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Europas Waisen

Anka Upala ist eine bekannte zeitgenössische belarussische Schriftstellerin. Ihr Pseudonym ist eine Anspielung auf Janka Kupala, einen klassischen Autor der belarussischen Literatur.   

Auch Anka Upala musste Belarus wegen der Repressionen verlassen, das Lukaschenko-Regime verfolgt Autoren und verbietet Literatur. „Ich will eine andere Zukunft”, schreibt sie. „Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit.” In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft fragt sie sich, was von dem Wandlungsprozess, der 2020 angestoßen wurde, geblieben ist. 

Die deutsche Übersetzung und belarussische Originalversion des Essays werden zeitgleich mit der schwedischen und englischen Übersetzung veröffentlicht, die der Svenska PEN möglich gemacht hat. 

Quelle dekoder

„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

Wundersame Tiefseefische mit Laternen über den Köpfen steigen nach einer Unterwasserkatastrophe vom Meeresboden auf und werden ans Ufer gespült. Man findet sie plötzlich überall auf der Welt. So betrachte ich das Auftauchen der großen Menge meiner Landsleute im Ausland in den letzten Jahren, das durch die politische Krise in Belarus hervorgerufen wurde. 

„Gestern habe ich Leute aus Belarus getroffen!“, sagt mein Berliner WG-Mitbewohner Matze, als ich morgens in die Küche komme, um mir einen Kaffee zu machen. 

Matze hatte gestern Abend mit Freunden zu Hause Schnaps getrunken, danach gingen sie in eine Bar. Dort machte er dann diese anthropologische Entdeckung. 

„Da waren zwei Frauen, sie saßen in einer Ecke. Ich ging hin und fragte sie: ‚Warum sitzt ihr hier so in der Ecke?‘ Sie sahen aus wie zwei Spioninnen!“ 

„Wieso hattest du diesen Eindruck?“ 

Matze überlegt. Dann antwortet er: 

„Sie waren viel zu perfekt!“ 

„Eine litauische Bekannte, die seit zehn Jahren mit einer Belarusin zusammen ist, sagte mir mal, dass die Belarusen sehr kontrolliert sind.“ 

„Ja, genau. Sie waren irgendwie so unentspannt.“ 

„Sie sind es so gewöhnt. Ich glaube, sie können im Ausland nicht so schnell entspannen. Aber sie waren schon aufgeschlossen und haben mit dir geredet, oder?“ 

„Ja!“ 

 

Längst Vergangenes empfinde ich heute oft, als sei es gestern gewesen, und die Gegenwart als sei sie eine Wiederholung. Seit der Siegeserklärung des Usurpators nach den letzten Wahlen hat ein neuer Durchlauf begonnen. Und es war schwerer als bei den vorangegangenen Malen. Sicher auch, weil es im Vorfeld diesen Hoffnungsschimmer auf Veränderungen gab. Und der ist verloschen.  

Ich habe aufgehört, einen Ausweg aus der Zeit zu sehen. Wissen über die Vergangenheit scheint es irgendwie zu geben, irgendwie aber auch nicht. Die Menschen von heute scheinen nichts von den Erfahrungen ihrer Vorfahren zu wissen. Wir stehen einfach da und beobachten, wie sich die Mauer der Zukunft über uns schiebt, die wir aus uralten Büchern kennen, sie bedeckt den halben Himmel: die Repressionen, der Krieg, die pathologische Herrschaft, die Unmöglichkeit heimzukehren. 

Erst war ich in Litauen, danach in Deutschland. Meine litauischen und deutschen Bekannten sagen, dass bald wieder ein neuer Weltkrieg beginnt. Meine Freundinnen in Belarus sagen nichts. Wenn wir uns zu Videogesprächen treffen, reden wir nicht mehr über das Furchtbare. In unseren Gesprächen gibt es fast keinen Krieg und kein Gefängnis. Die Haut ist zu dünn, man darf sie nicht berühren. Erwähne nichts, worauf du keinen Einfluss hast. Wie beim Briefeschreiben an politische Gefangene, als ich immer das Thema Essen vermied und nur über Alltagsdinge schreiben konnte. 

 

Am Abend ist meine Stimmung mies, gerade habe ich in der S-Bahn Online-Nachrichten gelesen, darunter auch eine Prognose der Zukunft unserer Region. Ich beiße die Zähne zusammen und sage mir: „Lasst uns lesen.“ Unser Minsker Freundinnenkreis hat ein Ritual: Wir lesen uns gegenseitig vor. Weil wir das auch weiterhin per Video machen, lässt sich alles, was um uns herum passiert, besser aushalten. Gleichzeitig bekommt man noch eine kleine Impfung Vergangenheit. Eine Freundin schlägt ein Buch aus der Bibliothek auf, ich höre in Berlin zu. Herbstanfang 1915. Maxim Harezki, Die Kommunarden von Wilna:  

Sie entlassen anscheinend die Verbrecher aus den Gefängnissen. Die Politischen bringen sie alle weg, niemand weiß, wie und wohin. Sehr geheim wird das erledigt, schrittweise und im Dunkel der Nacht. Irgendwohin fern der Front, ins tiefe Russland, vielleicht Sibirien, damit mein Vater mehr fröhliche Gesellschaft hat. 

