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Oma geht auf Hecht

Foto © Takie Dela

„Wenn du eine Frau mit zum Angeln nimmst, wirst du nichts fangen“ – Weisheiten dieser Art füllen in Russland beliebte Kalender für Angler. Eine andere lautet: „Trifft ein Mann auf dem Weg zum Angeln eine alte Frau, bringt das Unglück. Zeigt er ihr aber im Vorbeigehen den Finger und spricht einen Fluch, dann bringt das Glück.“ Und ein Aberglaube besagt, dass eine Frau nicht mit ihrem Mann streiten soll, wenn er zum Angeln geht – sonst ist es ihre Schuld, wenn er ertrinkt. 

In Gegenden, in denen es kaum Arbeit gibt und die Renten nur für das Nötigste reichen, ist der Fischfang nach wie vor wichtig für den Nahrungserwerb. Dort fischen auch viele Frauen das ganze Jahr über. Nicht zum Vergnügen, sondern um zu überleben. Obwohl: zum Vergnügen schon auch. Takie Dela hat einige Dörfer in Karelien besucht, gleich an der Grenze zu Finnland, und ist dort mit Frauen zum Winterfischen gegangen. Wie sich herausstellte, waren sie alle Rentnerinnen. Und fast alle waren Witwen. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass der Fischfang sie rettet – jede auf ihre eigene Weise. 

Quelle Takie dela

In vielen karelischen Häusern hängt ein getrockneter Hecht-Schädel über dem Eingang in die Wohnstube. Sein Maul ist mit hunderten Zähnen besetzt, die sich nach innen biegen. Der Volksglaube besagt: Wenn ein Gast mit bösen Absichten kommt, dann schluckt der Hecht das Böse und lässt es nicht wieder heraus / Foto © Takie Dela 

Einen Zander zu fangen ist erhabener und süßer als die Liebe. 

Аnton Tschechow 

Antonina Karlowa im Dorf Woknawolok 

Durch das Fenster ihres kleinen Hauses sieht Antonina Karlowa direkt auf den See Werchneje Kuito. Früher ist sie regelmäßig mit ihrem Mann zum Fischen gegangen. Als er starb, hatte gerade die Laichzeit begonnen. „Ich habe das Boot und einen Motor, ich habe die Netze, ich kenne die guten Plätze“, dachte Antonina. „Ich werde doch jetzt keinen Fisch kaufen!“ / Foto © TakieDela 

Ein Webstuhl für Fischernetze. Die Schlaufen werden größer oder enger geknüpft – je nach dem, welche Fische man fangen möchte. Seit Jahrhunderten ernähren sich die Menschen hier von der Fischerei, sammeln Pilze und Beeren. Einige gehen auch auf die Jagd. Von dem Geld, das sie mit dem Verkauf von Moltebeeren, Moosbeeren, Preiselbeeren und Heidelbeeren verdienen, reparieren sie ihre Häuser und kaufen das Nötigste / Foto © Takie Dela 

Antonina Karlowa und ihr Enkel Miron haben Löcher in das dicke Eis gebohrt. Jetzt warten sie auf den ersten Biss. In Woknawolok fischen alle von klein auf bis ins hohe Alter. Je nach Jahreszeit mit Schleppangeln, mit der Grundangel, mit Reusen oder Netzen. Mehr als alle anderen angeln Rentner und Rentnerinnen. Wer arbeiten muss und Kinder hat, hat keine Zeit, am Wasser zu sitzen. Mit dem Alter kommt die Freiheit / Foto © Takie Dela 

In dem feinen Sieb wird der Rogen der kleinen Maräne gewaschen. „Zur Laichzeit hat mein Mann früher immer Urlaub genommen“, erinnert sich Antonina. „Er steuerte das Boot, und ich habe zuhause mit Freundinnen die Fische ausgenommen und konserviert – in Öl, in Tomatensoße, viel haben wir auch eingefroren. Das hat uns für den ganzen Winter gereicht.“ / Foto © Takie Dela 
 

Als ihr Mann vor zwölf Jahren starb, traute Antonina sich zunächst nicht, allein mit dem Boot auf den See hinaus zu fahren. Also fragte sie ihre Nachbarin Galja, ob sie mitkommt. Nach dem ersten Mal hatten sie’s raus und die beiden wurden dicke Freundinnen. „Als im Frühling die Maränen kamen, sind wir rausgefahren und haben unsere Netze aufgestellt“, erinnert sich Antonina. „Ringsum waren Männer in ihren Booten unterwegs, und mittendrin wir zwei Frauen. Die Männer haben ihre Mützen geschwenkt und uns zugewunken.“ Spott habe sie nie gehört. In ihrem Dorf haben alle Respekt vor den Fischerinnen. 

