Medien

„Wir sollten keine Feinde sein“

Nachdem in der ersten Woche nach der Präsidentschaftswahl vorwiegend Lukaschenko-Gegner mit weiß-rot-weißen Flaggen auf den Straßen zu sehen waren, fragten viele Leute schon, wo denn Lukaschenkos Anhängerschaft von 80 Prozent Wählerstimmen sei. Doch schließlich mobilisierte auch die Gegenseite unter der rot-grünen Flagge. Auf einer der ersten Demos stand der Präsident persönlich auf der Rednerbühne und dankte den Anwesenden dafür, dass sie gekommen waren. Kritische Stimmen vermuten, dass Mitarbeiter von Staatsbetrieben zum Teil gezwungen worden waren, mitzudemonstrieren oder in organisierte Busse nach Minsk zu steigen. So wurden in oppositionellen Telegram-Kanälen Anordnungen und Videos veröffentlicht, die ein solches Vorgehen nahelegen, unabhängige Medien berichteten auch über Geldprämien. Tatsächlich waren mit geschätzt 3000 Teilnehmern letzten Endes deutlich weniger Menschen versammelt, als bei der Demonstration der Anhänger Tichanowskajas – zum „Marsch der Freiheit“ waren an demselben Sonntag, 16. August 2020, mindestens 100.000 Menschen ins Minsker Stadtzentrum gekommen. In einem ähnlichen Größenverhältnis zueinander gehen die Kundgebungen beider Seiten im ganzen Land bis heute weiter.
Der russische Journalist Alexander Tschernych hat sich für Kommersant am 19. August unter der Anhängerschaft beider Flaggen umgeschaut und sich mit Menschen unterhalten, die sich in Alter, Geschlecht und familiärer Situation ähneln – nur eben unterschiedlicher Meinung sind. 

Quelle Kommersant

Ich bin extra eine Stunde vor Beginn vor Ort, trotzdem kann ich keine Busse mit herangekarrten Arbeitern entdecken. Doch die Eingänge zum Park werden von Milizionären abgesperrt, die sorgfältig jeden kontrollieren, der gekommen ist, um Alexander Lukaschenko zu unterstützen. Beim Shukow-Denkmal ist eine Bühne aufgebaut, aus den Boxen dringt vorsintflutliche Popmusik, und hinter den Parkbänken ist eine riesige rot-grüne Flagge aufgespannt. Im Park haben sich erst knapp 40 Leute eingefunden, aber von Minute zu Minute werden es mehr. Vor der Bühne stehen zwei Frauen um die 40 mit einem selbstgebastelten Plakat: „Für Batka!“. Als ihnen langweilig wird, beginnen die Frauen, ihren Slogan zu skandieren, die anderen Anwesenden stimmen munter mit ein. Als ich mich umschaue, gerät mein Weltbild ins Wanken: Eine ganz junge Frau skandiert lauthals mit – normalerweise unterstützen solche Swetlana Tichanowskaja.

„Ich bin hier, denn das ist meine Meinung als Bürgerin. Ich liebe mein Land und will keine globalen Veränderungen, wie sie die Opposition zu provozieren versucht. Ich bin für Batka“, erklärt sie mir ruhig.
 
„Und was denken Sie darüber, dass Demonstranten zusammengeschlagen wurden?“
 
„Ich denke, vieles von dem, was Sie im Internet gesehen haben, ist überzogen“, antwortet die junge Frau kühl. „Ich für meinen Teil kenne niemanden, der zu Schaden gekommen ist.“

Mein nächster Gesprächspartner sieht in etwa so aus, wie man sich einen typischen Lukaschenko-Anhänger vorstellt: ein älterer Mann mit prächtigem grauem Schnurrbart und großen, schwieligen Händen. Neben ihm steht seine Frau mit weißem Mundschutz. Bevor sie mit mir sprechen, erkundigen sie sich streng nach meiner Akkreditierung, aber glauben mir dann aufs Wort.