Kommt man zum Bahnhof, sieht man Berge von Sachen: Kisten, Körbe, Koffer, Pflanzen, russische Ikonen ... Die gewichtige Obrigkeit und die reichen Leute nehmen in Privatabteilen Platz. Fressen und trinken wie vor dem großen Hunger. Fröhlich rufen sie: 

„Nicht für lang!“ 

„Bald kommen wir wieder!“ 

„Wir werden wieder im schönen Wilna spazieren!“ 

Dabei sind nachts schon dumpf die Kanonen zu hören ... Das sind die Deutschen, sagte man, sie nehmen Kaunas ein ... 

 

Wenn alles schon einmal aufgeschrieben wurde, warum kann man dann nichts ändern? Ich will eine andere Zukunft. Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit. Meine belarusische Großmutter überlebte den Zweiten Weltkrieg nur deshalb, weil sie durch ein Loch in der Scheunenwand entkam. Ich wuchs auf mit dem Gefühl, dass jede Person meiner Generation in Belarus eine solche Großmutter hat, die wie durch ein Wunder überlebt hatte. Das ist meine Norm. 

Ich habe Belarus Ende letzten Jahres verlassen, ich hatte Glück. Großmutter, ich bin nach Deutschland geflüchtet! Bin dem Staat durch die Finger geschlüpft, die er nach mir ausgestreckt hat. Sie können mir nichts mehr tun. Aber die Menschen in Belarus haben keinerlei Schutz. Über jedem hängt ein Schwert, auch wenn das für die seltenen Gäste aus dem Ausland unsichtbar ist. Man sagt, sie staunen über Belarus, von dem sie – wenn überhaupt, dann nur Schreckliches gehört haben. Es gibt Restaurants, in den Geschäften mangelt es nicht an Lebensmitteln, die Menschen sind gut gekleidet, sie können lächeln und sogar lachen. Ringsum läuft scheinbar das Leben eines europäischen Landes weiter – denn das ist Belarus ja, auch wenn viele keine Ahnung von seiner Existenz haben. Nur auf der Ebene der Macht gibt es einen Bruch. In jedem Moment kann der Staat jeden beliebigen Menschen aus seinem Leben reißen und ihn zerstören, unter unmenschlichen Bedingungen festhalten, ihn und seine Angehörigen quälen, Arbeitsstelle, Besitz, Freiheit, Kontakte, Gesundheit und sogar das Leben nehmen. Die Person verschwindet und über ihr schließt sich das Wasser. Niemand in Belarus ist sicher. Die ausländischen Touristen sind keine Ausnahme. Ich erinnere mich noch daran. Man lebt mit einem Stein auf dem Herzen.  

Die Tür ist zu. Wenn etwas passiert, kann die Mehrheit nicht fliehen. Es ist fast unmöglich, mit einem belarusischen Pass ein Schengen-Visum zu bekommen. Bislang stellen Deutschland und Italien noch Mehrfachvisa aus. Deutschland und Italien. Aber um ein deutsches Visum zu beantragen, muss man fast ein Jahr vorab einen Termin machen. Die Menschen stehen in einer endlosen Warteschlange, um sich in das Terminheft für die Beantragung eines italienischen Visums einzuschreiben. Es wird „Alehs Heft“ genannt, nach dem Namen des Botschaftsmitarbeiters, der es führt. Wie in einem Fantasyroman. 

In furchtbaren Zeiten gibt es furchtbar viel Literatur. Früher habe ich häufig darüber nachgedacht, wie die belarusischen Schriftsteller, die in den 1930er Jahren während der stalinistischen Repressionen erschossen wurden, so viele herausragende Werke schreiben konnten, obwohl sie so jung gestorben sind. Mein Lieblingsprosaautor, Lukasch Kaljuha, bekannt für seine besondere, außergewöhnlich reiche Sprache, wurde verhaftet und in die Verbannung geschickt, als er gerade 23 Jahre alt war, erschossen wurde er mit 28. Wenn ich an ihn denke, könnte ich weinen wie um jemanden, den ich persönlich kannte. Es war so lustig mit ihm, als wir seine Texte lasen. Maxim Harezki war 37, als er verhaftet wurde, mit 45 wurde er erschossen. Harezki zu lesen ist wie eine Zeitreise. 

„Ich habe die Theorie“, sagte meine polnische Freundin und Dichterin Natalia, „dass Autoren, die früh im Leben harte Erfahrungen machen, auch früh als Schriftsteller reifen.“ 

Mir wäre das nicht in den Kopf gekommen. 

 

Eine Woche bevor der litauische Migrationsdienst mich nach Deutschland abschob, ging ich auf die Suche nach dem Ort, an dem im Jahre 1864 die Führung des Russischen Imperiums den Revolutionär Kastus Kalinouski erhängte, der für die Belarusen die Idee der nationalen Unabhängigkeit personifiziert. An dem Platz im Vilniuser Stadtteil Lukiškės, wo damals der Galgen stand, stehen heute das Konservatorium und, im Gebäude, das ehemals den KGB beherbergte, das Genozid-Museum. Ich setze mich auf eine Bank und schaue über den Platz. Wenn keine Veränderungen kommen, dann trennt die Zeit gar nichts, vor 160 Jahren ist gleich gestern. Als man Kalinouski vor der Hinrichtung einen Adeligen nannte, widersprach er: „Bei uns gibt es keinen Adel, alle sind gleich!“ Ein Idealist. Zum Zeitpunkt seines Todes war er gerade sechsundzwanzig Jahre alt. Er hatte früh harte Erfahrungen gemacht. 

