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Das Staatsgeheimnis

Seit seinem fünften Lebensjahr begleitet Nikolai Lukaschenko seinen Vater bei offiziellen Auftritten und Staatsbesuchen. Im Vorfeld der Scheinwahlen Ende Januar 2025 war der 20-Jährige in Belarus unterwegs, um im Rahmen einer groß angelegten Propaganda-Show Klavierkonzerte zu geben. Der jüngste Sohn von Alexander Lukaschenko hilft seit langem, das Image des Langzeit-Diktators aufzupolieren und die Diktatur für junge Menschen attraktiver zu machen. Auch halten sich Vermutungen, dass der Sohn den Vater irgendwann beerben könnte. 

Wer aber ist die Mutter von Nikolai Lukaschenko? Bis heute hat das Regime ihren Namen nicht offiziell bestätigt, wobei es eindeutige Hinweise gibt. Das Online-Portal Zerkalo ist den Hinweisen nachgegangen und erzählt eine Geschichte, die tief in die Funktionsweisen von autoritären Systemen blicken lässt. 

Quelle Tut.by – Zerkalo.io

Irina Abelskaja während eines Interviews am 12. Februar 2018 in Minsk / © Foto Tut.by

Irina Abelskaja wurde 1965 in Brest geboren. „Ich bin Ärztin in dritter Generation, mein ältester Sohn schon in vierter. Meine Großmutter war Feldscherin, ihre ganze Verwandtschaft hatte auf die eine oder andere Weise mit Medizin zu tun. Meine Mutter und meine Tante sind ebenfalls Ärztinnen, genauso mein Bruder und seine Frau. Mein Sohn ist Augenarzt in einem Ärztezentrum“, erzählt sie Tut.by im Interview. 

Im Verlauf unseres Gesprächs verliert Abelskaja kein Wort über ihren Vater. Das mag damit zu tun haben, dass er tatsächlich aus der Mediziner-Reihe ausschert, aber der Grund könnte auch ein anderer sein: Stepan Postojalko war zu Sowjetzeiten ein politischer Häftling. Er kam 1933 in der Oblast Brest zur Welt, in einem Dorf namens Batareja im Bezirk Beresowski. Während des Zweiten Weltkriegs war in dieser Gegend, wie in ganz West-Polesien, die Ukrainische Aufstandsarmee UPA beliebt: Viele identifizierten sich als Ukrainer, und vor dem Krieg hatte es auf politischer wie kultureller Ebene gut organisierte ukrainische Strukturen gegeben. 

Die Familie Postojalko – Stepan, sein älterer Bruder und die Eltern – arbeitete zwei Jahre lang der UPA zu. Sie nahmen nur einmal an einer größeren Aktion teil: der Verteilung von Flugblättern in Berjosa. Trotzdem wurden 1952 Stepan, sein Bruder und ihr Vater wegen Unterstützung der UPA zu je 25, Stepans Mutter zu zehn Jahren Haft verurteilt. Auch nach dem Tod Josef Stalins 1953 musste die Familie drei weitere Jahre im Lager bleiben und kam erst im Sommer 1956 durch eine Amnestie frei. Stepan kehrte nach Belarus zurück, zog nach Brest und nahm eine Stelle bei Brestenergo an, wo er später verschiedene Führungspositionen innehatte. Erst 1992 wurde die ganze Familie rehabilitiert. 

In Brest lernte Stepan seine zukünftige Frau Ljudmila kennen. Sie wurde 1941 in der ukrainischen Oblast Poltawa geboren und hatte in Kyjiw Medizin studiert. Sie arbeitete viele Jahrzehnte als Kinderärztin in der Brester Kinderklinik, zuletzt als Chefärztin. Das alles wohlgemerkt, bevor Lukaschenko an die Macht kam.  