Ich denke, vieles von dem, was Sie im Internet gesehen haben, ist überzogen

„Wir sind hier, weil wir dieses Land aufgebaut haben“, beginnt der Mann. „Ich habe 43 Jahre lang in der Fabrik gearbeitet und bin stolz darauf. Ich will nicht, dass die aus dem Westen kommen und alles wegstehlen, was ich mein Leben lang aufgebaut habe. Nicht mit mir! Ich lasse nicht zu, dass hier das gleiche passiert wie in der Ukraine. Und wir sind ganz sicher nicht nur drei Prozent!“
 
„Wenn es nur einen würdigen Kandidaten gäbe ...“, seufzt die Frau. Aber dann bricht sie verlegen ab und weigert sich weiterzusprechen: „Mein Mann und ich sind derselben Meinung, reden Sie mit ihm.“
 
„Was haben Sie denn gegen Viktor Babariko, der nicht zur Wahl zugelassen wurde?“
 
Der Arbeiter mustert mich abfällig:
 
„Vielleicht liebt man bei euch in Russland die Banker. Aber ich werde nie im Leben für einen stimmen. Er produziert doch nichts, lebt wie die Made im Speck, während ich Tag und Nacht schufte. Und der soll über mich bestimmen? Nee, danke. Wäre da jemand Ernstzunehmendes, einer aus der Technik, aus der Produktion … Aber solche gibt’s bei uns in der Politik noch nicht.“

Ich will nicht, dass die aus dem Westen kommen und alles wegstehlen, was ich mein Leben lang aufgebaut habe

Ich wechsele das Thema:
 
„Haben Sie die Videos gesehen, in denen auf die Demonstranten eingeprügelt wird? Was denken Sie darüber?“
 
„Naja, wissen Sie … die OMON-Leute sind ja auch nur Menschen“, antwortet der Mann schon zweifelnder. „Man sollte auch mal für sie Partei ergreifen. Sie standen unter echtem Stress.“
 
„Ist Stress ein Grund, jemanden zusammenzuschlagen?“
 
„Ich habe verschiedene Videos gesehen ...“, weicht mein Gesprächspartner aus. Dann wechselt er selbst das Thema: „Meinen Sie etwa, dass es keine Provokateure gab? Die gab es ganz sicher – da hat der Westen seine Finger im Spiel. Die wollen Belarus zerstören, damit Russland alleine dasteht. Und sie hier ihre Raketen aufstellen können.“
 
„Finden Sie, Russland sollte sich einmischen?“
 
„Natürlich nicht mit Panzern, wie das bei euch sonst üblich ist“, grinst er. „Aber unterstützen – warum nicht? Wenigstens moralisch.“
 
„Wie könnte das aussehen?“
 
„Die sollen Lukaschenko Wirtschaftsexperten schicken. Vielleicht können die ihm ein paar gute Ratschläge geben. Wir lieben ja unseren Batka, aber er ist halt ein einfacher Mann. Er kommt vom Dorf, er ist kein Wunderkind, sondern ein echter Arbeiter. In wirtschaftlichen Dingen kennt er sich offenbar zu wenig aus.“
 
„Trotzdem wollen Sie nicht für einen Banker stimmen?“
 
„Einen Banker brauchen wir hier nicht. Aber Lukaschenko kann nicht alle Probleme auf einmal anpacken. Wenn ich das richtig sehe, hat Putin ein großes Team von Experten, die sich wirklich mit allem auskennen. Wahrscheinlich haben wir in unserem Land einfach zu wenig Fachleute.“

Die Russen sollen Lukaschenko Wirtschaftsexperten schicken. Vielleicht können die ihm ein paar gute Ratschläge geben. Wir lieben ja unseren Batka, aber er ist halt ein einfacher Mann

Mittlerweile haben sich mehrere Hundert Menschen im Park versammelt. Ich erkundige mich bei dem Ehepaar, ob sie es nicht merkwürdig finden, dass die Demonstrationen gegen Lukaschenko Tausende von Teilnehmern anziehen.
 