Vor Kurzem kam ich hierher nach Lukiškės zu einem Konzert, um den litauischen Sänger Silvester Belt zu sehen und zu hören. Nach meinem Geschmack hatte Litauen dieses Jahr den elegantesten Beitrag zum Eurovision Song Contest. Mir gefällt, wie Silvester sich kleidet, wie er seine Schultern bewegt, ich mag sein feines Gesicht und besonders seine litauische Sprache. Sie klingt wunderschön. Er singt vom aufgeschobenen Leben. Sein lyrischer Held wird gebeten, ein wenig zu warten, und noch ein wenig, immer „morgen, morgen, morgen“. Ein Tag vergeht, und noch einer, und nichts ändert sich.  

Silvester Belt ist der erste offene LGBTQ+Sänger in der litauischen Geschichte, der im nationalen Vorentscheid für den ESC ausgewählt wurde, aber er hat auch Mobbing erfahren. „Ich bin ein Beispiel für das progressive Litauen“, wandte er ein, als ihm in einem Interview gesagt wurde, seine Heimat sei nicht das progressivste Land in Europa. „Ich bin hier, um euch zu unterstützen“, sagte er zu den Menschen in Litauen, die er repräsentiert, „denkt nicht, dass ihr schlechtere Menschen seid als die anderen.“ Ich schaue im Internet nach, wie alt er ist. Der Typ ist 26. In seinem roten Anzug brennt er auf der Bühne, wie das Feuer seines Mutes. 

Klassische Musik dringt aus dem Fenster des Vilniuser Konservatoriums. Von klassischer Musik zu Protesten „Für unsere und eure Freiheit!“ ist es nur ein Schritt. 

 

2017 fanden litauische Archäologen die sterblichen Überreste der Aufständischen von 1863, darunter auch Kalinouskis. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, der Körper mit Kalk bedeckt. Die russischen Machthaber hatten beschlossen, die Leichen nicht weit zu transportieren, und vergruben sie mitten im Herzen von Vilnius, auf dem Gedyminas-Hügel. Man fand sie zufällig, nach einem Erdrutsch am Hang des Hügels. Die Umbettung fand zwei Jahre später statt. Alle Staaten, für die der Aufstand von Bedeutung ist, sandten offizielle Vertreter, aus Polen und Litauen waren die Präsidenten anwesend. Aus Belarus kam der stellvertretende Premierminister, mit anderen Worten: Niemand. Die Grabsteine der Aufständischen sollten in polnischer und litauischer Sprache beschriftet werden, nicht auf Belarusisch, denn der belarusische Staat hatte keine offizielle Anfrage gestellt. So läuft das. Belarusische Aktivisten, deren weiß-rot-weiße Flaggen auf dem Begräbnis dominierten, erreichten schließlich Inschriften in belarusischer Sprache. „Wir haben Briefe geschrieben!“, bestätigt mein Vilniuser Kollege Uladsislau. Der litauische Staat hatte sie ernstgenommen. Der belarusische hingegen machte keinerlei Ansprüche auf den Aufstand für nationale Unabhängigkeit geltend, dessen Geschichte wir mit unseren Nachbarn teilen. Idealerweise sollten sich belarusische Politiker mit Diplomatie beschäftigen und gemeinsam mit den litauischen Kollegen ein für beide Seiten akzeptables Narrativ unserer gemeinsamen Vergangenheit entwickeln, damit wir wie gute Nachbarn und Freunde in gegenseitigem Respekt nebeneinander leben können. Das Problem ist nur, dass es im belarusischen Staat keine belarusischen Politiker gibt. 

 

Wenn ich außerhalb von Belarus bin, ist eine meiner stärksten Empfindungen das Gefühl der nationalen Verwaisung. 

„Was weißt du über Belarus?“, fragt der slowakische Schriftsteller Pavel die österreichische Dramaturgin Miriam. 

Pavel und Miriam habe ich während eines Stipendiums am Literarischen Colloquium Berlin kennengelernt, wir verbringen viel Zeit mit Gesprächen. 

„Tut mir leid, aber eigentlich nur, dass dort Diktatur herrscht. Ich habe vorher noch nie jemanden aus Belarus getroffen“, antwortet Miriam. 

„Kennt ihr diese Europakarten im Internet, die sich über die verschiedenen Länder lustig machen“, sage ich. „Früher sind mir immer wieder welche aufgefallen, die einen Witz zu jedem Land hatten, nur über Belarus gab es nichts. Manchmal war es einfach grau schraffiert. Im Ausland war über das Land also so wenig bekannt, dass man sich nicht mal Witze darüber ausdenken konnte. Wir sind die Waisen Europas. Wir haben keine nationalen, probelarusischen Staatsvertreter, die unser Land in der Welt repräsentieren und ein belarusisches Narrativ verbreiten könnten. Ich sehe keine andere Erklärung dafür, dass das Land auf der Welt so wenig bekannt ist.“ 

Der Hauptgrund dafür, dass Belarus global eine terra incognita bleibt, ist aus meiner Sicht die Dysfunktionalität des Staates als nationale Vertretung. Staaten unterhalten als Institutionen Beziehungen, tauschen offizielle Anfragen aus, verteidigen ihre Kultur und Geschichte, machen das Land präsent und sichtbar auf dem internationalen Parkett. Findet all das nicht statt – ist das Land nicht „lokalisierbar“. 