Lukaschenko wurde 1994 Präsident. Stepans und Ljudmilas Tochter Irina war damals 29 Jahre alt. Sie hatte in Minsk an der heutigen BGMU (Belarussische Staatliche Universität für Medizin) Pädiatrie studiert und arbeitete zunächst als Kinderärztin an einer Minsker Poliklinik, dann als Fachärztin für Endokrinologie in einem Behandlungszentrum und später in einem Minsker Diagnosezentrum. Aus ihrer kurzen Ehe ging ein Sohn namens Dmitri hervor; den Nachnamen ihres Mannes hat sie nach der Scheidung behalten. 

Irinas Sohn ist heute promovierter Augenarzt. Im Oktober 2020 meldete er der Polizei eine weiß-rot-weiße Flagge, die in der Wohnanlage Kaskad hing. Heute veröffentlicht er auf TikTok und Instagram skurrile Werbe-Videos für die private Minsker Klinik, für die er arbeitet. Gegen ihn liegen über dreißig Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung vor. 

 

Lukaschenkos Leibärztin 

Doch zurück in das Jahr 1994. Gleich nach Amtsantritt suchte sich Lukaschenko einen Leibarzt. Sein Management fand offenbar, am besten wäre eine unverheiratete oder geschiedene Frau um die 30 geeignet, die nett anzuschauen ist und ein Kind hat. Irgendwann landeten auf dem Schreibtisch von Gesundheitsministerin Inessa Drobyschewskaja, die mit dem Recruiting betraut worden war, drei Bewerbungsmappen. Die Wahl fiel auf Irina Abelskaja. Im Herbst 1994 übernahm sie ihre Funktion in der Ärztekommission. 

Das Konzept der Ärztekommissionen stammt aus dem Jahr 1931, als sie in praktisch allen Republiken der UdSSR zur medizinischen Behandlung hochrangiger Beamte eingerichtet wurden. Zu den „Klienten“ gehörten auch Volkskünstler und -schriftsteller, Träger staatlicher Auszeichnungen und dergleichen. Die belarussische Ärztekommission befand sich auf der Krasnoarmejskaja-Straße im Zentrum von Minsk, ganz in der Nähe des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei auf der Karl-Marx-Straße 38, wo heute die Präsidialadministration ihren Sitz hat. Allerdings engagierte Abelskaja sich de facto nicht in der Ärztekommission, sondern begleitete auf Schritt und Tritt den Präsidenten. Bald kamen Gerüchte auf, dass ihr Verhältnis über das dienstliche hinausging.     

„Dass Irina nicht nur für Lukaschenkos Gesundheit zuständig ist, konnte man bei seinem ersten und einzigen offiziellen Besuch in Frankreich sehen“, schrieb die [staatsnahe – dek] russische Zeitung Moskowski Komsomolez. „Entgegen allen Regeln der diplomatischen Etikette ließ Lukaschenko den Außenminister aus dem benachbarten Hotelzimmer ausquartieren, um dort Platz für Irina zu schaffen. Als Irina Abelskaja dann nach Drosdy in die Präsidentenresidenz zog, wunderte das keinen mehr.“ 

„Die medizinische Elite des Landes hatte damals von einer Irina Abelskaja noch nicht einmal gehört, sie war eher bei Journalisten bekannt, die das Staatsoberhaupt auf seinen Reisen begleiteten“, bemerkte die Belaruskaja Delowaja Gaseta. „Diese Frau, die immer nur lieb lächelte und nicht viel sagte (vielleicht, weil sie einen leichten Sprachfehler hat), wusste zu gefallen: Mal lotste sie ihn durch die Absperrungen der Wachdienste, mal zauberte sie Tabletten oder Heftpflaster aus ihrem ‚Präsidentenköfferchen’. Einige Male vergaß sie ihren ‚hohen Patienten‘ und eilte Zartbesaiteten zu Hilfe, die beim Anblick ihres Idols in Ohnmacht fielen. So geschehen etwa Anfang der Nullerjahre auf dem Platz des Sieges, als Alexander Lukaschenko vor Veteranen sprach und bei einem der Kriegshelden das Herz nicht mehr mitspielte.“ 

