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Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Nikolaj Statkewitsch

In Belarus bezeichnet der Begriff „politischer Häftling“ heute ein gewöhnliches, profanes, ja alltägliches Phänomen. Darüber staunt niemand mehr. Seit 2020 wurden und werden mindestens 4800 Belarussen aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt.

Doch selbst angesichts dieser Situation gibt es einen, der sich von den anderen abhebt: Nikolaj Statkewitsch ist eine Kultfigur der belarussischen Opposition, ein Veteran des Kampfes für ein demokratisches Belarus. Dreimal wurde er von Amnesty International zu einem Gewissenshäftling erklärt. Auf seine Art ist er ein belarussischer Graf von Monte Christo. Heute befindet er sich wieder hinter Gittern, verurteilt zu 14 Jahren Freiheitsentzug. Er war noch im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die schließlich die historischen Proteste nach sich zogen, festgenommen worden. Nikolaj Statkewitsch verkörpert wie kein anderer Anführer der belarussischen Opposition den Typ des unermüdlichen Kämpfers gegen die Diktatur Alexander Lukaschenkos, was ihn zu dessen persönlichem Feind machte.

Nikolaj Statkewitsch (belaruss. Mikalaj Statkewitsch) wurde 1956 in dem Dorf Ljadno (Kreis Sluzk, Oblast Minsk) in einer Lehrerfamilie geboren. Mit Beginn von Gorbatschows Perestroika gingen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen in die Politik. Statkewitsch kam aus der Armee, als Militärkader. In sowjetischer Zeit war die Karriere als Militär für Kinder aus ländlichen Gegenden ein guter Weg, den sozialen Status zu verbessern. Statkewitsch stand eine glänzende Karriere beim Militär offen. Doch dann kam die Perestroika. Und Nikolaj Statkewitsch als kluger Kopf ging in die Politik, weil er spürte, dass das seine Berufung ist.

Die wichtigste oppositionelle Kraft jener Zeit war die Belarussische Volksfront (BNF), eine Organisation, die für eine nationale belarussische Wiedergeburt eintrat. Die Volksfront bestand in zweierlei Form, als Partei und als Bewegung. Die damaligen Gesetze untersagten es Militärangehörigen, einer politischen Partei beizutreten. In einer Bewegung jedoch wurde eine Mitgliedschaft nicht festgeschrieben. Die BNF als Bewegung vereinigte unter ihrem Dach sämtliche Gegner des kommunistischen Regimes, von Liberalen bis zu Nationalisten.

Für Statkewitsch wurde vor allem die belarussische nationale Idee zum wichtigsten politischen Wert, zu dem er sich bekannte. Und von dieser Haltung ist er nie abgerückt. Er wechselte zur belarussischen Sprache und entwarf schon zu sowjetischen Zeiten ein Konzept zum Aufbau einer belarussischen Armee. Anfang 1991 trat er aus Protest gegen den Einsatz sowjetischer Panzer zur Unterdrückung der Demonstrationen in Vilnius aus der KPdSU aus.

Am 20. August 1991, während des Putsches des Staatskomitees für den Ausnahmezustand (GKTschP), wurde in Minsk die Belarussische Vereinigung der Militärangehörigen (belaruss. BSW) gegründet, die sich zum Ziel setzte, eine belarussische Armee aufzubauen. Zum Vorsitzenden der Organisation wurde Statkewitsch gewählt. Ihrer Ideologie und den politischen Aufgaben nach stand die BSW der Belarussischen Volksfront nahe. Die nationale BNF hat auf jede erdenkliche Weise die militärische Vereinigung BSW und damit die Arbeit von Nikolaj Statkewitsch unterstützt.