 

Im Museum der Wannseekonferenz in Berlin, dem Gebäude, in dem die Nationalsozialisten 1942 die Entscheidung über die „Endlösung der Judenfrage“ trafen, hatte ich die subjektive Empfindung, dass Belarus dort nur als Territorium präsent ist. Ich konnte die „Stimme“ Israels, Polens, Deutschlands hören, aber nicht Belarus. Und das kommt mir seltsam vor. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten wir einen enorm hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung. Jiddisch war eine der Amtssprachen in Belarus. Die belarusischen Kleinstädte sind gefüllt mit Geschichten von ermordeten Juden. Ich erinnere mich, wie ich an einem der Massengräber stand. Ein Einwohner erzählte, dass einmal ein Fundament für ein Denkmal für die Ermordeten gesetzt werden sollte. Als man zu graben begann, kündigten die Bauarbeiter vor Schreck, weil man gar nicht graben konnte, Jahrzehnte nach den Verbrechen hob der Bagger anstelle von Erde unverweste Leichen aus. Man entschloss sich, kein Fundament zu setzen, und legte einfach Betonplatten auf die Fläche. 

Wer wird in dieser Geschichte für Belarus sprechen? Ohne offizielle Vertretung ist das schwer. Das Tsichanouskaja-Team, eine probelarusische, protostaatliche Struktur, befindet sich im Exil in Litauen, in einem Schwebezustand. Die Zivilgesellschaft ist in Geiselhaft einer „bewaffneten, kriminellen Vereinigung“, die auf finanzielle, militärische und ideologische Unterstützung von Putins Staat zählen kann. 

Die Geschichte der letzten Jahre hat gezeigt, dass die belarusische Gesellschaft weit entfernt ist von Infantilität. In Zeiten von COVID und den Protesten 2020 bewiesen die Menschen eine große Fähigkeit zur Selbstorganisation. Auf der Makroebene werden die Interessen eines Landes aber nicht von Aktivisten vertreten. 

Nationale Verwaisung empfinde ich auch deshalb, weil beim kürzlichen Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen Belarus vergessen wurde. Bei vielen von uns löste das einen Schock aus. Belarusische politische Gefangene leiden und sterben in Isolation. Wir sind durchsichtig. Tsichanouskajas Team wurde ignoriert. Für die Akteure der internationalen Politik ist eine Regierung im Exil keine ausreichende Vertretung, ein vom Nachbarland abhängiger Diktator ebenso. Deshalb gerät alles ins Stocken. Für andere Staaten ist nicht klar, wohin sie Anfragen bezüglich einer Zusammenarbeit mit unserem Land richten sollen. 

 

Ich denke, ein bislang unreflektiertes Ergebnis der belarusischen Proteste 2020 ist, dass das Land, als es sich für eine kurze Zeit im Zentrum der Weltöffentlichkeit wiederfand, plötzlich mit anderen Augen auf sich blicken konnte, wie ein Beobachter von außen. „Wer seid ihr?“ – diese Frage stand im Raum. 

Und wir begannen, Antworten zu suchen. Nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst. Um uns selbst dadurch besser zu verstehen. Bis heute beantworten die Belarusen diese Frage, als politische Geflüchtete und Arbeitsmigranten über die Welt verteilt, vergleichen sie sich mit den Kulturen, in denen sie gestrandet sind. Und bis heute beantworten sie diese Frage, wenn sie in Belarus geblieben sind. 

Eine Freundin beobachtete kürzlich in Minsk folgende Szene: Eine Gruppe junger Menschen steht an einem Fußgängerüberweg, keine Autos in Sicht. Zwei von ihnen halten es nicht aus und gehen bei Rot über die Straße. „Jungs, ihr seid keine Belarusen!“, rufen ihnen die anderen zu, die auf Grün warten. 

Noch vor Kurzem wussten die Belarusen nicht so recht, worin sie sich von anderen unterscheiden, welche Verhaltensmuster typisch für sie sind. Jetzt haben sie es herausgefunden. 

Ein bekannter, aber aus meiner Sicht bislang unterschätzter Fakt ist, dass Maryja Kalesnikawa, eine der Anführerinnen der Proteste gegen die Diktatur, 2020 zum ersten Mal in der Geschichte sagte: „Belarusen, ihr seid unglaublich!“ Später begegnete mir eine sarkastische Kritik dieser Aussage, sie sei selbstverliebt, aber diese Ansicht teile ich nicht. Ich halte diese Äußerung und die Reaktion darauf für einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die Menschen in Belarus haben sich nie für großartig gehalten, nun haben sie sich zum ersten Mal in der Geschichte so gesehen. Ist das etwa nicht bedeutend? 

