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„Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

„Ja wychoshu!”, „Ich gehe hinaus!“ Das waren die letzten Worte von Roman Bondarenko. Dann verließ er die Wohnung am sogenannten Platz des Wandels in einem der Minsker Hinterhöfe. Der Ort hat sich in den vergangenen drei Monaten als einer der Symbole der Protestkultur etabliert. Am Abend des 11. November 2020 waren maskierte Männer in den Hof gekommen, um die weißen und roten Bändchen vom Zaun zu schneiden, die Menschen dort als Zeichen der Solidarität angebunden hatten. Der 31-jährige Bondarenko schritt ein, wurde noch vor Ort von den unbekannten Männern verprügelt und schließlich mitgenommen. Stunden später lag er im Koma. Schließlich erlag er seinen Verletzungen.

Die letzten Worte Bondarenkos wurden zum Motto des gestrigen Sonntagsmarsches. In vielen Städten gingen die Menschen wieder auf die Straße. Vor allem in Minsk standen die Demonstranten einer Übermacht aus OMON- und anderen Spezialkräften gegenüber, die auch den Platz des Wandels umzingelten. Die Menschen hatten sich in einer Kette aufgereiht, um die Gedenkstätte für Roman Bondarenko vor den Silowiki-Kräften zu schützen. Am Ende des Tages wurde der Platz geräumt, die Menschen festgenommen, die Gedenkstätte mit Blumen und Kerzen abgetragen. Über 1200 Inhaftierte registrierten Menschenrechtsorganisationen am gestrigen Sonntag.

Seit zwei Wochen versucht der Machtapparat von Alexander Lukaschenko, die Proteste wieder verstärkt mit brutaler Gewalt, gezielten Inhaftierungen und scharfen Repressionen endgültig zu zerschlagen. Doch mittlerweile protestieren die Belarussen seit über drei Monaten gegen die exzessive Polizeigewalt und für Neuwahlen. Wer am Ende die Oberhand in diesem tiefgreifenden Machtkampf behält, steht längst noch nicht fest. Aus Anlass des heutigen Jubiläums des Protestes hat das Nachrichtenportal tut.by eine Fotostrecke zusammengestellt.

Der renommierte Wissenschaftler Gennadi Korschunow, ehemaliger Direktor des Fachbereichs Soziologie an der Akademie der Wissenschaften in Belarus, erklärt in einem Stück für das Internet-Medium The Village Belarus, warum die Proteste längst nicht am Ende sind – und wie sie immer wieder mit neuen Erscheinungsformen aufwarten, um ihr eigenes Überleben zu sichern.

Quelle The Village Belarus

Es ist offensichtlich, dass den Protesten in Belarus nicht die Luft ausgeht. Sie verlaufen in Wellen, vielleicht versetzt, asynchron, auf sehr vielen verschiedenen Ebenen.

Es ist wirklich wie bei einem Moorbrand, bei dem die Beobachtenden meinen, nur die Baumkronen stünden in Flammen. Denn darunter ist ja Wasser – der Sumpf.

Wir schauen meistens nur dorthin, was sofort sichtbar ist – auf die Straße. Wir sehen Märsche, Menschenketten, Kundgebungen, Scherben. Wie viele gehen gerade auf die Straßen? Es ist unmöglich, sie zu zählen, weil es die große Kolonne nicht mehr gibt – sie wird auseinandergejagt. Aber nach wie vor brausen Flüsse und Ströme von Menschen durch die Straßen der Stadt.

Zunächst sind es Einzelne und Paare, Gruppen von Freunden, Dutzende Gleichgesinnter… Dann Hunderte, Tausende, die sich die Beine vertreten – mehrere Stunden und viele Kilometer. Das ist nur der harte Kern, in Minsk etwa 100.000 bis 150.000 Leute.

