Anfang September 2020 trafen sich Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, der sich mit der größten Krise seiner Amtszeit konfrontiert sah, in Sotschi. Dort sagte der russische Präsident seinem angeschlagenen belarussischen Kollegen die Unterstützung des Kreml zu, was durch einen Milliardenkredit untermauert wurde. Mit der Rückendeckung durch die russische Führung, die in drei weiteren Treffen manifestiert wurde, gingen die belarussischen Machthaber seit dem mit aller Gewalt gegen die Protestbewegung vor, gegen unabhängige Medien, gegen Kulturschaffende oder gegen die Zivilgesellschaft, um jeglichen Widerstand im Land zu ersticken. Der Repressionsapparat folgt bis heute konsequent seiner Linie, erst vor zwei Wochen wurde der unabhängige belarussische Journalistenverband BAJ von den Behörden liquidiert. Und Anfang dieser Woche wurde Maria Kolesnikowa, eine der führenden Oppositionsfiguren, zu elf Jahren Haft verurteilt. Viele Belarussen haben das Land im Zuge der Erstarkung des Machtapparates verlassen.
Am heutigen 9. September 2021 steht in Moskau das fünfte Treffen der beiden autokratischen Staatsführer seit dem Bündnisschluss am Schwarzen Meer vor einem Jahr an. Dort sollen Medienberichten zufolge unter anderem auch weitere Integrationspläne zwischen Belarus und Russland besprochen werden. Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in seinem Stück für das belarussische Medium Naviny.by, welche Strategien der Kreml in Bezug auf Lukaschenko, der kürzlich Geburtstag hatte, und Belarus verfolgen könnte.
Vor einem Jahr musste Alexander Lukaschenko seinen Geburtstag in kugelsicherer Weste und mit Kalaschnikow in der Hand feiern. Die protestierenden Belarussen brachten beleidigende „Geschenke“ zum Präsidentenpalast (z. B. einen Spielzeughubschrauber mit der Aufschrift „Nach Den Haag“) und riefen wenig schmeichelhafte Wünsche. Und obwohl niemand den Palast zu stürmen gedachte, fühlte es sich für die Führungsriege doch recht ungemütlich an. Dass das Regime in jenen Augusttagen standhielt, verdankt es in großem Maße der Unterstützung des Kreml.
Heute, ein Jahr später, fühlt sich der Führer des Regimes ungleich selbstbewusster. Und Wladimir Putin, der im August 2020 Vertreter der Streitkräfte für den Unterstützungsfall an der belarussischen Grenze zusammengezogen hatte, versicherte in seinem Geburtstagsgruß an Lukaschenko: „Die belarussischen Freunde können immer auf die Unterstützung Russlands zählen.“
Doch wer sind denn Putins Freunde?
Stellt sich die Frage, wer eigentlich zu Putins Freunden gehört. Sicher nicht Swetlana Tichanowskaja oder gar Viktor Babariko (wobei dieser politische Feind Lukaschenkos, der zu 14 Jahren Strafkolonie verurteilt wurde, eine Bank mit Gazprom-Kapital leitete).
Noch im August letzten Jahres ließ Putin verlauten, dass keine in der Verfassung nicht vorgesehenen Organe gegründet werden dürften, vermutlich mit Blick auf den auf Tichanowskajas Initiative hin entstandenen Koordinierungsrat. Im Großen und Ganzen hat Moskau der belarussischen Opposition noch nie vertraut – weder der alten, noch der neuen.
Grundsätzlich hat sich Putin damals klar hinter Lukaschenko gestellt und erklärt, dass es Einflussversuche von außen auf die Prozesse in Belarus gäbe (sprich: westliche Puppenspieler). Damit unterstützte er letztlich die Interpretation der Ereignisse, die die belarussischen Machthaber und ihre Propaganda vertraten.
Putin und Lukaschenko hatten nicht nur einmal Meinungsverschiedenheiten (und sie werden sie wohl auch in Zukunft haben), doch in diesem kritischen Moment überwog die Klassensolidarität.
Für den russischen Präsidenten war das Wichtigste, dass der autoritäre Amtsbruder im Nachbarland (das zudem noch als Aufmarschgebiet von Bedeutung gilt) nicht von der aufbegehrenden Straße gestürzt wird. Zumal dies ein schlechter Präzedenzfall wäre, dessen Beispiel die Russen anstecken könnten.