 

Mit Kolleg:innen aus verschiedenen Ländern sitzen wir auf der Terrasse des Literarischen Colloquiums in Berlin. Wir schauen auf den Wannsee, über den sich schon ein Streifen Sonnenuntergang gelegt hat. Bald werde ich in meine Berliner Bleibe zurückkehren müssen. 

„Was sagt man auf Belarusisch, wenn man anstößt?“, fragt mich Bojana aus Serbien. 

„Häufig sagt man Budzma!, aber mir gefällt eine andere Variante, Šanujmasja!“ 

„Und was bedeutet das jeweils?“ 

„Das erste heißt „Seien wir!“, das zweite „Respektieren wir uns!““ 

„Gefällt mir beides!“ 

Klingt nach einem Plan. 

 

 

ANMERKUNG DER REDAKTION: 

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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Die moderne belarussische Sprache

Eine Fahrt mit der Minsker Metro verrät einiges über die sprachliche Situation in der Belarus. Die Fahrgäste unterhalten sich auf Russisch. In dieser Sprache sind auch die Bücher und Zeitschriften in ihren Händen, genau wie die Werbeanzeigen an den Wänden. Und gibt es einmal Störungen im Betriebsablauf, so erfolgt die entsprechende Durchsage ebenfalls auf Russisch. Wird jedoch ein planmäßiger Halt angekündigt, hört man aus den Lautsprechern plötzlich eine andere Sprache: das Belarusische.

Wären auf dem Gebiet der heutigen Belarus vor 200 Jahren auch schon Metros gefahren, hätte sich ein anderes Bild geboten. Russisch wäre kaum zu hören gewesen, denn die Gebiete der heutigen Belarus sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts erst seit kurzer Zeit Teil des Russischen Zarenreichs. Zuvor hatten sie jahrhundertelang zur Adelsrepublik Polen-Litauen gehört, und deswegen wären auch zu jener Zeit die offiziellen Durchsagen der nächsten Station wohl noch auf Polnisch erfolgt. Auch die Namen der Stationen hätte man auf Polnisch ausgeschildert. Zwar hatte es im 16. und 17. Jahrhundert auf den Gebieten der Belarus bereits eine autochthone, ostslawische Schriftsprache1 gegeben, diese war aber längst vom westslawischen Polnischen verdrängt worden. Unterhalten hätten sich die Fahrgäste des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Sprachen: Einige auf Polnisch, der Sprache des Adels, andere auf Jiddisch, und wieder andere in unterschiedlichen dialektalen Formen des ostslawischen Belarusischen, der Sprache der breiten Bevölkerung.

Das moderne Belarusische

Im 19. Jahrhundert setzte sich in Europa der Glaube an die Einheit von Volk, Nation und Sprache und damit das Bedürfnis nach einheitlichen Standardsprachen durch. Für die drei modernen ostslawischen Standardsprachen, für das Russische, das Ukrainische und das Belarusische, war dieses Jahrhundert das entscheidende. Auch die Idee einer belarusischen Identität gewann nun an Bedeutung und damit der Wunsch nach einer einheitlichen belarusischen Sprache. Anfang des 19. Jahrhunderts standen beide allerdings in Konkurrenz zur polnischen Sprache und Identität. Exemplarisch zeigt sich das in Biographie, Werk und Wahrnehmung der beiden befreundeten Schriftsteller Adam Mickiewicz und Jan Tschatschot. Obwohl beide am Ende des 18. Jahrhunderts unweit des heute belarusischen Nawahrudak geboren wurden, avancierte der erste zum Nationaldichter Polens, während der zweite zu einem der Gründer der belarusischen Wiedergeburtsbewegung wurde. „Von nahezu identischen Ausgangspunkten“ schlugen sie Bahnen ein, „wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten“2.

Das Polnische verlor im späteren 19. Jahrhundert in den „Nordwestprovinzen“ des Zarenreiches zunehmend seine Bedeutung. In Reaktion auf zwei Aufstände, die 1830/31 und 1863 auf den Gebieten des ehemaligen Polen-Litauens ausbrachen, nahm stattdessen der Einfluss des Russischen zu. Die westlichen Ostslawen wurden als „Teil des russischen Volkes“ betrachtet, der durch polnische Einflussnahme von diesem „entfremdet“ worden sei.3 Eine belarusische Standardsprache hatte in dieser Logik keinen Platz und wurde dementsprechend in ihrer Entwicklung behindert. Trotz dieser ungünstigen politischen Situation bildete sich bis zum Anfang des 20. Jahrhundert eine Literatur heraus, deren Sprache auf den damaligen belarusischen Dialekten aufbaute. Im Zuge der politischen Teilliberalisierung, die auf die Russische Revolution 1905 folgte, konnte das Belarusische schließlich auch in publizistischen Bereichen verwendet und stilistisch ausgebaut werden. Maßgeblich für diesen Prozess war die zwischen 1906 und 1915 herausgegebene Zeitung Nascha Niwa, das wichtigste Publikationsorgan der belarusischsprachigen Schriftsteller und Publizisten jener Zeit. 1918 wurden die orthographischen und grammatischen Regeln des Belarusischen durch Branislau Taraschkewitsch kodifiziert. Diese erste, aber nicht letzte Norm der belarusischen Standardsprache wurde nach ihrem Schöpfer als Taraschkewiza bekannt und war auf Abstand zum Russischen bedacht.