Nach dem Zerfall der UdSSR und der Gründung der unabhängigen Republik Belarus kam es zu einem heftigen Konflikt zwischen Statkewitsch und der neuen Führung der Streitkräfte des gerade erst entstandenen Staates. Das Verteidigungsministerium reagierte sehr negativ darauf, dass es innerhalb der Armee eine politische Organisation gab mit einer Ideologie, die von den Generälen als radikal nationalistisch betrachtet wurde. Der Verteidigungsminister verlangte von aktiven Militärangehörigen, entweder aus der Vereinigung auszutreten oder den Dienst zu quittieren. Statkewitsch wollte sich diesem Ultimatum nicht beugen und organisierte eine aufsehenerregende Aktion. Am 8. September 1992, dem Jahrestag der bedeutenden Schlacht bei Orscha, schworen Mitglieder der BSW öffentlich auf dem Platz vor dem Haus der Regierung Belarus die Treue. Als Reaktion entließ die Regierung Aktivisten dieser Organisation aus den Sicherheitskräften, darunter auch Statkewitsch. Im Mai 1993, einen Monat vor der geplanten Verteidigung seiner Doktorarbeit, wurde er aus dem Militärdienst in die Reserve entlassen, und zwar mit der Formulierung „wegen Diskreditierung des Offiziersranges“. 1995 verließ Statkewitsch den Posten des BSW-Vorsitzenden, die Organisation verlor ihren Einfluss und wurde fünf Jahre später endgültig aufgelöst.
 

Nikolaj Statkewitsch (rechts) bei dem von ihm initiierten Treueschwur auf das unabhängige Belarus im Jahr 1992 / Foto © gazetaby.com 

Und Nikolaj Statkewitsch, den man im demokratischen Milieu bald auf Belarussisch Mikola nannte, wurde jetzt zu einem professionellen Politiker. Er trat der Partei Belarussische Sozialdemokratische Hramada (dt. Gemeinschaft, Gesellschaft) bei. Diese verknüpfte in ihrem politischen Programm zwei Ideen: Nationalismus und Sozialdemokratie. In Belarus waren nämlich in der Zeit des Zerfalls der UdSSR sozialistische Ideen recht populär. Für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung waren Werte wie Gerechtigkeit und soziale Sicherung wichtig. Viele hegten eine Nostalgie für die Sowjetunion. Daher entstanden im Land eine Reihe sozialdemokratischer Parteien, unter anderem die Hramada.

1995 wurde Statkewitsch zum Parteivorsitzenden gewählt. Dafür musste er sich auf dem Parteitag in einem heftigen Wettstreit gegen den früheren Parteiführer Oleg Trussow durchsetzen. 1996 nannte sich die Partei um in Belarussische Sozialdemokratische Partei (Volks-Hramada) (BSDP NH). Die Partei vertrat sozialdemokratische Ideen mit einer starken Akzentuierung nationalistischer Werte.

Der Zufall wollte es jedoch, dass Statkewitsch zu dem Zeitpunkt Parteiführer wurde, als Alexander Lukaschenko sein autoritäres Regime aufbaute. Dieser Prozess war mit einer Demontage demokratischer Institutionen und Mechanismen verbunden. Unter anderem wurden die repräsentativen Institutionen wie das Parlament und die Wahlen in eine reine Imitation ihrer selbst verwandelt. Der oppositionelle Teil der Gesellschaft versuchte, sich dem zu widersetzen. Als einziges Mittel des Protests blieben Aktionen auf der Straße (Versammlungen, Demonstrationen, Mahnwachen usw.). Die Regierung reagierte darauf, indem sie diese Proteste rigoros unterdrückte. Die Straßenaktionen waren stets von Zusammenstößen mit der Miliz begleitet. Teilnehmer wurden verprügelt, festgenommen und verurteilt. 

Dadurch verlagerte sich die politische Auseinandersetzung auf die Straße. Und Politiker, die sich auf die parlamentarische Arbeit konzentriert hatten, wurden von ihrem Tätigkeitsfeld abgeschnitten. In den Vordergrund rückten jetzt Politiker, die einen Kampf auf der Straße anführen konnten. Statkewitsch wurde zur wichtigsten Figur dieser neuen Phase des oppositionellen Widerstands. Das Bild von Statkewitsch als einem Straßen- und Barrikadenkämpfer hat sich tief eingeprägt und wurde im Weiteren für seine politische Biografie bestimmend.

So war Statkewitsch 1999 einer der Organisatoren des aufsehenerregenden Freiheitsmarsches, der in heftigen Zusammenstößen mit der Miliz endete. Von 1996 bis 2000 wurde gegen Statkewitsch rund 30 Mal Administrativhaft wegen Straßenaktionen verhängt. Drei Mal wurden gegen ihn Strafverfahren eingeleitet.