Nach wie vor brausen Flüsse und Ströme von Menschen durch die Straßen der Stadt

Dazu muss man ein paar Tausend zählen, die genau jetzt nicht das Haus verlassen können. Den einen fehlt es an Entschlossenheit, den anderen an Mut … Aber sie schämen sich, genau jetzt, in diesem Moment nicht „spazieren zu gehen“. Vielleicht können sie Kinder, alte Eltern oder Kranke nicht alleine lassen, vielleicht sind sie selbst krank und die ganze Familie sitzt in Quarantäne. Und die zweite Covid-Welle nimmt gerade erst so richtig Schwung auf …

Aber schaut euch die Türen der Häuser an – wie viele stehen den Demonstranten offen? Schaut hoch zu den Fenstern – wie viele begrüßen die Märsche? Wie viele Autos begrüßen sie mit lautem Hupen?” Wie viele Autofahrer nehmen Demonstranten mit und bringen sie wieder nach Hause? Geht durch die Viertel – wie viele Fahnen und weiße Zettel seht ihr in den Fenstern? Wie viele Bändchen, Flaggen, Wandmalereien, Treppen, Bänke …

Wie Maxim Kaz zurecht sagte: Jeder hat jeder seine eigene Schmerzgrenze – aber jeder tut, was er kann. Und wir sind viele.

Wie viele Menschen haben sich Krama heruntergeladen und achten genau darauf, was sie im Supermarkt einkaufen. Wie sieht es mit den Steuerzahlungen aus? Wie mit kommunalen Abgaben? Macht einfach die Augen auf und schaut genau hin, was noch passiert.

Die Höfe. Das Stärkste sind im Moment wohl die Hinterhöfe. Die Selbstorganisation dort ist der Beginn einer neuen Regierung, die der aktuellen Regierung Angst macht. Die Hinterhöfe haben bewiesen, dass die Leute sich versammeln und gemeinsam eine Menge Probleme lösen können. Langsam werden sich die Höfe dieser Macht bewusst. Und kein Hof oder Viertel steht alleine da. Es sind viele. Sie tauschen sich aus. Sie helfen einander. Sie lernen voneinander. Die Beziehungen wachsen, und damit wächst die Macht, wächst das Potential. Genau deshalb macht man jetzt Jagd auf Musiker – denn die Kunst stärkt nicht nur den Geist in den einzelnen Höfen, sondern auch die Beziehungen: Sie vereint die Menschen zu einer Gemeinschaft und die Höfe zu einer Stadt.

Zum Glück begreift die Regierung noch nicht, was Historiker und Philosophen für die Hinterhöfe tun.

Das Stärkste sind im Moment wohl die Hinterhöfe

Die Institutionen bewegen sich am langsamsten. Denn hier liegt der schmerzliche Beginn des gesellschaftlichen Bruchs: der Menschen mit dem Volk, der Vorgesetzten mit den Machthabern. Jeden Tag und jede Stunde herrscht da Druck, nicht nur sonntags. Jeder kennt jeden, da ist es leicht, Druck zu machen. Aber es ist etwas in Gang gekommen – und man kann nicht alle feuern. Erstens. Zweitens greift allmählich das Prinzip „Einer für alle und alle für Einen!“. Das ist sehr mächtig, und sein Höhepunkt steht noch bevor. Das kann man am Beispiel einiger Hochschulen beobachten. Drittens ist da der internationale Druck, der sich ebenfalls schwer einschätzen lässt – und auch der braucht seine Zeit. Die Auswirkungen werden beim Abschluss zukünftiger Verträge sichtbar werden. Aber schon das Beispiel Soligorsk zeigt, dass die internationale Aufmerksamkeit erste Früchte trägt.

Eine weitere mächtige, aber unterschätzte Sache ist die genossenschaftliche Solidarität. Wenn ein paar tausend Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen „Nein“ zu Gewalt sagen, ist das stark. Wenn 1000 Sportler und Sportlerinnen ihre Stimme erheben, ist das stark. Wenn Kulturschaffende ihren Protest zum Ausdruck bringen, ist das stark. Wenn Designer einfache Arbeiter unterstützen, ist das stark. Es ist stark, weil fast jeder Berufsverband deutlich Stellung bezogen hat: Nein zu Gewalt!