Das Belarusische in der Sowjetunion

Anfang des 20. Jahrhunderts stand die belarusische Sprache also gewissermaßen bereit, in einem künftigen belarusischen Staat die Funktionen einer Standardsprache zu erfüllen. Durchsetzen sollte sie sich jedoch letztlich nie, auch wenn es nach dem ersten Weltkrieg zunächst ganz danach aussah. Zwar gingen die westlichen Gebiete der heutigen Belarus an das neu entstandene Polen, wo eine Polonisierung der ostslawischen Bevölkerung angestrebt wurde. Im östlichen Teil, der nun als Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) Teil der Sowjetunion war, erfuhr das Belarusische jedoch im Zuge der sogenannten Belarussisazyja eine nie dagewesene Förderung. Insbesondere wurde das Belarusische als Schul- und Verwaltungssprache eingeführt und auch in beträchtlichem Maße durchgesetzt.

Doch die liberale Sprachenpolitik der frühen Sowjetunion, die das Ziel verfolgte, nationale Minderheiten und ihre Eliten in den neuen Staat und die neue Ideologie einzubinden, sollte nicht lange andauern. Unter Stalin wurde 1934 das Russische zur alleinigen Sprache der innersowjetischen Kommunikation erklärt, bereits ein Jahr zuvor war es die alleinige Sprache der Armee geworden. 1938 wurde es Pflichtfach in den Schulen aller Sowjetrepubliken. Ein neues Regelwerk, die nach dem Volkskommissariat (narodny kamissaryjat) benannte Narkamauka, ersetzte 1933 die Taraschkewiza. Sie nähert das Belarusische in Grammatik, Wortbildung und Orthographie dem Russischen an. Diese Maßnahmen lesen sich heute recht nüchtern. Gleichzeitig fiel aber dem Großen Terror der 1930er Jahre auch fast die gesamte belarusischsprachige Intelligenz zum Opfer. Sich für das Belarusische einzusetzen oder lediglich Belarusisch zu sprechen, während der Kampf gegen „nationale Abweichler“ wütete, erforderte beträchtlichen Mut.

Doch nicht nur die Sowjetisierung, sondern auch der Zweite Weltkrieg hatte Folgen für die Stellung der belarusischen Standardsprache. Zwar gingen mit der sowjetischen Annexion Ostpolens 1939 große Teile des in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden belarusischen Sprachgebiets an die BSSR. Der Umstand, dass die deutschen Besatzer die belarusische Sprache im Zweiten Weltkrieg – wie auch schon im Ersten Weltkrieg – in gewissem Umfang für ihre Zwecke gefördert hatten, trug jedoch dazu bei, das Belarusische in der Sowjetunion zu diskreditieren. Vor allem aber verlor die belarusische Standardsprache ihren stärksten Trumpf gegenüber dem Russischen, nämlich die größere Nähe zur Alltagssprache der breiten Bevölkerung. Denn mit der Ermordung von Millionen Menschen und der vollständigen Vernichtung von etwa 9000 Dörfern durch die Deutschen war auch die dialektale Landschaft zu großen Teilen zerstört worden. Nach dem Krieg wurden Städte im Zuge einer raschen Industrialisierung schneller wiederaufgebaut als Dörfer. Zahlreiche junge Sprecher*innen belarusischer Dialekte zogen daher als dringend benötigte Arbeitskräfte vom Land in die rasant wachsenden Städte, wo sie sich der sozial dominanten russischen Sprache zuwandten. Hieraus resultiert die weite Verbreitung der sogenannte Trassjanka im Lande, einer gemischten Rede, die Elemente des Belarusischen und des Russischen aufweist.

Dass insbesondere in den Städten das Russische dominierte, lag einerseits daran, dass nach dem Krieg viele Russ*innen und Sprecher*innen des Russischen aus anderen Teilen der Sowjetunion in die belarusischen Städte gezogen waren, um dort Führungspositionen einzunehmen. Vor allem blieb aber auch unter Stalins Nachfolgern das Russische die Sprache des ideellen Wegs zum Kommunismus – und damit auch die Sprache des individuellen Wegs nach oben auf jedweder Karriereleiter. Seinem Ärger über eine belarusischsprachige Rede, die er wohlgemerkt auf dem 40. Jahrestag der BSSR hatte hören müssen, soll Chruschtschow mit den Worten Luft gemacht haben: „Je eher wir alle Russisch sprechen, desto eher haben wir den Kommunismus aufgebaut“.4 Das Russische hatte nun die „zweite Muttersprache“ aller nicht-russischen Ethnien zu sein. Trotz allem war das Belarusische als Unterrichtssprache bis in die Nachkriegszeit hinein aber noch recht gut vertreten. Als Eltern ab 1958 jedoch die Unterrichtssprache ihrer Kinder frei wählen durften, optierten die meisten für das in der Sowjetunion unverzichtbare Russische, nicht für das verzichtbare Belarusische.

