werden darf. Wir sehen, wie diese Idee die Leute über alle beruflichen, alle Alters- und Geschlechtsunterschiede hinweg vereint: Sie wollen aktive Bürgerinnen und Bürger sein, dafür stehen sie ein. Sie wollen keinen autoritären Staat und sind bereit, sich miteinander zu verständigen, um dieses Ziel zu erreichen.
Wir haben viel über die Atomisierung der belarussischen Gesellschaft diskutiert. Ihr fehlt Debattenerfahrung, ihr fehlt Vertrauen. Und plötzlich war da diese große Offenheit und Toleranz, der Wunsch der Menschen, gemeinsam etwas zu schaffen und sich daran zu freuen.
Derzeit wird viel diskutiert, ob man nicht alle Kräfte darauf richten sollte, den politischen Gefangenen zu helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Oder ob es richtig ist, dass sich die Leute abends in den Innenhöfen versammeln, um positive Emotionen zu teilen – ich finde, das ist alles wichtig. Die Menschen brauchen einen emotionalen Rückhalt, sie suchen Verständigung und wollen vertrauensvolle Beziehungen aufbauen. Es ist genau die Art von Solidarität, die unserer Gesellschaft bislang gefehlt hat.
Und doch lebt ein Teil der Gesellschaft immer noch in einer anderen Realität. Diese Menschen halten Veränderungen weder für notwendig noch für wünschenswert. Sie werfen dem progressiven Teil der Gesellschaft vor, die Stabilität aufs Spiel zu setzen. Was kann man diesem paradoxen Argument entgegnen, wenn man bedenkt, dass der Sozialstaat praktisch nicht mehr existiert?
Führen wir uns diese Gruppe vor Augen. Sie ist überaus heterogen. Glühende Lukaschenko-Anhänger gibt es dort kaum, sondern vor allem Frauen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Frauen haben ein kleines Gehalt, sie müssen sich um ihre Kinder kümmern, oft auch um ihre alten Eltern. Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist deshalb groß. Diese Gruppe hat sehr wenig Freizeit. Wenn die Frauen außerhalb von Minsk wohnen, haben sie häufig keine Zeit, ins Internet zu gehen. Deswegen bleiben ihnen die vielen Wege der Solidarität verborgen – sie wissen schlicht nicht, wo sie Hilfe erhalten können. Das Regime wiederum nutzt sie aus und droht ihnen damit, dass sie alles verlieren. Dasselbe tut auch die Propaganda, die behauptet, eine neue Regierung werde sich nicht um sozial schwache Gruppen kümmern.
Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist groß
Es gibt in dieser Gruppe sicher auch Menschen, die unter Lukaschenko Karriere gemacht haben und dank ihm sozial aufgestiegen sind. Sie sind dem System gegenüber loyaler. Aber es gibt auch Menschen, die in Lukaschenkos System gefangen sind. Beide muss man ansprechen, in unterschiedlicher Weise.
Wir müssen uns eingestehen, dass sich der alternative Diskurs derzeit überhaupt nicht an diese Gruppe richtet. Wir können nicht nur über Privatisierung [des staatlichen Eigentums] und politische Freiheiten sprechen. Wir müssen uns auch um die anderen Themen kümmern: Was wird aus dem Schulsystem, dem Gesundheitswesen, den sozial Benachteiligten? Die Gesellschaft braucht auch dieses Narrativ.
Wie stehen Sie dazu? Sind Sie auch eine Verfechterin des Sozialstaats?
Ja. Aber nur, wenn er funktioniert wie in Deutschland oder Schweden. In Belarus ist er seit langem erodiert, wie wir bei Corona gesehen haben, oder auch, als die halbe Stadt ohne Wasser war. Die Regierung unternahm nichts und erklärte: „Das ist euer Problem.“ Das wäre in einem Sozialstaat undenkbar. Der ganze Beamtenapparat, die Ministerien – wozu sind sie da? Ich bin sicher, dass sich viele Leute zum ersten Mal gefragt haben, ob sie mit einem anderen Staat nicht besser dran wären.
Es wird weitere Pandemien wie Corona geben, und dafür braucht es ein funktionierendes Gesundheitssystem, und überhaupt soziale Unterstützung. Der Staat sollte keine Ideologie erfinden, sondern den Menschen helfen. Es gibt verschiedene Institutionen, die mit einem vernünftigen Steuersystem gut funktionieren würden. Ich denke, wenn wir heute für so ein Modell des Sozialstaates kämpfen, gewinnen wir gleichzeitig neue Anhänger.
Kommen wir zur Kreativität der Frauenbewegung, die zum Gesicht der belarussischen Proteste wurde. Frauen haben sich einen Glitzermarsch ausgedacht, oder sie kommen zusammen und bilden eine Kette, weiß gekleidet, Blumen in den Händen … Heute spricht die ganze Welt über die belarussischen Frauen, weil sie mutig, schön und kreativ sind.
