Aufgrund der geographischen Lage zwischen der Europäischen Union und Russland ist Belarus dazu verurteilt, ständig zwischen zwei Machtzentren zu lavieren, um seine Interessen zu verfolgen. Die weitreichende Abhängigkeit von Moskau bei gleichzeitig begrenzten Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit dem Westen nötigen die belarussische Außenpolitik dazu, nach Alternativen außerhalb Europas zu suchen. In der belarussischen Diplomatie hat China, zu dem Belarus seit 1992 diplomatische Beziehungen pflegt, eindeutig Priorität, auch wenn diese bilateralen Beziehungen erst Ende der 1990er Jahre intensiviert wurden und in eine von Minsk und Beijing verkündeten „umfassenden strategischen Zusammenarbeit“ mündeten. Die beiden Seiten interpretieren die Ziele und Prinzipien dieser Kooperation jedoch unterschiedlich, was in den vergangenen 20 Jahren zu einer Reihe von Missverständnissen und Enttäuschungen führte.
Alexander Lukaschenko mit Xi Jinping, dem Präsidenten der Volksrepublik China, bei einem Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit im Jahr 2018 / Foto © Mikhail Metzel/TASS PUBLICATION/IMAGO
Ein strategisch wichtiges Land in der belarussischen Außenpolitik
Auf der Suche nach außenpolitischen Alternativen wartete das Außenministerium in Minsk bereits Ende der 1990er Jahre mit dem Konzept eines „weiten Bogens“ auf. Das bedeutete in der Praxis, Kontakte zu nichteuropäischen Ländern zu suchen.1 Angesichts seines demografischen, wirtschaftlichen und politischen Potenzials lag die Priorität für Minsk natürlicherweise bei China. Belarus suchte ein Gegengewicht zu seinen aus vielerlei Gründen problematischen Beziehungen zu Russland und der EU. Also arbeiten belarussische Diplomaten und hochrangige Staatsmänner – unter anderem Alexander Lukaschenko persönlich – seit den frühen 2000er Jahren intensiv daran, die bilateralen Beziehungen zur Volksrepublik auszubauen. Das belegen zahlreiche Gipfeltreffen, Erklärungen und Abkommen. Die belarussische Diplomatie verzeichnet sorgfältig jeden von Lukaschenkos Besuchen in Beijing (von denen es bislang 14 gab) wie auch sämtliche anderen Treffen auf unterer Ebene.
Aus der Sicht von Minsk bestand der größte politische Erfolg bis heute in einer gemeinsamen Erklärung, die die beiden Staatspräsidenten 2022 verabschiedeten und in der die bilateralen Beziehungen zur „strategischen Allwetter–Zusammenarbeit“ angehoben wurden. Für die belarussische Regierung ist dies ein „beispiellos hohes Niveau in der Geschichte der chinesisch-belarussischen Beziehungen“2. Zu verdanken sei dieses Ergebnis dem effektiven Vorgehen von Belarus auf der internationalen Bühne, zudem belege es die Attraktivität des Landes und entlarve die „unberechtigte Kritik“ aus dem Westen. Die Demonstration einer guten Zusammenarbeit mit der Volksrepublik ist Lukaschenko auch deshalb viel wert, weil die beiden Länder eine ähnliche Haltung zu Menschenrechtsfragen haben. Jahrelang konnte sein autoritäres Regime, das seit 2020 sogar totalitäre Züge annimmt, in Bezug auf westliche Sanktionen oder Kritik bei der UNO wenigstens auf Beijings Neutralität zählen.
Auch der wirtschaftliche Nutzen dieser „Partnerschaft“ mit China ist für Minsk von Anfang an wichtig gewesen, insbesondere im Kontext der chinesischen Verkehrsprojekte und Investitionen. Darüber hinaus versucht Minsk konsequent, seine Beteiligung an russischen Integrationsprojekten im postsowjetischen Raum (vor allem an der Eurasischen Wirtschaftsunion) an Beijing „weiterzuverkaufen” und sich chinesischen Exporteuren gegenüber als eine Art „Brückenkopf“ für deren potenzielle Expansion auf den viel größeren und viel aufnahmefähigeren russischen Markt zu präsentieren.