Statkewitsch entwickelte ein Konzept, dessen Sinn in folgender Logik bestand: Lukaschenko siegt, weil er das Bild eines starken, coolen Politikers, so einer besonderen Art Macho, bedient. Daher ist er nur durch einen noch cooleren, stärkeren, mutigeren, unbeugsameren und furchtloseren Opponenten zu besiegen. Das war die Rolle, die Funktion, die Statkewitsch erfüllen wollte. Und deshalb wurde er zur wichtigen Symbolfigur der Opposition. In seinem Artikel Die Ethik der Freien schrieb Statkewitsch: „Verrat an der Freiheit durch Lüge und Erniedrigung lässt einen nicht nur beinahe zum Sklaven werden. Es führt allenthalben zu Unfreiheit. Freiheit eröffnet die Chance, sich als Person zu verwirklichen, mit sich selbst in Harmonie zu sein. Die Möglichkeit dazu gibt es immer. Alles hängt nur von eurem Willen und eurem Mut ab, frei zu sein.“1

Das war auch der Grund, warum Statkewitsch in den Augen von Lukaschenkos Regime die größte Gefahr bedeutete. Schließlich waren es angesichts fehlender Wahlen gerade die Straßenproteste, die für das Regime die wichtigste Gefahr darstellen.

In dieser Zeit kam es zu zwei Ereignissen, die in demokratischen Kreisen kontrovers diskutiert wurden. Im Jahr 2000 trafen oppositionelle Parteien und Organisationen – darunter die von Mikola geführte Sozialdemokratische Volks-Hramada – gemeinsam die Entscheidung, die Parlamentswahlen angesichts der herrschenden undemokratischen Bedingungen zu boykottieren. Doch dann ignorierte Statkewitsch plötzlich diesen Beschluss, kandidierte in einem Direktwahlkreis und verlor dort, wie zu erwarten. Auch Statkewitsch selbst konnte sein Vorgehen nicht schlüssig erklären.

2005 löste die Regierung die Sozialdemokratische Volks-Hramada auf. Dem war ein heftiger Konflikt innerhalb der Parteiführung vorausgegangen, in dessen Folge Statkewitsch den Parteivorsitz verlor. Anschließend gründeten Mikola und seine Mitstreiter ein Organisationskomitee zur Gründung der neuen Belarussischen sozialdemokratischen Partei Volks-Hramada. In diesem Zustand eines nicht registrierten Organisationskomitees besteht die Organisation bis heute. Sie ist trotz der fehlenden offiziellen Registrierung die einzige Partei in Belarus, die Teil der Sozialistischen Internationale ist.

Am 17. Oktober 2004 fanden in Belarus Parlamentswahlen und ein Referendum statt, dessen formales Ergebnis Lukaschenko juristisch die Möglichkeit gab, unbegrenzt oft bei Präsidentschaftswahlen anzutreten. Die Opposition reagierte mit Protestaktionen, die Statkewitsch anführte. Wegen der Organisation dieser friedlichen Demonstration gegen die Fälschung der Referendumsergebnisse wurden Mikola und ein weiterer der Organisatoren, Pawel Sewerinez, dann 2005 zu drei Jahren Haft verurteilt.

Das war das erste Mal, dass Oppositionsführer wegen Beteiligung an einer friedlichen Aktion zu Freiheitsentzug verurteilt wurden. Bei den Protesten hatte es keinerlei Unruhen oder Zusammenstöße mit der Miliz gegeben. Von den vielen Anklagepunkten, die vor Gericht vorgebracht wurden, blieb de facto nur einer übrig: regelwidriges Überqueren einer Straße an einer nicht dafür vorgesehenen Stelle. Das ist höchstens eine Ordnungswidrigkeit, für die sie übrigens die Strafe bereits verbüßt hatten. Nach der Freilassung widmete sich Statkewitsch wieder intensiv seiner politischen Tätigkeit.

2010 fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Die Regierung entschloss sich dabei zu einer neuen Taktik und ließ die Registrierung von gleich zehn Kandidaten zu. Einer von ihnen war Nikolaj Statkewitsch. Die Regierung erwartete, dass sich die Stimmen der demokratisch gesonnenen Wähler auf die neun oppositionellen Kandidaten verteilen würden und Lukaschenko leicht den Sieg erringt. Diese Taktik gab jedoch den Opponenten des Diktators die legale Möglichkeit, einen Wahlkampf gegen ihn zu führen. Sie hatten unter anderem Zugang zum staatlichen Fernsehen. Statkewitschs Auftritt dort war der heftigste: In einer Livesendung wandte er sich direkt an Lukaschenko, duzte ihn, und verlangte die Wiedereinführung normaler Wahlen im Land.