„Naja, größtenteils sind das junge Leute – die haben ihre Messenger, das Internet, sie können sich organisieren. Und sie haben sonst nicht viel zu tun. Für Lukaschenko sind eher die Älteren, mit dem Internet kennen wir uns nicht aus, und wir haben auch keine Zeit zu demonstrieren. Da kann sich seine Frau nicht mehr zurückhalten: „Unsere jungen Leute sind nicht arm, sie haben Autos und Handys – aber Lebenserfahrung haben sie keine. Als wir jung waren, haben wir auch vieles nicht verstanden. Anfang der 1990er sind mein Mann und ich auch zu Kundgebungen der Belarussischen Volksfront gegangen, haben Senon Posnjak zugehört und anderen Oppositionellen – wir hatten das Gefühl, dass sie vernünftige Dinge sagen …“
 
„Aber dann hat Gott uns das Hirn eingerenkt“, scherzt ihr Mann. „Wir haben etwas verstanden. Aber die Jugend denkt nicht genug nach, sie lässt sich von Emotionen leiten. Die Hormone spielen verrückt …“
 
„Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man Lebensmittelmarken zum Einkaufen braucht. Aber wir erinnern uns noch gut daran“, ereifert sich die Frau. „Wir haben Vollzeit gearbeitet und hatten trotzdem nichts zum Anziehen, zum Essen. 20 Dollar haben wir verdient! Heute haben wir alles – obwohl wir Rentner sind, können wir in den Urlaub fahren, ins Baltikum zum Beispiel. Wenn man andere Länder betrachtet – uns hier in Belarus geht es auch nicht schlechter, kein bisschen. Die Jugend vermisst immer irgendwas – ich verstehe es einfach nicht, was wollen die denn noch? Es verbietet denen doch niemand den Mund hier, du kannst sagen, was du willst. Es nervt dich, dass man immer nur Lukaschenko im Fernsehen sieht? Dann sieh halt nicht fern! Wo ist das Problem?“
 
„‚Freiheit! Wir wollen Freiheit!‘“, äfft der Mann [die Oppositionellen] nach. „Welche Freiheiten wollen die denn? Ich kann um drei Uhr nachts durch ganz Minsk laufen und bin völlig sicher – das ist für mich Freiheit. Das ist sehr viel wert. Diese Freiheit hat man bei Weitem nicht in jedem Land.“
 
„Glauben Sie nicht, wir hätten nicht versucht, sie zu verstehen, wir haben ihre Meinungen im Internet gelesen. Alle sagen sie: ‚Wenn Lukaschenko bleibt, verlassen wir das Land.‘ Meine Guten, was glaubt ihr denn, wer da auf euch wartet? Was wollt ihr denn dort machen? In Polen Erdbeeren ernten?“

Ich kann um drei Uhr nachts durch ganz Minsk laufen und bin völlig sicher – das ist für mich Freiheit

Vor der Bühne steht eine junge Frau, elegant gekleidet, kurze Haare. Sie hält ein Plakat hoch: „Wir wollen eure Veränderungen nicht!“. Die Buchstaben sind mit bunten Wachsmalstiften gemalt. In ihrer Nähe rennt ein kleines Mädchen herum, wedelt fröhlich mit einem rot-grünen Fähnchen.
 