„Unser Pakistan in Europa”
Die Haltung der chinesischen Regierung zur Zusammenarbeit mit Belarus ist sehr viel weniger emotional und gleichzeitig pragmatischer, was den ungleichen Verhältnissen zwischen den beiden Ländern geschuldet ist. Schließlich ist es nicht China, das die Rolle des Bittstellers innehat. Belarus ist für die Volksrepublik in erster Linie ein wichtiges (wenn auch nicht das einzige) Element in einer umfassenderen eurasischen Kooperationsstrategie, ist also einem höheren Ziel untergeordnet: China geht es vor allem um eine effiziente Organisation von Güterlieferungen nach Europa im Rahmen der One Belt and Road Initiative. Abgesehen davon ist China immer daran interessiert, seine Präsenz im Ausland zu verstärken, unter anderem durch Investitionen. So gesehen lässt sich Belarus als eine Art Laboratorium verstehen, in dem China sein Instrumentarium für die wirtschaftliche Expansion testet, das unter anderem in afrikanischen Ländern eingesetzt werden soll. Erwähnenswert ist hier, dass Belarus von chinesischen Experten als „unser Pakistan in Europa“ bezeichnet wird, was auf seinen vorrangigen Platz in der Hierarchie der kleineren (ungleichen) Partner verweist, zu denen u. a. Pakistan, Äthiopien, Serbien und Kasachstan gehören. Faktoren wie die Offenheit und Verbindlichkeit der Regierung sowie die strategisch günstige Lage auf der Ost-West-Achse sprachen hier sicherlich zugunsten von Belarus.3 Zudem trugen Phasen des Dialogs mit dem Westen (also etwa von 2015 bis 2020) dazu bei, dass der Wert von Minsk stieg. Belarus konnte für die chinesischen Transporte Stabilität gewährleisten, ohne das Risiko wirtschaftlicher Sanktionen oder Einschränkungen bei Grenzübergängen. Für Belarus sprach auch die schwierige Situation der Ukraine, die mit ihrem Zugang zum Meer und ihrer Hafeninfrastruktur potenziell ein attraktiverer Partner für Beijings Verkehrsprojekte gewesen wäre. Der Konflikt zwischen Kyjiw und Moskau, der in unterschiedlicher Intensität seit 2014 anhält, ließ Minsk als einzige „sichere“ Option erscheinen.
Erwartungen versus Realität
In der Praxis hat die belarussisch-chinesische Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren für beide Seiten eine Reihe von Enttäuschungen mit sich gebracht. Ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität ist das Projekt Großer Stein, ein chinesisch-belarussischer Industriepark, der 2012 eingeweiht wurde. Er war von beiden Seiten als Vorbereitung auf die Errichtung eines chinesischen Produktionsstandorts in der Nähe von Minsk gedacht und sollte nicht nur auf Belarus ausgerichtet sein, sondern auf alle Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), also u. a. Russland und Kasachstan. Darüber hinaus wurde der Große Stein als logistische Basis für den Transport bzw. die Lieferung chinesischer Waren entworfen, die dann zum Hafen Klaipėda oder über Polen nach Westeuropa gelangen sollten. Aufgrund mehrerer nicht gebührenbezogener Beschränkungen innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion ist es bislang nicht gelungen, einen gemeinsamen Markt mit freiem Warenverkehr aufzubauen. Das hat das Interesse chinesischer Kapitalgeber an Belarus als Standort für Produktionsstätten ernstlich beeinträchtigt, was wiederum die Entwicklung des Projekts behinderte.4
Der belarussisch-chinesische Industriepark Großer Stein bei Minsk im Jahr 2019 / Foto © CC BY-SA 3.0
Die Pläne, chinesische Investoren an der Privatisierung unprofitabler belarussischer Unternehmen zu beteiligen, waren ebenfalls schwierig umzusetzen. Bisher haben die Gespräche gezeigt, wie schwer es ist, den eher marktwirtschaftlich orientierten Ansatz der chinesischen Seite (die beispielsweise Personalkürzungen anstrebte) mit dem eher konservativen Ansatz von Minsk zu vereinbaren, der vom Investor die Erfüllung weitreichender sozialer Verpflichtungen erwartet.5 Nicht nur die geplanten, sondern auch die verwirklichten Investitionen in Belarus waren Anlass zahlreicher Kontroversen und Enttäuschungen. Da die meisten Investitionen in den belarussischen Markt bislang durch chinesisches Staatskapital erfolgt sind, dominieren hier Projekte zum Bau von Infrastruktur oder für Produktionsanlagen, die über chinesische Exportkredite finanziert werden. Wohlgemerkt wurden die Kredite unter der Bedingung vergeben, dass die