Es war ein langer Prozess. Alles hat mit der Solidaritätsaktion für die Eva von Chaim Soutine begonnen. Das war noch im Juni. Diese Bewegung wurde überwiegend von Frauen unterstützt, weil viele von ihnen mit der Sammlung der Belgazprombank zu tun hatten: Künstlerinnen, Kuratorinnen. Auch im Kulturbetrieb gibt es sehr viele Frauen, insbesondere in den Projekten, die Viktor Babariko unterstützt hat. Die Frauen machten Eva zu einem Sinnbild für sich selbst: Viele fotografierten sich als Eva oder trugen T-Shirts mit Eva.
Haben sie sich mit ihr identifiziert?
Ja. Wohlgemerkt nicht mit dem Bild einer halbnackten Frau auf dem Sofa, sondern mit Eva. Mit dieser strengen, ernsten, vielleicht sogar missbilligenden, herausfordernden Frau – sie wurde zum Gesicht der weiblichen Solidarität. Später kamen dann die Bilder, die für das schwache Geschlecht standen.
Die Frauen in Weiß?
Ja. Und mit Blumen. Als sich die Frauen am 12. August auf dem Komarowka-Markt versammelten, als der Terror der Behörden losging. Das war so ein Bild der Weiblichkeit, der Schwäche. Und gleichzeitig ein Symbol dafür, dass auch in der Schwäche eine Stärke liegt. Unsere Revolution – der friedliche Protest – ist ein Ausdruck dafür: Man kann sich wehren und für seine Rechte kämpfen, auch wenn man schwach ist.
Als die Frauen am 12. August eine Kette bildeten, wussten sie nicht, wie die Sicherheitskräfte reagieren würden. Heute können wir sagen, die Frauen werden nicht inhaftiert, ihnen wird weniger Gewalt angetan, aber ich weiß, dass sie Todesangst hatten, als die Aufseher um sie herumliefen und keiner wusste, wie es ausgehen würde. In dieser Haltung liegt eine große Selbstaufopferung.
Diese Reaktion wurde zum Vorzeichen dafür, dass die Revolution friedlich verlaufen könnte. Dass wir friedliche, kreative Wege gehen. Wir werden sie, unsere Freunde, unsere Nächsten, bis zum Schluss verteidigen.
Die nächste Etappe, das waren dann schon die Frauenmärsche?
Die Frauen nehmen längst eine aktive Position ein. Ob feministische Elemente oder LGBTQ-Community, die Märsche zeigen, dass das weibliche Subjekt existiert. Die Frauen sprechen nicht mehr als Opfer.
Der Protest hat viele unterschiedliche weibliche Gesichter, denn auch die Frauen sind ja alle ganz unterschiedlich. Wir haben unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Doch das Thema Gewalt hat alle vereint. Eva wurde „verhaftet“. Die Männer landeten in den Gefängnissen – die Frauen gingen gegen Gewalt und Willkür auf die Straße. Die Frauen machen klar, dass die Gewalt die Gesellschaft als Ganze betrifft. Sie sagen es mit den unterschiedlichsten Slogans. Das Wichtigste ist, dass Plakate, die ich sonst auf feministischen Demos gesehen hatte (wie „Er schlägt dich, also wandert er in den Knast“), auf den großen Frauenmärschen auftauchten. Ein Plakat für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt wurde zum Symbol dafür, wie sich die ganze Gesellschaft wahrnimmt. Das bedeutet, die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt.
Sobald die Frauen ihre Position behaupteten und Subjekte wurden, begegnete die Staatsmacht ihnen mit Gewalt. Bis dahin verhielt sie sich nachsichtig. Wie würden Sie das interpretieren?
Warum wohl hat Swetlana Tichanowskaja die Wahlen gewonnen? Weil Lukaschenko sie nicht ernstgenommen hat. Aber die Gesellschaft hat sie ernstgenommen. Maria Kolesnikowa hat ihren Pass zerrissen und ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Frauen haben erzwungen, dass man fortan mit ihnen zu rechnen hat. Die Staatsmacht, die nur auf Gewalt setzt, fand die entsprechende Antwort.
Die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt
Doch die Art des Protestes hat sich dadurch nicht geändert. Der Koordinationsrat plant keinen Staatsstreich, die Frauenmärsche sind völlig friedlich. Dieses Engagement hat mittlerweile einen Rückhalt in der Gesellschaft, es kann nicht mehr ignoriert werden.
Sprechen wir über unsere Anführerinnen – Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa.
Ihr Wahlkampfbündnis war gut, weil darin verschiedene Frauen vertreten waren. Jede von ihnen arbeitete für die eigene Gruppe. Maria Kolesnikowa vertritt eine eher aktivistische Position; in einem der Interviews bezeichnete sie sich als Feministin. Swetlana Tichanowskaja sagte, sie sehe sich selbst nicht in der Politik. Veronika Zepkalo ist Managerin und richtet sich an Frauen in der Wirtschaft. Ich denke, die Kraft lag in der Zusammensetzung dieses Bündnisses.