Belarusisch im unabhängigen Belarus

Zum Ende der Sowjetzeit sah es für das Belarusische düster aus. Erst in der Perestroika-Stimmung der 1980er Jahre konnten sich national orientierte Intellektuelle für das Belarusische stark machen. Als alleinige Staatssprache der nun unabhängigen Republik Belarus erlebte es dann Anfang der 1990er Jahre einen vorerst letzten Aufschwung. Insbesondere der Anteil der Schüler*innen, die auf Belarusisch unterrichtet wurden, stieg stark an. Der Rückhalt in der Bevölkerung für die allgemeine Durchsetzung einer Sprache, die von vielen kaum benutzt und eher mittelmäßig beherrscht wurde, war jedoch nicht allzu groß. Vielen ging es zumindest zu schnell und in der postsowjetischen Wirtschaftskrise waren vielen Belarus*innen andere Probleme dringlicher. Auf diese Stimmung bauend ließ Präsident Alexander Lukaschenko kurz nach seinem Antritt im Mai 1995 ein in seiner Rechtmäßigkeit umstrittenes Referendum durchführen, das unter anderem auch auf die Staatssprache abzielte. Die entsprechende Frage war geschickt formuliert: Es ging nicht etwa darum, die Förderung des Belarusischen zurückzunehmen oder es gar zurückzudrängen, sondern darum, „dem Russischen den gleichen Status wie dem Belarusischen“ einzuräumen. Offiziell 87 Prozent der gültigen Stimmen zeigten sich damit einverstanden.

Heute sind Belarusisch und Russisch rechtlich gleichberechtigte Staatssprachen der Republik Belarus. Personen, die sich für eine stärkere Position des Belarusischen einsetzen, kann die offizielle Seite entgegnen, dass man das Belarusische ja keinesfalls zurückdränge. Man sei – so etwa Lukaschenko – lediglich dagegen, eine der beiden Sprachen mit Zwang durchzusetzen.5 Ganz ähnlich wie bei der freien Wahl der Unterrichtssprache in den 1950er Jahren ist das Belarusische ohne eine positive Diskriminierung jedoch chancenlos. Denn ob im alltäglichen Gebrauch, im öffentlichen Leben, den Medien, dem Bildungswesen, dem Buchmarkt, bei Regierungs- und Verwaltungsorganen, im Geschäftswesen, in der Wissenschaft – überall dominiert das Russische, das Belarusische spielt allenfalls eine marginale Rolle.
So gab im Zensus von 2019 zwar immerhin ein gutes Viertel der knapp acht Millionen ethnischer Belarus*innen6 an, zu Hause für gewöhnlich das Belarusische zu benutzen. Dass sich dahinter aber nicht die Standardsprache verbirgt, wird in anderen Umfragen deutlich. Können die Befragten nicht nur Belarusisch oder Russisch ankreuzen, sondern auch „Trassjanka“ oder „belarusisch-russisch gemischt“, dann sinkt der Anteil der Belarusischsprecher*innen auf unter fünf Prozent.7
 

Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt.8

Der zweifellos marginale Status des Belarusischen im Gebrauch wird zuweilen sogar in ein Argument gegen dessen Förderung umgemünzt: Dass niemand es im Alltag benutze, zeige, dass diese „Sprache der Schriftsteller“ nicht für den Alltag tauge. Das verkennt allerdings, dass das Belarusische für einige, wenn auch wenige, durchaus die praktikable und normale Alltagssprache ist. Bei dieser Gruppe handelt es sich um eine national gesinnte Minderheit, oft mit einer Vorliebe für die erste, nicht-russifizierte Norm des Belarusischen, die Taraschkewiza. Der Gebrauch des Belarusischen in der Öffentlichkeit ist ungewöhnlich und damit als Statement zu verstehen. Umgekehrt ist es jedoch keineswegs so, dass der Gebrauch des Russischen auf eine regierungstreue Haltung oder die Ablehnung einer belarusischen Eigenständigkeit schließen lässt. Die Sprachenfrage ist entsprechend auch in den gegenwärtigen Protesten „seltsam abwesend“9


Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt.10

Die Situation des Belarusischen ist heute von vielen Widersprüchen geprägt. So betrachten etwa viele Belarus*innen das Belarusische als ihre Muttersprache11, obwohl sie es kaum sprechen. Auch sehen viele die Sprache noch als wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Belarus*innen zu den Russ*innen, stimmen jedoch der Aussage zu, dass man auch Belarus*in sein könne, ohne die Sprache zu sprechen. Grundsätzlich beherrschen solle man sie jedoch schon, auch wenn für die allermeisten das Belarusische heute eine lediglich im Klassenzimmer erlernte und auf schulische Kontexte beschränkte Sprache ist. Nach wie vor hegen aber viele junge Belarus*innen den Wunsch, dass ihre eigenen Kinder einmal nicht nur das Russische, den jasyk, beherrschen, sondern auch: die belarusische mowa.12 Ob den Belarus*innen in ihrer Mehrheit die symbolischen, aber letztlich homöopathischen Dosen des Belarusischen in Metro, Schule und anderswo ausreichen, wird sich zeigen müssen.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

 