Der Journalist Pawel Scheremet erinnert sich: „In den ersten Jahren von Lukaschenkos Regierungszeit konnte man während seiner stundenlangen Besprechungen ein paar Worte mit ihr auf dem Korridor wechseln. Sie wirkte sympathisch.“ Gelegentlich wurde die Leibärztin des Politikers an delikaten Entscheidungen beteiligt, die über ihr eigentliches Aufgabenfeld weit hinausgingen. Iwan Titenko, in Lukaschenkos frühen Jahren einer seiner engsten Mitstreiter, erzählte, dass er nach seinem Rücktritt erst über Abelskaja einen Termin bei seinem ehemaligen Chef bekam. Es wurde auch gemunkelt, dass sie auf Lukaschenkos Anweisung Tamara Winnikowa, die ehemalige Vorsitzende der Nationalbank, in der Untersuchungshaft besuchte. Und dass Abelskaja ein gutes Wort für Galina Shurawkowa bei Lukaschenko eingelegt habe: Seiner „Betriebswirtschafterin“ wurde Korruption vorgeworfen, aber nach dieser Intervention wurde sie wieder aus der Haft entlassen. 

Irina Abelskajas Einfluss wuchs. 2001 wurde sie Chefärztin am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum der Präsidialverwaltung (so heißt heute die Ärztekommission offiziell). Der alte Chefarzt wurde mit einem Skandal entlassen, und die Staatsanwaltschaft leitete ein Strafverfahren wegen Unterlassung und Fahrlässigkeit der Krankenhausbediensteten ein. Lukaschenko verlautbarte, Abelskaja käme, um dort eine „Schule der modernen Medizin“ aufbauen. Die Klinik wurde mit den modernsten medizinischen Geräten ausgestattet und bekam neue Flächen hinzu, nämlich die Gebäude, in denen sich das Zentrum für Radiologie und die Kinderklinik Nr. 4 befunden hatten. Sie bestand nun aus ganzen sechs Gebäudetrakten.      

        

Familienbande 

Parallel zu Abelskajas Höhenflug gewann auch ihre Mutter an Einfluss. Laut der Zeitung Narodnaja Wolja habe Lukaschenko Ljudmila Postojalko schon 2001 zur Gesundheitsministerin ernennen wollen. Doch die Chefärztin des Brester Kinderkrankenhauses hatte keinerlei Erfahrung mit der Hauptstadt und mit großen, „erwachsenen“ Strukturen. Da wandte er einen schlauen Trick an und ernannte Wladislaw Ostapenko, Doktor der Medizin, Mitglied der Belarussischen Akademie der Wissenschaften sowie Facharzt für Radiologie und Endokrinologie zum Gesundheitsminister. Er hatte mehrere Jahrzehnte lang verschiedene Forschungsinstitute geleitet. Postojalko wurde seine erste Stellvertreterin. 

Narodnaja Wolja zufolge war es eigentlich Postojalko, die die Linie des Ministeriums vorgab, auch wenn sie nur Stellvertreterin war. Sie tadelte die angesehensten Experten, und die Ministeriumsmitarbeiter achteten darauf, nur ja nicht aufzufallen. Als im März 2002 in Mahiljou eine akute Darminfektion ausbrach, war es nicht Ostapenko, sondern Postojalko, die damit drohte, alle zu entlassen. Damals wurden innerhalb von 48 Stunden 140 Kindergartenkinder hospitalisiert, über weitere 100 Kinder wurden ambulant behandelt, ohne dass das lokale Seuchenschutzzentrum den Grund für die massenhafte Vergiftung hätte ausfindig machen können.         

Ende April 2002 berichtete die Narodnaja Wolja, Lukaschenko habe Ostapenko aus einer Sitzung geworfen und ihn wegen „erheblicher dienstlicher Versäumnisse, die sich in mangelhafter Ausführung der Dienstpflichten zeigten“, seines Amtes enthoben. Er war gerade mal ein halbes Jahr im Amt gewesen. „Nach der aufsehenerregenden Entlassung von Wladislaw Ostapenko hat es niemand eilig, seine Funktion zu übernehmen. Angeblich hoffen manche hochrangigen Ärzte inständig, dass man sie bloß nicht anfragen möge“, schrieb die Narodnaja Wolja Anfang Mai. 