„Meine Tochter und ich haben das Plakat selbst gemacht, weil wir kategorisch gegen diese Art von Veränderungen sind“, erklärt mir die junge Frau bereitwillig. „Deren Motto ist das Lied von Viktor Zoi. Ich kenne es noch aus meiner Kindheit, aber damals war Belarus ein anderes Land. Jetzt haben die Menschen einfach alles, was sie brauchen. Die Veränderungen sind schon eingetreten, verstehen Sie? Lukaschenko hat so viel für das Land getan, er hat so viel erreicht! Was  wollen sie noch? Mit einem solchen Präsidenten muss man sich weder schämen noch fürchten. In keinem europäischen Land gibt es oder wird es je einen solchen Präsidenten geben, der vor nichts Angst hat. Ich stimme zu – die Menschen sind wirklich zu spät für ihn auf die Straße gegangen. Aber man geht, wenn man gerufen wird, und der Präsident hat uns bislang nicht gerufen. Nun sind wir vielleicht eine Woche zu spät, aber jetzt wird alles anders. Wir werden beweisen, dass Lukaschenkos Anhänger weder Schafe noch Gesocks sind. Es ist kränkend, dass die Demonstranten so etwas sagen. Und es ist sehr kränkend, wie sie unsere heldenhafte Miliz verunglimpfen.“
 
„Aber die OMON-Leute haben doch tatsächlich Menschen verprügelt.“
 
„Haben Sie die Videos denn ganz gesehen? Man hat sie mit Betonplatten beworfen! Das sollen friedliche Proteste sein? Im Internet gibt es grad so viele Lügen. Bei mir im Kindergarten arbeiten Mädels, deren Ehemänner jetzt in Uniformen auf der Straße friedliche Menschen beschützen – sie haben einfach Angst um ihre Männer, haben Angst, auf die Straße zu gehen. Aber was soll’s, jetzt gehen wir für den Präsidenten auf die Straße, dann wird es für alle leichter. Gegen 19 Uhr haben sich im Park an die tausend Menschen versammelt. 
Da hüpft ein junger Mann mit der Stimme eines professionellen Hochzeits- und Firmenfeier-Redners auf die Bühnes. Er heizt die Menge fröhlich an: „Heute haben wir uns hier versammelt, um Belarus zu verteidigen! Man versucht uns aktiv und gewaltsam zu spalten, einen Keil zwischen unsere Brüder und Schwestern zu treiben, zwischen Milizionäre und Lehrer, man will uns in Stücke reißen und zerstören! Sind wir bereit, uns diesem Wahnsinn zu widersetzen?“
„Ja!“, brüllt die Menge.
„Unterstützen wir unseren Batka?“
„Ja!“
„Dann erkläre ich das Mikrofon für eröffnet! Jeder, der will, kann sich in freier und demokratischer Reihenfolge hier nach vorn begeben!“

Wir werden beweisen, dass Lukaschenkos Anhänger weder Schafe sind noch Gesocks sind

Gemäß der „freien und demokratischen Reihenfolge“ treten bei dieser „Volkskundgebung“ ein Vertreter der Kommunistischen Partei auf, ein Mitglied der staatlichen Jugendunion, eine Sängerin des Musiktheaters und so weiter. Sie erzählen alle das Gleiche – loben Lukaschenko und behaupten, die Opposition handle im Interesse des Westens. Ich entferne mich von der Bühne. Weiter hinten im Park steht unter einem Regenschirm ein junges Pärchen – er langhaarig, sie in einem knallbunten Shirt mit Anime-Motiv.
 
„Ich sag’s dir gleich: Wir sind nicht vom Staat  angeheuert, wir sind freiwillig hier, uns hat niemand die Pistole auf die Brust gesetzt“, lacht das Mädchen. „Weißt du, wir haben’s einfach satt. Die Oppositionellen schreien, dass sie mehr sind als die, die für Lukaschenko gestimmt haben. Also haben wir beschlossen, auch nicht mehr zu Hause zu sitzen.“

„Warum habt ihr Lukaschenko gewählt?“

„Ich halte nichts von den Ideen der Opposition. Ich höre sie seit meiner Kindheit – immer dasselbe.“