Mehr noch: Wenn Musiker, Lehrer, Mediziner, Künstler, Studenten, Rentner und Arbeiter mit ihrem Wort füreinander einstehen, dann eint das das Volk als Ganzes und macht es stark.

Was Solidarität und Einigung angeht, muss man sich anschauen, wer etwas tut und in welcher Form. Es gibt viele Formen, und es werden immer mehr.

Erstens: Geld. Hat jemand mal die Unterstützungsfonds gezählt? Gemeinnützige und korporative? Zweitens: Arbeit (oder Lehre für die Studierenden) und Weiterbildung, dazu kommt medizinische Hilfe für die Opfer der Gewalt; Unterstützung in den Bereichen Information, Recht und Kommunikation. Und die kulturelle Arbeit: Flaggen, Veranstaltungen, Lieder, Appelle an die Regierung …

Die internationale Ebene – seit wie vielen Wochen schon steht Belarus im Mittelpunkt der europäischen Aufmerksamkeit? Die ganze Welt kennt uns. Ja, die Einen sagen: „Wollt ihr etwa Zustände wie in Belarus?“ (durchgestrichen). „Wir sind hier nicht in Belarus, wir müssen alle Stimmen zählen!“. Aber da geht es um den Staat. Über das Land heißt es: Dieses unglaubliche Belarus zeigt allen, was eine würdevolle Gesellschaft ist, und gibt Hoffnung auf die Wiederherstellung demokratischer Werte.

Aber wir haben noch mehr gezeigt. Wir haben bewiesen und werden weiterhin beweisen, dass niemand über das Schicksal von Belarus ohne die Belarussen bestimmen wird. Weder Russland noch Europa noch die USA. Deshalb werden sowohl Russland als auch Europa und die USA sehr daran interessiert sein, mit einem freien Belarus und mit würdigen Belarussen zu sprechen und zusammenzuarbeiten.

Wir haben bewiesen und werden weiterhin beweisen, dass niemand über das Schicksal von Belarus ohne die Belarussen bestimmen wird

Das Wahrscheinlich ist das Wichtigste: die Straßen, Höfe, Institutionen, Berufsverbände, Belarussen in der ganzen Welt – auf all diesen Ebenen und dazwischen entsteht gerade ein neues Belarus. Es begann mit Protesten gegen Gewalt und Lüge, erreichte jeden einzelnen und verlangte von ihm eine Entscheidung – und diese Entscheidung treffen wir jeden Tag. Jeder von uns. 

Die Straßenproteste wurden zu einer Revolution des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins und zu nun zum Widerstand fast der gesamten Gesellschaft und der Überreste der staatlichen Vertikale.

Ich spreche  nicht vom „aktiveren Teil der Gesellschaft“, sondern von „fast der gesamten Gesellschaft“ – denn die Maßnahmen der Vertikale … nunja, sie sind sinnlos und bieten den Leuten nichts an, außer dem Gefühl der Fremdscham für die Machthaber und deren Anhänger. Die Revolution des Bewusstseins hingegen gibt Hoffnung und das Gefühl von Perspektive – ein Verständnis dessen, wer wir sind und wohin wir uns bewegen.

Noch einmal: Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden – eine Befreiung von den Fesseln und eine Bewegung nach vorne.

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Gnose Belarus

Alexander Lukaschenko

Vor 30 Jahren trat Alexander Lukaschenko nach gewonnener Wahl sein Amt als Präsident der Republik Belarus an. Er schaffte demokratische Freiheiten ab und errichtete ein autokratisches System. Waleri Karbalewitsch über Lukaschenkos Machtwillen und Gründe für die Beständigkeit der Diktatur.  

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)