So trat Postojalko, die damals bereits im Rentenalter war, das Amt der Ministerin an. Wie enorm ihr Einfluss war, konnte man an der Entlassung von Alexander Kosulin sehen, der als Rektor der Belarussischen Staatlichen Universität (BGU) sehr beliebt gewesen war. Laut dem Politologen Alexander Feduta wollte Kosulin aus der Institution eine „Universität im klassischen Sinn“ machen, wofür es seiner Ansicht nach unbedingt eine Fakultät für Alternativmedizin brauchte. Diese zugegebenermaßen fragwürdige Idee (die Alternativmedizin ist wissenschaftlich nicht anerkannt) kam 1998 auf und wurde im darauffolgenden Jahr in die Tat umgesetzt. 

Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin (Mitte) im Jahr 2006 auf dem Minsker Oktoberplatz / © Foto naviny.by

Die Fakultät war Postojalko ein Dorn im Auge. „Diese Schlacht wirst du nicht gewinnen“, soll der Schriftsteller Jewgeni Budinas laut Feduta zu Kosulin gesagt haben. „Doch das war Alexanders wunder Punkt, er blieb stur, wollte nichts hören. ‚Keine Ahnung‘, sagte er, ‚ob sie sich mit Medizin auskennt, aber mit Hochschulbildung bestimmt nicht‘. Das sagte er leider nicht zu mir, sondern zur Ministerin, und zwar nicht zu irgendeiner, sondern einem Quasi-Familienmitglied. So etwas ist unverzeihlich, ein Sakrileg. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war zurückzurudern und sich mit allem einverstanden zu erklären.“ 

Das verweigerte der Rektor. Im November 2002 erklärte der Vorsitz des Ministerrats die Ausbildung von Fachkräften für Heilkunde und Pharmazie an der Fakultät für Grundlagen- und Alternativmedizin der BGU für „nicht zielführend”. Formal wurde zum Anlass genommen, dass die Universität keine Lizenz zur Bildungstätigkeit in diesen Fächern habe. Die Fakultät wurde im Februar 2003 geschlossen, ohne dass die Studenten noch die Möglichkeit hatten, ihr Studium abzuschließen.                   

Kosulins Schicksal wurde im November 2003 besiegelt. Er war ein paar Tage früher aus dem Urlaub zurückgekehrt, um sich ein klares Bild zu verschaffen. Inzwischen hatte er aus dem Fernsehen erfahren, dass ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde – wegen Diebstahls von Gold in einer der Betriebsstätten der BGU. In der darauffolgenden Woche wurde der Rektor suspendiert. Einige Wochen später wurde die Anklage gegen Kosulin fallengelassen. Doch seine Suspendierung blieb bestehen. 

Ljudmila Postojalko war bis 2005 Ministerin. Noch während ihrer Amtszeit wurde Alexander Kossinez Vizepremier für soziale Fragen, einschließlich Medizin. Feduta zufolge sei es Kossinez gelungen, Postojalkos Reformen ein wenig abzumildern und die belarussische Medizin zu retten. Konkrete Maßnahmen nennt er dabei nicht, aber vermutlich bezieht er sich darauf, dass Kossinez bei einigen von Postojalkos strittigen Vorschlägen auf die Bremse trat. Zum Beispiel wollte sie mehrere Forschungsinstitute auflösen, Patienten nur noch in den Bezirken ihrer Meldeadressen behandeln lassen und die Dauer von bezahlten Klinikaufenthalten und Krankenständen verkürzen. All das klang abenteuerlich und realitätsfern. Da ein hoher Prozentsatz der Belarussen nicht an der Meldeadresse wohnt, hätte das Hunderttausenden Menschen erhebliche Probleme beschert. 