„Was genau gefällt euch nicht?“

„Sie wollen …“ (Die junge Frau überlegt.) „Ja, ehrlich gesagt, hab ich gar nicht verstanden, was sie jetzt wollen. Wir warten alle auf ein konkretes Programm. Bisher gibt es Ankündigungen, dass sie uns von Russland entkoppeln, und es soll nur noch eine Sprache geben. Die bei uns im Land praktisch niemand richtig kann. Na, und so schwammige Versprechen, dass wir alle in die EU kommen. Am Beispiel von Georgien und der Ukraine sehen wir, dass das immer nur leere Versprechen sind – in der EU sind die ja immer noch nicht. Und ich persönlich habe große Zweifel daran, dass das mit unserem Land je der Fall sein wird.“ 

Die Bäume schützen mich nicht vor dem Regen. Ich schlendere durch den Park, schlüpfe unter die Schirme der Kundgebungsteilnehmer und höre von ihnen immer dieselben Argumente. „Uns haben sie schon in den 1980ern versprochen, dass wir leben werden wie die Deutschen – das war eine glatte Lüge.“ „Die Sowjetunion ist zerfallen, und das Land ist für ungefähr 15 Jahre in einen Abgrund gestürzt. Und jetzt sollen wir schon wieder herumexperimentieren?“ „Andere Leader sehe ich in unserem Land nicht.“ „Ich will keinen Bruch mit Russland.“ „Gewalt wurde nur da angewendet, wo die Polizei angegriffen wurde.“  

[ --- Wenig später auf dem Platz der Unabhängigkeit --- ]

Auf dem Platz versammelt sich jeden Abend die Opposition, unter der Woche sind es rund 10.000 Menschen. Beim Lenin-Denkmal werden Reden gehalten – und das hier ist wirklich ein „Volksmikrofon“: Einer erzählt von seinem Verwaltungsarrest, ein anderer ruft zur Unterstützung der streikenden Arbeiter auf, ein Dritter bittet einfach darum, den Namen seines Dorfes zu skandieren, „wo Lukaschenko genauso unbeliebt ist wie hier“. Die Menge stimmt fröhlich ein: „Ko-lo-di-schtschi!“ Hin und wieder erklingt an verschiedenen Ecken des Platzes aus tragbaren Boxen Viktor Zois Peremen!  Ich nähere mich einem Rentnerpaar, das fast genauso aussieht wie meine Gesprächspartner auf der Lukaschenko-Kundgebung. Ich fasse für sie die wichtigsten Aussagen ihrer Altersgenossen zusammen und bitte sie um ihre Meinung dazu. Der Mann, ein Bauingenieur, seufzt.

„Was soll ich sagen … Viele Menschen unserer Generation reduzieren ihre Bedürfnisse auf das Minimum. Sie geben sich mit den kleinsten Freiheiten zufrieden. Wie die Schafe: ein bisschen raus auf die Weide, fressen, und zurück in den Stall. Sie haben es ja gut da, werden gehegt und gepflegt. Allerdings auch regelmäßig geschoren.“   
       
„Leider haben sich die Leute über die Jahre daran gewöhnt, erniedrigt zu werden, keine Wahlfreiheit, keine Redefreiheit zu haben. Vor allem ältere Leute, die schwere Zeiten erlebt haben“, sagt die Frau. „Ich kann mich auch an die 1990er Jahre erinnern. Aber seitdem sind ein paar Generationen herangewachsen, denen all das nicht mehr genügt. Die jungen Leute in Belarus sind sehr begabt und haben Talent, sie haben die Welt gesehen, andere Freiheiten – und wollen dieselben Möglichkeiten für das eigene Land. Sie sehen, dass unser System marode ist, unsere Wirtschaft in der Sackgasse steckt, dass unser Land Entwicklung braucht. Wir können nicht weitermachen mit dieser Kolchosediktatur. Ich bin Rentnerin, und ich persönlich schäme mich für unseren Präsidenten. Viele meiner Altersgenossen sind leider apolitisch. Sie wissen nur das, was ihnen im Fernsehen gezeigt wird. Sie haben bis heute keine Vorstellung davon, was dieser Tagen passiert, wie unsere Mitbürger verprügelt und gefoltert wurden. Aber das sollten sie wissen.“ 