Zum Weiterlesen
Bieder, H. (2001): Der Kampf um die Sprachen im 20. Jahrhundert, in: Beyrau, D./Lindner, R. (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen, S. 451–471
Hentschel, G./Kittel, B. (2011): Zur weißrussisch-russischen Zweisprachigkeit in Weißrussland – nicht zuletzt aus der Sicht der Weißrussen, in: Bohn, Th. et al. (Hrsg.): Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld, S. 49–67
Woolhiser, Curt (2013): New speakers of Belarusian: Metalinguistic Discourse, Social Identity, and Language Use, in Bethea, David M./Bethin, Christina Y.  (Hrsg.): American Contributions to the 15th International Congress of Slavists, Minsk, August 2013, Bloomington, S. 63–115
Zaprudski, S. (2007): In the grip of replacive bilingualism: The Belarusian language in contact with Russian, in: International Journal of the Sociology of Language 183, S. 97–118

1.Moser, M. (2005): Mittelruthenisch (Mittelweißrussisch und Mittelukrainisch): Ein Überblick, in: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 50, S. 125–142; Bunčić, D. (2006): Die ruthenische Schriftsprache bei Ivan Uževyč unter besonderer Berücksichtigung der Lexik seines Gesprächsbuchs Rozmova/Besěda, München 
2.Kohler, G.-B. (2014): Selbst, Anderes Selbst und das Intime Andere: Adam Mickiewicz und Jan Čačot, in: Studia Białorutenistyczne 8, S. 79–94, hier S. 83 
3.Brüggemann, M. (2014): Zwischen Anlehnung an Russland und Eigenständigkeit: Zur Sprachpolitik in Belarus', in: Europa ethnica 3-4/2014, S. 88–93, hier S. 89 
4.zit. nach: Korjakov, Ju. B. (2002): Jazykovaja situacija v Belorussii i tipologija jazykovych situacij, Moskva, hier S. 39 
5.nach Brüggemann, M. (2014): Die weißrussische und die russische Sprache in ihrem Verhältnis zur weißrussischen Gesellschaft und Nation: Ideologisch-programmatische Standpunkte politischer Akteure und Intellektueller 1994–2010, Oldenburg, hier S. 112 
6.Mit ethnischen Belarus*innen sind dabei belarusische Staatsbürger*innen gemeint, die sich nicht als Russ*innen, Pol*innen, Ukrainer*innen etc. identifizierten. 
7.Kittel, B./Lindner, D./Brüggemann, M./Zeller, J. P./Hentschel, G. (2018): Sprachkontakt – Sprachmischung – Sprachwahl – Sprachwechsel: Eine sprachsoziologische Untersuchung der weißrussisch-russisch gemischten Rede „Trassjanka“ in Weißrussland, Berlin, hier S. 180; Informacionno-analitičeskij centr pri Administracii Prezidenta Respubliki Belarus’ (Hrsg.) (2018): Respublika Belarus’ v zerkale sociologii: Sbornik materialov sociologičeskich issledovanij, Minsk, hier S. 46 
8.Die Daten wurden in sieben belarusischen Städten erhoben, 1230 Menschen wurden befragt. Vgl. Kittel et al. 2018, S. 180 
9.Brüggemann, M. (2020): Demokratie nur auf Belarusisch? Eine Reise in die sprachpolitischen „Befindlichkeiten“ der Belarus, in: Bohn, T./Rutz, M. (Hrsg.): Belarus-Reisen: Empfehlungen aus der deutschen Wissenschaft, Wiesbaden, S. 53–69, hier S. 69 
10.Die Daten wurden in einer landesweiten Umfrage erhoben, 882 Menschen wurden befragt. Vgl. Hentschel, G./Brüggemann, M./Geiger, H./Zeller, J. P. (2015): The linguistic and political orientation of young Belarusian adults between East and West or Russian and Belarusian, in: International Journal of the Sociology of Language 2015/236, S. 133–154, hier S. 151 
11.In der Entsprechung zum deutschen Wort „Muttersprache“ ist weder im Belarusischen noch im Russischen von „Mutter“ die Rede. Im Belarusischen ist es „rodnaja mova“, im Russischen „rodnoj jazyk“. Das Attribut „rodnaja“ bzw. „rodnoj“ ist am ehesten vergleichbar mit dem englischen „native“. In anderen Kontexten kann es mit „leiblich verwandt“, „Heimat‑“ oder „angeboren“ übersetzt werden. Abgeleitet ist es von der Wurzel „rod“, zu übersetzen unter anderem mit „Stamm, Geschlecht“, die auch im Wort „narod“ „Volk“ vorkommt. Vgl dazu: Zeller, J. P./Levikin, D. (2016): Die Muttersprachen junger Weißrussen: Ihr symbolischer Gehalt und ihr Zusammenhang mit sozialen Faktoren und dem Sprachgebrauch in der Familie, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch (Neue Folge) 4, S. 114–144 
12.Hentschel, G et al. 2018, S. 151 
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Janka Kupala

Vor 80 Jahren starb die Ikone der belarusischen Literatur Janka Kupala (1882–1942). Ob es Selbstmord war oder ob der Geheimdienst beteiligt war, wurde nie richtig aufgeklärt. Seine Werke sind Klassiker, die mit dem Protestsommer von 2020 wieder brandaktuell wurden. Gun-Britt Kohler in einer Gnose über den Nationaldichter Kupala, der mit seinem Werk wie kein anderer für die schwierige Suche der Belarusen nach einem nationalen Selbstverständnis steht.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)