Lukaschenkos Söhne: Dmitri, Nikolai und Viktor (v. l. n. r.) bei der Parade zum Tag der Unabhängigkeit am 3. Juni 2020 in Minsk / © Foto Natalia Fedosenko/ Tass Publication/ Imago 

 

Ein neuer Sohn 

In den Nullerjahren ging die Beziehung zwischen Lukaschenko und Abelskaja auf und ab. „Einmal vertrug Irina einen Flug schlecht und stieg ganz grün im Gesicht aus dem Hubschrauber“, schrieben damals die Zeitungen. „Ihr war so übel, dass sie sich übergeben musste. Lukaschenkos Kommentar zum Zustand seiner Begleiterin war so schroff, dass seine Bodyguards sie beruhigen mussten … Im selben Jahr, 2005, herrschte er sie auf der berühmt-berüchtigten Präsidentenloipe so wirsch an, dass er damit sogar seine Minister vor den Kopf stieß.“ Trotzdem begleitete Abelskaja den Politiker überallhin: „Sie ist bei allen von Lukaschenkos Treffen mit hochrangigen Vertrauensmännern dabei. Irina Stepanowna sitzt immer neben ihm, und wenn Alkohol ausgeschenkt wird, achtet sie darauf, dass Alexander Grigorjewitsch stets ausschließlich Mineralwasser im Glas hat.“ 

2004 kam Nikolai Lukaschenko zur Welt. Die russische Zeitung Kommersant schrieb, Abelskaja hätte Gerüchten zufolge versucht, auf dem Standesamt Lukaschenko als Vater anzugeben, ihr das aber verweigert worden sei. Erst 2007, fast drei Jahre nach der Geburt, wurde offiziell bestätigt, dass Lukaschenko ein drittes Kind hat. Am 12. April gab der Präsident eine Pressekonferenz. Auf die Frage, ob er seinen ältesten Sohn Viktor als seinen Nachfolger sehen würde, antwortete Lukaschenko, nicht seine zwei Erstgeborenen kämen dafür in Frage, sondern sein dritter Sohn: „Den Kleinsten werde ich zum Nachfolger erziehen“, sagte er. Dabei waren bis dahin nur zwei Söhne offiziell bekannt gewesen: Viktor und Dmitri. Beide hatte ihm seine offizielle Ehefrau Galina bereits vor seiner politischen Karriere geboren (soweit bekannt, ist diese Ehe bis dato nicht geschieden). 

Ob Zufall oder nicht, diese Information kam nach zwei besonderen Ereignissen ans Licht: Im März 2007 war Ljudmila Postojalko gestorben. Und am 10. April 2007 wurde Abelskaja als Vorsitzende der Ärztekommission entlassen. Zuvor hatte sie einen Teilzeitjob in einer Ordination für Ultraschall angenommen, um in ihrer Verwaltungsfunktion die medizinische Qualifikation nicht zu verlieren und Dienstjahre als Ärztin zu sammeln. Nun blieb ihr nur noch dieser Job. 

Zu guter Letzt kritisierte Lukaschenko sie auch noch, sagte, die Präsidialklinik müsse eine Vorreiterrolle einnehmen, medizinische Versorgung auf höherem Niveau bieten und den anderen ein Vorbild sein. Zwei Tage später bekundete er die Existenz eines dritten Sohnes. Offenbar musste erst die mutmaßliche Großmutter verstorben sein und die Mutter auf sichere Distanz gebracht werden, bevor er den Sohn der Öffentlichkeit präsentieren konnte. 

Ein Jahr später, im April 2008, erschien Lukaschenko mit dem kleinen Nikolai beim Subbotnik (das war dessen erster öffentlicher Auftritt). Am selben Tag lief der Knirps vor dem Spiel von Papas Hockeymannschaft übers Eis. 2008 bestätigte der Politiker, dass die Mutter seines Sohnes Ärztin sei. Abelskajas Name wurde bisher jedoch nie offiziell genannt. Über Abelskajas beruflichen Werdegang nach dem Ausscheiden aus der Ärztekommission ist nicht viel bekannt. Es gab zwar Gerüchte, dass sie eine Weile Oberärztin im Sanatorium Belarus in Sotschi war, aber die wurden nie bestätigt. „Heute ist sie einfach Ultraschall-Ärztin in einem Minsker Diagnosezentrum“, schrieb 2009 Pawel Scheremet. „Man kommt nur per Überweisung zu ihr, in der Regel behandelt sie nur Männer. Im Diagnosezentrum heißt es, Irina Stepanowa arbeite schichtweise und fahre zwischendurch immer wieder nach Europa. Ihre Ordination hat keine Kontaktnummer. Man weiß nicht, wie viel Zeit sie mit Kolja verbringt, wenn er von den gemeinsamen Reisen mit Alexander Lukaschenko zurück in Minsk ist.“ 

Immerhin durfte sie in ihrem Elitedomizil bleiben, einem kleinen Landhaus in Drosdy, das für hochrangige Beamte vorgesehen war. 