Wir können nicht weitermachen mit dieser Kolchosediktatur. Ich bin Rentnerin, und ich persönlich schäme mich für unseren Präsidenten

„Für diese Menschen ist die Hauptsache, dass alles beim Alten bleibt. Dass die Straßen sauber sind. Aber wissen Sie, wie unser berühmter Viktor Schenderowitsch sagt: Die meiste Stabilität gibt es im Leichenschauhaus. Da ist es sauber, alles schön weiß, und alles bleibt, wie es ist. Wie soll ich meinen Landsleuten den Wert der Freiheit erklären? Den Wert der Meinungsfreiheit? Fragen Sie sie einmal, wann sie in ihrem heißgeliebten Fernsehen das letzte Mal eine alternative Meinung gehört haben. Die werden nicht mal verstehen, was Sie meinen. Für sie besteht Freiheit darin, gefahrlos durch die Straßen zu gehen, das ist für sie schon das höchste der Gefühle. Sie tun mir Leid.“
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, worüber ich mit solchen Leuten reden soll. Wir leben einfach auf unterschiedlichen Planeten. Der nächste Redner stellt sich ans Denkmal, ein ganz junger Mann. „Lukaschenko, du Bestie, ich hasse dich!“, schreit er. „Ich habe dich nicht gewählt! Du bist am Ende! Und alle deine Handlanger auch!“ Die Leute reagieren mit Applaus.
Die zigtausendköpfige Menge beginnt zu skandieren: „Sascha, du bist entlassen!“ Kein angenehmes Gefühl, wenn man selbst Sascha heißt ...
Relativ schnell finde ich auf dem Platz eine junge Frau mit einer kleinen Tochter. Daneben stehen zwei ihrer Freundinnen.
„Ich bin schockiert, dass die Jugend auch für Lukaschenko demonstriert“, lacht sie, als sie von ihrem Pendant bei der nachmittäglichen Kundgebung erfährt. „Ich hab gedacht, da sind nur solche … Sie wissen schon, so Frauen mit toupierten Frisuren …“
„Nein, es haben doch alle ein Recht auf ihre Meinung“, fällt ihr die Freundin entschieden ins Wort. „Ich kann verstehen, dass nicht alle bereit für Veränderung sind. Die Leute haben ihre Gehälter, ihre Renten – und sie machen sich Sorgen, dass sich das Leben zum Schlechteren verändert. Ich verstehe das. Und ich sage Ihnen ehrlich: Wenn Lukaschenko die Wahl tatsächlich gewonnen hätte, hätte ich das akzeptiert. Ich hätte überlegt, wie es für mich weitergehen soll, wohin ich auswandern soll. Aber gegen ein ehrliches Wahlergebnis hätte ich nicht protestiert. Ich respektiere das Gesetz und die Entscheidung des Volkes. Deswegen bin ich jetzt hier.“

Ich kann verstehen, dass nicht alle bereit für Veränderung sind. Die Leute haben ihre Gehälter, ihre Renten – und sie machen sich Sorgen, dass sich das Leben zum Schlechteren verändert

„Wieso glauben Sie, dass Lukaschenko diesmal nicht gewonnen hat?“

„Wir waren Wahlbeobachterinnen und haben alles mit eigenen Augen gesehen. Wir haben gezählt, dass 175 Menschen in der Schule waren – aber im Protokoll stehen 310. Raten Sie mal, wem diese Stimmen zugerechnet wurden. Die Lehrerinnen saßen da und schauten zu Boden. Ich weiß, dass ich belogen werde. Mein Kind muss in einem Land leben, in dem alles von Lüge durchdrungen ist. Ja, viele Leute haben Angst vor Veränderung. Aber bei uns gibt es noch viel mehr Leute, die etwas verändern wollen, weiterkommen wollen, stolz auf ihr Land sein wollen. In den Tagen des Protests habe ich zum ersten Mal an mein Land geglaubt, habe daran geglaubt, hierbleiben zu können.“