Vor einem Jahr hatte ihre Freundin einen Schlaganfall. Seitdem fischt Antonina allein. „Wir haben immer viel gelacht mit Galja, das Angeln hat uns so viel Spaß gemacht“, erzählt sie. „Wenn wir um sieben Uhr früh zusammen rausgefahren sind, die Sonne aufging und der Kuckuck rief. Herrlich! Dann haben wir die Ruder aus dem Wasser gezogen, inngehalten und gelauscht.“ 

Heute findet Antonina nur noch selten eine Begleitung: „Kaum jemand mag mit mir Angeln gehen, weil man mich dann nur schwer wieder nach Hause kriegt. Wenn ein Fisch an meinem Köder spielt, kann ich bis zum Abend auf dem Eis sitzen“, sagt sie. Die Kälte macht ihr nichts aus: Mehrere Schichten Kleidung und eine Kiste mit einem Fell zum Sitzen, damit kann sie es stundenlang aushalten. „Nur die Eislöcher kann ich nicht mehr selbst bohren, meine Hand schmerzt. Also bitte ich meinen Nachbarn, der hilft gern.“

In einem Bastkorb wird Trockenfisch aufbewahrt. Im Nordwesten Russlands trocknen viele ihren Fisch noch zuhause im russischen Ofen, der gleichzeitig Herd ist und die Stube heizt. Antonina schickt ihren Fang ihren Kindern, die in der Stadt wohnen. Die Katzen in der Nachbarschaft bekommen auch was ab. Sie sei zufrieden mit ihrem Leben, sagt sie. Langeweile kennt sie nicht. Sie singt im Chor, sie besucht den Karelisch-Kurs im Kulturhaus, sie strickt und stickt, und im Sommer hat sie ihren Garten mit dem Gewächshaus und den Wald mit Pilzen und Beeren. Und natürlich den See mit den Fischen / Foto © Takie Dela 

Nadeshda Kirillowa, Woknawolok 

Nadeshda Kirillowa zieht vier Paar Strümpfe übereinander, bevor sie an den See geht. Oft verbringt sie dort den ganzen Tag. Die 76-Jährige hat in Woknawolok den Ruf, die eifrigste Anglerin des Dorfes zu sein / Foto © Takie Dela 

Barsche und Rotaugen lieben Maden. Nadeshda hat für sie immer einen kleinen Vorrat davon zuhause in ihrem Kühlschrank / Foto © TakieDela 

Mit einem selbstgebauten Schlitten fährt Nadeshda zu ihrem Angelplatz. Ihr Hund Milli begleitet sie. Ihr Mann lebt nicht mehr. Er war ein starker Trinker. Vor fünf Jahren ist er eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Es war Nadeshdas Geburtstag. „Ich habe ihm immer wieder gesagt: ‚Witja, hör auf mit dem Trinken, du sollst am Leben bleiben“, erzählt sie mit leiser Stimme. „Zuerst habe ich ihn geliebt, dann tat er mir leid. Als wir ihn beerdigt hatten, dachte ich: ‚Jetzt gehe ich erstmal angeln‘.“ / Foto © Takie Dela 

Ungeduldig springt Milli herum, während Nadeshda ein Loch ins Eis bohrt. Sie will keinen neuen Mann: „Ich habe schon zwei Männer, meine Söhne. Und im Dorf gibt es niemanden, der mir gefällt. Worüber soll ich mit denen denn reden? Ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt.“ / Foto © Takie Dela