 

Karriere-Sprünge 

Zwei Jahre später war die Zeit der Ächtung plötzlich vorbei. 2009 kehrte Abelskaja als Chefin der Ärztekommission zurück und trat bei diversen medizinischen Konferenzen auf. Obwohl sie noch im Mutterschutz war, verteidigte sie 2004 – gerade mal einen Monat nach der Entbindung – erfolgreich ihre Dissertation am Institut für Onkologie und Strahlenmedizin zum Thema Strahlendiagnostik bei Osteochondrose an der Halswirbelsäule. 2011 beendete sie auch noch eine Habilitationsschrift, woraufhin ihr 2012 der Professorentitel verliehen wurde. 

„Irina Stepanowa hat fünf Jahre an ihrer Dissertation gearbeitet“, sagte ihr Doktorvater Anatoli Michailow, Mitglied der belarussischen Akademie der Wissenschaften, gegenüber der Zeitung Narodnaja Wolja. „Als sie 2007 ihre Chefarzt-Stelle am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum verließ, wandte sie sich der Praxis zu und bereitete ihre Dissertation vor. Sie hat vier Patente, ist Verfasserin von drei Monografien. In den größten russischen und belarussischen Fachzeitschriften wurden 60 wissenschaftliche Artikel von ihr veröffentlicht. Sie nahm an zwei staatlichen Programmen für Wissenschaft, Technik und Innovation teil. Sie hat unter anderem einen enormen Beitrag für die Bestimmung des Behinderungsgrades und die Entwicklung eines Therapieplans für Patienten geleistet.“     

Nach Abelskajas Rückkehr wurde die Ärztekommission erneut vergrößert. Zu den sechs bestehenden Trakten kamen zwei weitere hinzu: ein Therapie- und Diagnosezentrum sowie eine Intensivstation mit Operationssälen. Hier stand das landesweit erste Computertomografie-Gerät von General Electric, das hohe Bildqualität bei geringer Strahlendosis liefert. Außerdem ein Magnetresonanztomograf, ein vollständig digitaler Röntgenapparat von Siemens und ähnliche Apparaturen. In dieser Klinik wurde zum ersten Mal in Belarus eine künstliche Aortenklappe eingesetzt, und auch die erste von einem Roboter durchgeführte Operation fand hier statt. 

2018 zog die Ärztekommission nach Shdanowitschi. In den Bau der neuen Klinik flossen 100 Millionen Euro, nach zwei Jahren war sie schlüsselfertig. Die früheren Räumlichkeiten bezog das städtische Krankenhaus Nr. 2. Trotz ihrer hohen Positionen scheint Abelskaja recht zugänglich geblieben zu sein. So erzählt die Kulturwissenschaftlerin Julija Tschernjawskaja von ihrem Mann, dem Tut.by-Gründer Juri Sisser: „Er ließ sich damals in der Ärztekommission behandeln und operieren. Auf Irina Abelskaja hielt er große Stücke, er sagte, sie sei eine freundliche, liebe Frau, die täglich alle Patienten der Intensivstation besuchte.“  

Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? 

An Abelskajas Geburtstagswünsche 2010 auf der Intensivstation erinnerte sich auch der Schriftsteller Ryhor Baradulin, auch wenn er kein Freund von Lukaschenko war: „Abelskaja gratulierte mir mit einem Blumenstrauß, siebzehn Rosen. Sie wünschte mir gute Besserung, ich bedankte mich. Dank ihr wurde ich sehr gut betreut, alle kümmerten sich um mich – dafür bin ich ihr wirklich dankbar.“ Wenn Abelskajas Name in den Zehnerjahren in den Medien genannt wurde, dann vor allem im medizinischen Kontext. Im November 2020 war sie wenig überraschend eine der Verantwortlichen für den Umgang mit der COVID-19-Pandemie in der Oblast Minsk. 