chinesischen Unternehmen ihre Verfahren, ihre Komponenten und mitunter sogar ihre eigenen Arbeitskräfte mitbringen durften. Die Verpflichtung zur Kredittilgung und damit das Geschäftsrisiko schob man hingegen gern der belarussischen Seite zu. China hält sich zudem generell beim Transfer fortschrittlicher Produktionstechnologien zurück, weswegen Geschwindigkeit und Qualität der Arbeit bei den belarussischen Direktoren für Unzufriedenheit sorgten. Dadurch kam es zu langwierigen Auseinandersetzungen, in denen beide Seiten versuchten, die Schuld an den Ergebnissen (die weit hinter den Erwartungen zurückblieben) der jeweils anderen Seite zuzuschieben. Beispielhaft sind hier die gescheiterte Modernisierung zweier belarussischer Zementfabriken, die 2007 begann, und der Bau einer neuen Zellstoff- und Papierfabrik in Swetlahorsk, der 2010 startete.6
Die Enttäuschung der belarussischen Behörden wurde durch die anhaltend ungünstige Handelsbilanz mit China verstärkt. Diese war weitgehend auf die oben beschriebenen Muster bei den chinesischen Investitionen zurückzuführen. 2019 betrug das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern 4,1 Milliarden US-Dollar, wobei das Defizit auf belarussischer Seite sich auf 3,1 Milliarden USD belief. Das bedeutete im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um 0,5 Milliarden USD.7
Kühler Pragmatismus nach 2020
Die politische Krise in Belarus infolge der gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 führte zu einer Art Revision der chinesisch-belarussischen Beziehungen. Beijing reagierte auf die Repressionen nach den Wahlen und die vom Westen verhängten Sanktionen unaufgeregt und spärlich. Das zeigte, dass die chinesische Seite wenig Interesse an einer direkten politischen Unterstützung und an einem Kampf für das Überleben des Lukaschenko-Regimes hatte.8 Entgegen den Hoffnungen der Regierung in Minsk übernahm China also nicht die Rolle eines zweiten Alliierten (neben Russland), der bereit wäre, die russische Dominanz auszugleichen und die belarussische Wirtschaft zu subventionieren. Letztere wurde von den westlichen Embargos gebeutelt, die nach 2020 schrittweise ausgeweitet wurden. Die Sanktionen erfolgten unter anderem als Antwort auf die Migrationskrise an der EU-Grenze und die Mitwirkung beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Gleichzeitig hat Beijing die Zusammenarbeit mit Belarus aber auch nicht aufgegeben. Gestützt auf seinen Pragmatismus hat China höchst vorteilhafte Handelsverträge ausgehandelt, etwa für Kalidünger oder forstwirtschaftliche Produkte, die vom Westen sanktioniert wurden. Dadurch ist China nach 2020 bei den belarussischen Handelspartnern auf den zweiten Platz hinter Russland vorgerückt. Das Handelsvolumen nahm stetig zu und erreichte 2023 über acht Milliarden USD. Gleichzeitig besteht auf belarussischer Seite unverändert ein beträchtliches Außenhandelsdefizit, das im vergangenen Jahr 3,2 Milliarden USD erreichte.9 Chinas zentrales Interesse in Belarus betrifft Gütertransporte auf der Schiene, die zwischen drei und sechs Prozent des gesamten chinesischen Güterumschlags ausmachen. Trotz dieses geringen Anteils möchte Beijing den belarussischen Transitkorridor – gegenwärtig der einzige zwischen Ost- und Westeuropa – gern beibehalten. Und doch dürfte sich die chinesische Seite hinter den Kulissen (es gibt keine öffentlichen Erklärungen hierzu) wohl negativ zu Lukaschenkos konfrontativer Politik gegenüber dem Westen geäußert haben, die unter anderem dazu geführt hatte, dass Polen und Litauen einige Grenzübergänge zu Belarus schlossen. Man kann auch davon ausgehen, dass das Nachlassen des Migrationsdruck an der Grenze zu Polen im Sommer 2024 auf Signale aus Beijing zurückzuführen ist.
Im Großen und Ganzen betrachtet China Belarus weiterhin als interessantes Partnerland. Das belegt der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang in Minsk am 22. August 2024 sowie das Manöver der belarussischen und chinesischen Streitkräfte im Juli 2024. Beijing verfolgt offen einen pragmatischen Ansatz, ist aber nicht bereit, die Rolle des wichtigsten Verbündeten von Belarus zu übernehmen. Schließlich würde dies eine Konfrontation mit Russland und eine kostspielige Subventionierung der maroden und vom Westen sanktionierten belarussischen Wirtschaft mit sich bringen.