Der Schlitten dient beim Angeln als Sitz. Der erste Barsch passt leicht in einen Fußstapfen von Nadeshdas Winterschuhen. Für sie ist die Fischerei beides – Nahrungserwerb und Vergnügen. „Ich muss mit meiner Rente auskommen, und die Fische ernährt mich. Mal salze ich welche ein, mal koche ich eine Suppe, mal mache ich eine Pastete. Am meisten mag ich gebratene Barsche und Fischfrikadellen. Für den Hund koche ich Getreidebrei mit Fisch. Und dann habe ich ja noch den Gemüsegarten, Hunger leiden müssen wir nicht.“ / Foto © Takie Dela 

Zwei Jacken, zwei Pullover, eine Strickjacke, eine warme Weste, drei Hosen und vier Paar Socken – dick eingepackt wie eine Zwiebel kann Nadeshda den ganzen Tag auf dem Eis verbringen, ohne zu frieren. „Meine Großmutter hat auch viel geangelt“, erzählt Nadeshda. „Sie hat elf Kinder geboren, fünf haben überlebt, und es war schon nicht leicht, die durchzufüttern. Damals haben alle Frauen hier gefischt. Die Männer hatten anderes zu tun, die haben sich um die Ernte gekümmert, Holz gehackt. Unsere Großmütter haben gefischt, um zu überleben. Als ich klein war, standen im ganzen Haus Fässer: Im einen Barsche, im andern eingesalzene Rotaugen. Viele haben wir auch getrocknet. Nachdem mein Vater starb, habe ich die Netze zusammen mit meiner Mutter aufgestellt.“ / Foto © Takie Dela 

Die besten Tage seien die, an denen ihre Söhne nicht trinken, sagt Nadeshda. Sie macht sich Sorgen, wenn sie nicht nach Hause kommen. Dann lässt sie die Tür geöffnet, wenn sie ins Bett geht, liegt wach, versucht, sie am Telefon zu erreichen. Allein mit der Angel auf dem See kommt sie zur Ruhe: „Im Winter, wenn ringsum alles weiß ist und still. Herrlich!“ Noch lieber mag sie den Sommer, da kann sie sich noch länger in die Einsamkeit zurückziehen. Manchmal mag sie gar nicht heimgehen, erzählt die 76-Jährige, dann übernachtet sie in ihrem Boot: „Ich schlafe wenig. Ich sitze einfach da, trinke Tee und schaue in die Sterne.“ / Foto © Takie Dela 

Olga Pekschujewa, Woknawolok 

Olga Pekschujewa unterrichtet seit 36 Jahren Mathematik und Physik an der Dorfschule. Neuerdings leitet sie auch einen Schachkurs und gibt Sportunterricht. Im Winter fährt sie auf Skiern zu ihren Angelplätzen. Sie hat ihre Söhne und einige Schüler mit ihrer Leidenschaft angesteckt. Zusammen nehmen sie an Angelwettbewerben in der Umgebung teil / Foto © Takie Dela 

Auf Olgas Esstisch steht ein Teller mit gekochtem Fisch. Ihre Begeisterung für die Fischerei hat sie von ihrem Mann. „Er war Karelier, und die Karelier sind alle Fischer“. Vor zwei Jahren ist er gestorben, mit gerade 55 Jahren. „Krebs, und getrunken hat er auch“, sagt Olga. Seitdem geht sie mit ihren beiden erwachsenen Söhnen fischen / Foto © Takie Dela 

Beim Eisangeln trägt Olga oft die Dienstjacke ihres verstorbenen Mannes. Er war beim Katastrophenschutz. Die beiden hatten vier Kinder zusammen. Die beiden Töchter haben geheiratet und sind weggezogen. Ihre Söhne Roma, 26, und Pascha, 17, leben noch zuhause. Sie machen oft gemeinsam Ausflüge, schnallen sich Jagdskier unter und wandern durch den Wald zu einem See. „Ich liebe solche Wanderungen“, sagt Olga: „Lagerfeuer, ein Kessel mit Tee.“ Für sie ist Angeln vor allem ein Vergnügen und ein Mittel, um mit ihren Kindern und Schülern in Kontakt zu bleiben / Foto © Takie Dela 

 

Olgas jüngster Sohn Pascha und zwei ihrer Schüler ziehen mit dem Eisbohrer los. Im Winter wird der Fang an Land sofort tiefgefroren und bleibt schön frisch / Foto © TakieDela 