Doch allmählich trat sie immer öfter in einer anderen Rolle auf. Im Februar 2023 unternahm Lukaschenko einen Staatsbesuch in Simbabwe und nahm nicht nur seinen Sohn Nikolai mit, sondern auch Abelskaja. Im April 2023 empfing sie bereits die Gattin des Präsidenten von Simbabwe in der belarussischen Ärztekommission. Und sie leitete eine auf Anweisung von Lukaschenko gegründete Arbeitsgruppe zur Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung.  

Im Januar 2024 flog Abelskaja bereits allein nach Simbabwe und wurde dort vom Präsidenten und seiner Frau empfangen. Im Grunde waren das ihre ersten Schritte in der offiziellen Politik. Im April wurde sie Mitglied des Rats der Republik, des Oberhauses im belarussischen Parlament (ihre Kandidatur hatte offenbar den Segen der Staatsspitze). Im Juni besuchte Abelskaja ein Krankenhaus für Notfallmedizin in Witebsk, um die Qualität der medizinischen Versorgung dort zu überprüfen, woraufhin einige Angestellte entlassen wurden (unter anderem der Chefarzt, eine Oberschwester sowie die Leitung der Station für Anästhesie und Reanimation).      

Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? „Er will seinen Beamten und Funktionären zeigen, dass er treue Gefährten nicht nur nicht im Stich lässt, sondern sie auch beruflich voranbringt“, meint Alexander Friedman Zerkalo gegenüber. „Wenn man sich die Liste der Personen ansieht, die es ins Repräsentantenhaus geschafft haben, dann kann man praktisch von allen sagen, dass sie sich irgendwann einmal besonders hervorgetan haben. Sie fielen positiv auf und wurden als Gegenleistung befördert. Bei Irina Abelskaja gibt es vieles, wofür Lukaschenko sich bedanken muss. Sie begleitet ihn quasi ihr ganzes Leben lang. Sie ist keine Skandalnudel, die seinen Ruf beeinträchtigen könnte. Sie ist mit ihrer Rolle und der Rolle ihres mutmaßlichen Sohnes einverstanden, wir haben nie gehört, dass sie dagegen protestiert hätte. Die ganze Zeit über hat sie so gelebt, gehandelt und gearbeitet, wie Lukaschenko das wollte. Also, wieso sollte er sich in so einem wichtigen Moment nicht mit dieser Ernennung erkenntlich zeigen?“ 

Dabei wird Abelskaja, offenbar auf Geheiß von oben, immer aktiver. Stehen dahinter etwa weiterführende Pläne? Soll sie zum Beispiel bald den Rat der Republik leiten? „Klar, wenn Lukaschenko Natalja Kotschanowa zur Leiterin der Allbelarussischen Volksversammlung ernennt, dann muss sie im Rat der Republik jemand ersetzen“, mutmaßt Friedman. „Die eine Vertraute durch eine andere Vertraute zu ersetzen wäre durchaus Lukaschenkos Stil. Wenn dieser Fall eintritt, müssen wir unser Bild vom Lukascheno-Klan überdenken. Wenn Irina Abelskaja, die als Nikolais Mutter und Lukaschenkos Freundin gilt, einen verfassungsrechtlich so wichtigen Posten einnimmt, dann lässt sich daraus ableiten, dass der Klan tatsächlich langfristig an der Macht bleiben und sich zu diesem Zweck absichern will.“             

Diese Meinung äußerte Friedman im März 2024. Seitdem hat Irina Abelskaja keine neuen Sprossen auf der politischen Karriereleiter erklommen. Aber das Leben der Ärztin, die Lukaschenko praktisch seit Beginn seiner Amtszeit begleitet, hält bestimmt noch einige Überraschungen bereit. 

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Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)