Und was Swetlana betrifft: Ihre Reaktion gleicht der Reaktion der belarussischen Gesellschaft. Auch sie überwindet sich selbst und schöpft daraus Kraft. Das ist toll. Ich denke, die Menschen erkennen in ihr sich selbst. Vielleicht wollten die Belarussen sich nicht an dieser Wahl beteiligen, wollten nicht aktiv werden. Aber dann entstand eine Situation, die die Leute in den Protest trieb. Die Wahlfälschungen, die brutale Gewalt des Staates gegen seine Bürger … Die Menschen haben Angst, es ist schwer, Alltag und Protest unter einen Hut zu bringen, aber sie machen es trotzdem, sie tun sich zusammen und kämpfen.
Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben. Wir wollen und können nicht mehr in einem autoritären Staat leben.
Dabei sagt sie aber auch, ein starker Anführer werde künftig an ihre Stelle treten.
Das ist schade. Ich finde, wir brauchen keine starken Anführer, wir brauchen eine starke Gesellschaft. „Wir wollen nicht auf Anführer hoffen“ – das höre ich von vielen engagierten Menschen.
Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben
Wie die Erfahrung gezeigt hat, kann ein starker Anführer uns und unsere Bedürfnisse ignorieren. Wichtig ist, dass der politische Anführer unser Partner ist, einer von uns.
Um Ihren Gedanken fortzuführen: Mir fällt der berühmte Ausspruch von Maria Kolesnikowa ein: „Liebe Belarussen, ihr seid unglaublich!“ Darin steckt doch die Grundeinstellung: Alles, was die Belarussen tun müssen, ist an sich selbst zu glauben. Oder etwa nicht?
Wenn wir davon ausgehen, dass sich unsere Gesellschaft in einem Zustand der Gewalt befindet, (erinnern Sie sich, wie Lukaschenko sagte: „Eine Geliebte lässt man nicht gehen“), so heißt das: Ihr fehlt der Glaube an die eigene Stärke. Es gibt viele Formen der Gewalt: physische, ökonomische, psychische. Oft fällt es schwer zu erkennen und sich einzugestehen, dass man Gewalt ausgesetzt ist. Oft wissen die Frauen nicht, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollen.
Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass jenes Empowerment, von dem die Feministinnen reden, der Glaube an die eigene Stärke, genau das ist, was man in solchen Situationen braucht. „Ich beende eine Missbrauchsbeziehung“, sagen die Frauen heute. Offenbar ist es genau das, was heute die gesamte Gesellschaft tun muss. Und dafür muss sie auf ihre eigene Stärke vertrauen.
Das ist eine wichtige Parallele, aber ich muss doch fragen, wie es weitergeht. Natürlich verändert sich unsere Gesellschaft. Doch wie stehen die Chancen, dass die konkreten Frauen, über die wir heute gesprochen haben, aber auch die Frauen insgesamt, in der Politik bleiben, wenn das gegenwärtige Regime fällt?
Ich denke, die Frauen, die das Problem erkennen, müssen kämpfen. Das ist eine der Aufgaben, die wir uns in der Koordinationsgruppe, dem Femsowjet, stellen. Wir meinen, dass die belarussische Gesellschaft eine patriarchale Gesellschaft ist. Natürlich verändert sich jetzt etwas, aber das bedeutet nicht, dass es morgen keinen Sexismus mehr gibt und alle Männer aufhören, Frauen herablassend zu behandeln. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Frauen, die sich dessen bewusst sind – die Feministinnen -, die anderen Frauen darin bestärken, sich zu vereinen und ihre Interessen und Probleme zu artikulieren. Ihnen dabei helfen, zu verstehen und daran zu glauben, dass ihre Probleme einer Erörterung wert sind. Ich wiederhole, diese Probleme betreffen die gesamte Gesellschaft. Häusliche Gewalt ist nicht nur das Problem der Frauen.
Warum ist die Gleichheit der Geschlechter so wichtig?
Wenn Männer und Frauen in der Gesellschaft nicht gleichgestellt sind, wie sollen sie dann in anderen Gruppen kooperieren? In Gruppen unterschiedlichen Alters, im Beruf? Wie werden sie sich als Partner erkennen, wenn sie der Meinung sind, dass eine Frau einem Mann in vielerlei Hinsicht unterlegen ist? Deshalb wird die Gleichstellung der Geschlechter in demokratischen Ländern so sehr verteidigt – sie ist wichtig für die gesamte gesellschaftliche Ordnung.
Und die letzte Frage, Olga: Wer ist Ihr Präsident?
Für mich ist der Präsident oder die Präsidentin eher eine technische Figur. Ich wiederhole es: Der Präsident, so würde ich sagen, ist einer oder oder eine von uns. Ein Mensch, der sensibel und offen ist für die Probleme der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Der Präsident muss nicht in erster Linie ein guter Manager, sondern ein guter Kommunikator sein, jemand, der zuhört und bereit ist, Kompromisse einzugehen. Er steht für bestimmte Werte, und für mich sind diese Werte verbunden mit einer inklusiven Gesellschaft.
Haben Sie eine bestimmte Person aus unseren Kreisen im Blick?
Julia Mizkewitsch. Ich sehe sie als mögliche Präsidentin.
PS: Die Feministin und Bürgerrechtlerin Julia Mizkewitsch befindet sich derzeit ebenfalls im Gefängnis.