Die Präsidentschaftswahlen fanden am 19. Dezember 2010 statt. Am Wahlabend und in der Nacht zum 20. Dezember fand in Minsk eine Protestversammlung mit tausenden Teilnehmern statt. Statkewitsch führte die riesige Marschkolonne zum Haus der Regierung. Im Laufe der Aktion wurden dort Glastüren eingeschlagen. Die Versammlung wurde gewaltsam von Truppen des Innenministeriums und Spezialeinheiten der Miliz aufgelöst. An diesem Abend und in den folgenden Tagen wurden sieben der zehn Präsidentschaftskandidaten von Sondereinheiten festgenommen, darunter Statkewitsch. 

Während der Untersuchungshaft trat Statkewitsch aus Protest in einen 24-tägigen Hungerstreik, der auf der Intensivstation eines KGB-Krankenhauses beendet wurde. Er weigerte sich, Aussagen zu machen oder Dokumente zu unterzeichnen. Lukaschenko verzieh Statkewitsch diese Dreistigkeit nicht: Am 26. Mai 2011 wurde er zu sechs Jahren Freiheitsentzug in einer Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen verurteilt. Das war die längste Haftstrafe aller damaligen politischen Häftlinge in Belarus, von denen es einige Dutzend gab.
 

Mikola Statkewitsch nach seiner Freilassung im August 2015 in Minsk / Foto © Tut.by

2015 änderte sich jedoch die politische Lage. Lukaschenko schlug einen neuen Kurs ein, um die Beziehungen zum Westen aufzutauen. Die Freilassung der politischen Häftlinge war dabei eine der Bedingungen, die die USA und die EU an Minsk gestellt hatten. Also wurde Statkewitsch aufgrund eines Gnadenerlasses von Präsident Lukaschenko vorzeitig entlassen. Er kam zu einem Zeitpunkt frei, als die belarussische Gesellschaft im Schock der Ereignisse in der Ukraine gefangen war. Während des zweiten Maidan waren rund 100 Menschen ums Leben gekommen; die militärische Aggression Russlands hatte mit der Besetzung der Krim und des Donbass begonnen. Infolge dieser Ereignisse festigte sich in der belarussischen Gesellschaft eine Furcht vor Protestaktionen auf der Straße. Diese wurde von der staatlichen Propaganda weiter angefacht, die der Bevölkerung mit Verweisen auf den „blutigen Maidan“ Angst einjagte. Für eine gewisse Zeit verzichtete die Opposition auf Aufrufe zu Straßenprotesten. Die Präsidentschaftswahlen 2015 waren die einzigen Wahlen in Belarus unter Lukaschenko, bei denen es nicht zu Straßenaktionen kam.

Statkewitsch versuchte, diese Stimmung aufzubrechen. Er warf den damaligen Oppositionsführern sogar Kapitulationsneigungen vor und organisierte Aktionen mit nur wenigen Teilnehmern. Es war jedoch schwierig, die Stimmung in der Gesellschaft umzukehren. Bald machte die Regierung allerdings etwas, was die unabhängigen Medien einen „Schuss ins eigene Knie“ nannten: Lukaschenko unterzeichnete den sogenannten „Schmarotzer-Erlass“, durch den Bürger, die nicht offiziell arbeiten, die Kommunalabgaben in voller Höhe zahlen sollten. Über eine halbe Million Menschen erhielten Bescheide, dass sie „Schmarotzer“ seien. Und da betrat Statkewitsch die politische Bühne. Auf seine Initiative hin zog am 17. Februar 2017 ein „Marsch der erzürnten Belarussen“ durch das Stadtzentrum von Minsk, die gegen Lukaschenkos Erlass protestierten. An ihm beteiligten sich 2000 bis 3000 Menschen. Eigentlich nicht viele. Doch bedeutete der Marsch die Überwindung des Maidan-Syndroms, einer psychologischen Schwelle, der Angst vor Straßenprotesten. Der Marsch in Minsk setzte eine Kettenreaktion in Gang. In ganz Belarus kam es zu Versammlungen und Märschen empörter Menschen. Die Regierung war genötigt, zur Unterdrückung dieser Proteste sämtliche Einheiten des Innenministeriums loszuschicken. Letzten Endes war Lukaschenko gezwungen, seinen Erlass praktisch zurückzunehmen. Die Gesellschaft hatte gesiegt, was in Belarus äußerst selten vorgekommen ist. Statkewitsch musste allerdings etliche Male eine Administrativhaft absitzen.