Die Oberhäupter beider Regime fürchten das politische Erwachen des Volkes, wenn es in Massen den Wunsch zum Ausdruck bringt – um mit Janka Kupala zu sprechen – „sich Menschen zu nennen“.
Gab es einen Putin-Patruschew-Plan?
Man sollte nicht vergessen, dass zu Beginn der belarussischen innenpolitischen Krise Putin und andere Moskauer Politiker sofort die Bedeutung von Verfassungsreformen und dem gesellschaftlichen Dialog bekräftigten.
Einige Kommentatoren sprachen damals von einem Putin-Patruschew-Plan (Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, war angeblich nach Minsk geflogen, um Lukaschenko mit dem Plan vertraut zu machen.)
Dieser Version zufolge bestand Moskau auf einem sanften Machttransit in Belarus im Anschluss an eine Verfassungsreform. Einfacher gesagt, Lukaschenko sollte abgelöst werden, indem er nicht bei vorgezogenen Neuwahlen antritt, sondern durch einen beliebteren Kandidaten ersetzt wird, der dem Kreml zusagt und dem Westen nicht aufstößt. Zusätzlich sollte zu einer parlamentarisch-präsidentiellen Regierungsform übergegangen, politische Gefangene befreit und ein Dialog mit den Gegnern, inklusive Tichanowskaja, geführt werden.
Wir wissen nicht, ob es diesen Plan tatsächlich gegeben hat. Doch wenn es ihn gab, so liegt er heute schon in Schutt und Asche. Lukaschenko wird keinen Dialog mit politischen Gegnern führen. Sie kommen hinter Gitter, werden in die Emigration gedrängt, als Terroristen und Faschisten dargestellt. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind unters Messer gekommen, unabhängige Medien werden mit Napalm weggeätzt. Der Führer des Regimes hat entschieden, die Situation mit Gewalt und Verbreitung totaler Angst zu zementieren.
Die neue Verfassung wird voraussichtlich keine Voraussetzungen für eine Demokratisierung des Landes schaffen. Ganz im Gegenteil, sie sieht sogar ein Organ mit Sonderstatus vor, das als zusätzliche Absicherung der gegenwärtigen Machtriege vor unerwünschten Veränderungen dient: die Allbelarussische Volksversammlung.
Auch eine Freilassung der politischen Gefangenen ist derzeit nicht in Sicht. Zwar wird ab und zu jemand aus der Haft entlassen. Doch erstens kann nicht von voller Freiheit gesprochen werden (der ehemalige Diplomat Igor Leschtschenja teilte mit, dass er weiterhin als Verdächtigter in einem Strafverfahren gilt und ist damit kein Einzelfall). Zweitens werden vornehmlich jene freigelassen, die Gnadengesuche geschrieben haben oder auferlegte Geldstrafen beglichen haben (wie im Fall des Press Club Belarus).
Die Behörden spielen also mit den politischen Häftlingen Katz und Maus. Ein Schuldeingeständnis, dass die Menschen unschuldig gelitten haben, die Freilassung aller oder gar die Bestrafung ihrer Peiniger kommt für das Regime nicht in Frage.
Absolut nichts äußert Lukaschenko über Termine für Neuwahlen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er darauf zählt, bis zum Ende der Amtszeit – also 2025 – auf seinem Thron zu bleiben.
Lukaschenko tut, was Moskau dient
Seit August 2020 kam unter Politologen die Mode auf, Lukaschenko als zu „toxisch“ für den Kreml zu bezeichnen. Sind denn Baschar al-Assad oder Nicolas Maduro nicht toxisch? Moskau unterstützt bereitwillig die fragwürdigsten Machthaber auf der ganzen Welt, besonders, wenn es dabei Washington eins auswischen kann.
Ja, vermutlich hätte der Kreml im Idealfall nichts dagegen, Lukaschenko mit einer eigenen Kreatur zu ersetzen, einem weniger schwierigen und skandalösen Menschen.
Doch das ist nicht so einfach, solange Lukaschenko kein Interesse hat abzutreten. Und im Moment hat er ein starkes Gegenargument: Die Proteste sind niedergeschlagen, die Gewalt wirkt, er ist wieder Herr der Lage. Kein Grund also, die Pferde scheu zu machen und das System zu zerschlagen.