„Sie sagen, meine Altersgenossin ist stolz auf den Präsidenten? Aber ich finde das völlig abnormal, wenn ein Staatsoberhaupt direkt dazu aufruft, jene zu bestrafen, die eine andere Meinung haben. Lukaschenko hat den Rechtsraum komplett verlassen. Er verstößt sogar gegen die Gesetze, die sein eigenes Taschenparlament aufgestellt hat. Er hat gegen das Wahlgesetz verstoßen, seine OMON-Truppen gegen das Strafgesetz. Warum merken das seine Anhänger nicht?“

„Sie sind der Meinung, die OMON-Leute hätten sich nur verteidigt.“

„Gut, nehmen wir an, sie haben sich verteidigt. Aber es ist das Eine, einen Angreifer mit dem Schlagstock abzuwehren, ihn zu neutralisieren. Und etwas ganz anderes ist es, zu mehreren auf jemanden einzuprügeln, der auf dem Asphalt liegt und keinen Widerstand leistet. Warum wird das nicht aufgeklärt? Eigentlich gibt es bei uns einen Paragrafen zur Überschreitung der Notwehr. Das Gesetz muss für alle gelten.“

„Wir haben mit diesen Menschen viel gemeinsam“, sagt ihre Freundin. „Wir sollten keine Feinde sein. Wir alle wollen in einem friedlichen, starken, prosperierenden Land leben. Wir alle wollen, dass sich alle an die Gesetze halten. Aber sie müssen einsehen, dass es ihr Lukaschenko war, der jetzt auf brutale Weise gegen das Gesetz verstoßen hat, nur um an der Macht zu bleiben.“ 

Wir sollten keine Feinde sein. Wir alle wollen in einem friedlichen, starken, prosperierenden Land leben

Um das Experiment abzuschließen, suche ich in der Dämmerung lange nach einem passenden jungen Paar. Aber als ich endlich fündig werde, scheuen sie sich und wissen nicht recht, was sie sagen sollen. Dafür antwortet ein Freund von ihnen bereitwillig:
„Ich glaube schon, dass auf der anderen Seite ehrliche Menschen stehen. Aber ich habe das Gefühl, dass sie nicht ausreichend informiert sind. Als würden sie sich nicht besonders dafür interessieren, was im Land geschieht. Sie sehen, dass die Leute protestieren, aber wollen sich keine Gedanken machen, warum ihre Mitbürger auf die Straßen gehen, was sie auszusetzen haben, was sie verändern wollen. […] Tatsache ist, dass jetzt sie die Opposition sind und nicht wir. Übrigens, was haben die da drüben zur Polizeigewalt gesagt?“

„Sie glauben nicht, dass die Gesetzeshüter so handeln.“

„Das heißt, sie haben eigentlich auch Angst“, sagt die Frau bestimmt.
„Ja, im Grunde ist das eine Abwehrreaktion“, stimmt ihr Freund zu. „Wenn um einen herum etwas Furchtbares passiert, will man erst mal die Augen verschließen und das Offensichtliche nicht wahrhaben. Vielleicht verschwindet es ja dann.“

Auf dem Unabhängigkeitsplatz ist es dunkel geworden, die Leute schalten die Taschenlampen auf ihren Smartphones ein. Tausende von Lichtern strahlen schön auf die weiß-rot-weißen Fahnen. Die Demonstranten verabschieden sich und versprechen einander, morgen Abend wieder hier zu sein. Jemand dreht wieder Zoi auf, alle singen vergnügt den Refrain von Peremen mit. Der Strophe mit der Zeile „Vielleicht kriegen wir Angst davor, was zu ändern“ schenkt keiner mehr Beachtung.  

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnosen
en

Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
dekoder unterstützen
Weitere Themen
weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)