Dann folgte das für Belarus schicksalhafte Jahr 2020. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen wachte die Gesellschaft auf, wurde sehr aktiv und machte deutlich, dass sie Kandidaten unterstützen würde, die eine Alternative zu Lukaschenko darstellen. Gemäß dem Gesetz konnte Statkewitsch nicht bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren, weil seine Vorstrafe noch nicht abgelaufen war. Er bereitete sich aber vor und setzte große Hoffnungen auf Proteste der Bevölkerung. „Ich denke, es gibt einige, die bereit sind, sich an die Spitze der Prosteste zu stellen. Aber ich werde alles tun, um selbst bis zu diesem Platz der Proteste zu gehen und das zu tun, was das belarussische Volk von uns erwartet“2, schrieb er.

Immer mehr Aktivisten sammelten Unterschriften für oppositionelle Kandidaten. Allen war klar, dass das Land kurz vor einer Eruption stand. Das war auch der Regierung bewusst. Also wurden Präventivmaßnahmen beschlossen. Politiker, die Organisatoren und Kristallisationspunkte von Protesten werden konnten, sollten neutralisiert werden. Also wurden Sergej Tichanowski, Nikolaj Statkewitsch, Pawel Sewerinez und andere verhaftet. Statkewitsch wurde am 31. Mai auf dem Weg zu einem Stand festgenommen, an dem Unterschriften für die Nominierung von Swetlana Tichanowskaja als Präsidentschaftskandidatin gesammelt wurden. Zunächst kam er für 15 Tage in Haft. Später wurde die Haft zweimal verlängert, und am 29. Juni 2020 wurde gegen den Oppositionellen ein Strafverfahren wegen der Vorbereitung von Massenunruhen eröffnet.

Der Gerichtsprozess begann am 24. Juni 2021. Zusammen mit Nikolaj Statkewitsch waren die bekannten Blogger Sergej Tichanowski und Igor Lossik, dazu die beiden Mitarbeiter von Tichanowski, Artjom Sakow und Dmitri Popow, angeklagt. Formal mutete das wie ein Prozess gegen eine kriminelle Vereinigung an. Es störte die Regierung dabei keineswegs, dass viele der Beschuldigten sich gar nicht kannten. Die Verhandlungen fanden hinter verschlossenen Türen statt, und zwar nicht in der Hauptstadt, sondern in Gomel im dortigen Untersuchungsgefängnis.

Interessant ist, wie die Ermittler es begründeten, dass diese Personen „Massenunruhen“ vorbereitet haben sollen. Damit bezeichnet die Regierung die massenhaften und – das ist besonders zu betonen – friedlichen Proteste im Jahr 2020. Die Sache ist nur, dass die tatsächlichen „Unruhen“ mit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 begannen. Und Statkewitsch war ja am 31. Mai verhaftet worden, also über zwei Monate vor Beginn dieser Proteste. Am 14. Dezember 2021 schließlich wurde Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Die Bedingungen des Strafvollzugs sind für politische Häftlinge aktuell sehr viel härter als früher. Menschenrechtler setzen sie jetzt mit Folter gleich. In nur einem Jahr in der Strafkolonie von Glubokoje hat Statkewitsch 36 Verweise erhalten, darunter 14 Aufenthalte in der Strafzelle. Die Regierung hat um Statkewitsch herum eine Informationsblockade errichtet. Den letzten Brief von ihm hat seine Frau am 9. Februar 2023 erhalten.

Ende 2021 hatte Mikola noch einen Brief aus dem Gefängnis nach draußen übergeben können, in dem er seine politische und Lebensphilosophie darlegte: „Am Ende des Lebens, falls man sich das Denken bewahrt hat, fragt man sich: Wozu habe ich gelebt? Die Antwort fällt leichter, wenn ihr mit eurem Handeln die Welt, und sei es nur die Welt um euch herum, erheblich besser gemacht habt“3.


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.statkevich.org: Ėtika vol'nych [2010] 
2.statkevich.org: Nikolaj Statkevič pro 2020 god: "Budet veselo" 
3.statkevich.org: Mikalaj Statkevič: Sėnsy žyccja 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)