Schließlich spielt Moskau in die Hände, dass Lukaschenko selbst Belarus in noch größere Abhängigkeit von Russland treibt. Er setzt die Konfrontation mit dem Westen fort und nimmt sich so die Möglichkeit, zwischen den Machtzentren zu manövrieren, wie das vormals der Fall war. Minsk drohen neue Sanktionen, die den Bedarf der belarussischen Wirtschaft an russischer Unterstützung verschärfen. Die Zerstörung einer nationalbewussten Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien erleichtert es dem Kreml zudem, seine Großmachtsbestrebungen in Richtung Belarus zu expandieren.
In Moskau erkennt man vermutlich, dass es einen so antiwestlichen Führer mit solcher Leidenschaft für die Unterdrückung der nationalen Idee in Belarus so bald nicht mehr geben wird.
Des Weiteren hat die belarussische Führung angestrebt, das Neutralitätsgebot aus der Verfassung zu streichen und mit dem Leitsatz der kollektiven Verteidigung (also dem militärischen Bündnis mit Russland) zu ersetzen.
Wichtig ist zudem, dass Lukaschenko faktisch bereits zugesagt hat, bis Jahresende ein Paket von Bündnisprogrammen zu unterzeichnen – diese Road Maps zur Vertiefung der Integration hatte er im Dezember 2019 noch abgelehnt. Ende August wurde bekanntgegeben, dass bei dem für den 9. September angesetzten Treffen zwischen Lukaschenko und Putin in Moskau die Bündnispläne zu den zentralen Punkten auf der Agenda gehören werden.
Der belarussische Führer sträubt sich mittlerweile also weniger, und tut, was dem Kreml dient. Warum sollte man sich also damit beeilen, ihn abzusetzen? Zumal jeder Machtwechsel, vor allem in einem so überausgeprägt personalistischen Regime, auch ein Risiko birgt.
Der Kreml treibt seine Interessen voran
All das heißt natürlich nicht, dass im Verhältnis zwischen Lukaschenko und Putin Idylle herrscht. Das belarussische Regime braucht Geld und erschwingliche Rohstoffpreise, Moskau zeichnet sich nicht durch besondere Großzügigkeit aus.
Lukaschenko gab kürzlich zu, dass die Frage des Gaspreises im Rahmen der Abstimmung des Unionsprogramms weiter für Diskussion sorge. Den durch das eigene Steuermanöver verursachten Anstieg des Ölpreises ist Russland gegenüber Minsk nur bereit, in Form von Krediten auszugleichen, nicht durch Abstandszahlungen, wie die belarussische Seite es wünscht.
Geheimnisvoll bleiben die stundenlangen bilateralen Gespräche zwischen Putin und Lukaschenko. Unwahrscheinlich, dass sie verbissen um den Gaspreis streiten. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml doch die Idee einer gewissen Modernisierung des belarussischen politischen Systems in Gang bringen möchte, um mit einem weniger selbstherrlichen Präsidenten und mehr Machtverteilung zwischen einzelnen Organen die Möglichkeit zu haben, prorussische Parteien zu installieren und so in Parlament und Regierung mitspielen zu können.
Interessant wird sein, ob Lukaschenko vor seinem Besuch bei Putin einen eigenen Vorschlag für die Verfassungsänderung vorstellen wird (ein Entwurf soll am 1. September auf seinem Schreibtisch liegen). Wenn er sich weiter bedeckt hält und Zeit schindet, deutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass mit dem Kreml noch bei Weitem nicht alles abgestimmt ist.
Auf jeden Fall versteht man in Moskau, dass Lukaschenko nicht ewig ist und steckt die eigenen Positionen in Belarus mit Weitblick ab, um auch in Zukunft die eigenen Interessen gesichert zu wissen. Und für diese Aufgabe benötigt Moskau Lukaschenko noch.
Dabei scheint der Kreml aber nicht gewillt, den aktuellen Präsidenten um jeden Preis und in kürzester Zeit loszuwerden. Ebenso offensichtlich ist, dass Putin keine tatsächliche Demokratisierung von Belarus gebrauchen kann.
Gleichwohl kann man kaum von echtem Vertrauen zwischen Putin und Lukaschenko sprechen. Letzterer versteht sehr gut, dass der Familienname des Herrschers von Belarus für den Kreml nicht von Belang ist – die Hauptsache ist die Kontrolle über dieses strategisch wichtige Territorium. Und deshalb kann irgendwann der Moment kommen, in dem auf einen anderen Spieler gesetzt wird.