 

Ljubow Filippowa, Siedlung Wedlosero 

Eine Holzskulptur am Ufer des Sees in Wedlosero. Die Siedlung liegt im Zentrum von Karelien / Foto © Takie Dela 
Ljubow Filippowa sitzt mit ihrem Vater an einem Eisloch und wartet auf einen Biss. Er hat sie schon mit zum Angeln genommen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dann heiratete sie, begann zu arbeiten und bekam Kinder – und für das Angeln war kaum noch Zeit. Vor kurzem hat sie ihre Stelle bei der Gebietsverwaltung gekündigt. Jetzt zieht sie auch manchmal alleine los / Foto © Takie Dela 

Die Angel, die sich ihr Vater als Kind selbst gebastelt hat, benutzt er heute noch. Früher sei sie der Ansicht gewesen, Angeln sei nur etwas für Männer, sagt Ljubow Filippowa. Seit sie allein angelt, hat sie ihre Meinung geändert. Obwohl – ein paar Besonderheiten gibt es schon: Die Eislöcher bohrt immer noch ihr Vater für sie. Und wenn sie mal muss, während sie da mitten auf der weiten Eisfläche des Sees sitzt, hat sie ein Problem. Die meisten Männer gehen dann allerdings auch ans Ufer. Ein Aberglaube besagt, dass es Unglück bringt, aufs Eis zu pinkeln / Foto © Takie Dela 

 

Ein anderer Aberglaube besagt, dass man auf dem See nicht fluchen und sich nicht über einen schlechten Fang beklagen darf. Wenn der erste Fang der Saison ein Erfolg war, haben die Karelier früher am Ufer eine Suppe daraus gekocht und sie für den Herren des Wassers zurückgelassen. Davon versprachen sie sich Petri Heil für die ganze Saison.  
Ljubow Filippowa hält nichts von solchen Volksweisheiten und auch nichts von Anglerkalendern, in denen die günstigen Tage markiert sind. Wenn sie Lust hat, geht sie angeln. Wenn nicht, bleibt sie zuhause / Foto © Takie Dela 

Nacht über dem See von Wedlosero. An einem Eisloch brennt noch Licht / Foto © Takie Dela 

Valentina Moissejewa, Tschornaja Lamba 

Valentina Moissejewa prüft eine Reuse. Die 64-Jährige lebt mit ihrem Mann, einem Sohn und zwei kleinen Enkelkindern in dem kleinen Dorf Tschornaja Lamba. Hier gibt es noch nicht einmal richtige Straßen. Dafür liegt das Dorf zwischen zwei Seen / Foto © Takie Dela  
Auf dem Weg zum See. Valentinas Sohn steuert den Motorschlitten. Valentinas Mutter war in einer Kolchose für die Aufzucht der Kälbchen verantwortlich. Von frühester Kindheit an half Valentina mit: molk die Kühe, gab den Kälbchen die Flasche. Manchmal stand sie vor der Schule um fünf Uhr früh im Stall. Wenn sie mal einen freien Tag hatten, nahm die Mutter sie mit zum Angeln / Foto © Takie Dela 

Valentina prüft ihre Grundangel. Buran wartet ungeduldig auf den ersten Fang / Foto © Takie Dela 

Beim Angeln findet Valentina Frieden. Sie hat einige Schicksalsschläge hinter sich. Ihr erster Mann trank. Als der älteste Sohn zehn Jahre alt war, erhängte sich der Vater im Suff. „Ich blieb allein zurück mit drei Kindern“, erinnert sie sich. „Von meinem Lohn und der Hinterbliebenenrente konnten wir kaum leben.“ Da begann sie mit dem Fischen. „Das hat uns Freude gemacht und danach haben wir alle zusammen unseren Fang gegessen.“ / Foto © Takie Dela 

Das Warten hat sich gelohnt. Den ersten Fang bekommt Buran. Ihren Teil der Beute nimmt Valentina mit nach Hause. Die kleinen Rotfedern legt sie im Ganzen ein mit Öl, Salz und Gewürzen: „Die musst du nicht einmal putzen. Die garst du sechs Stunden auf dem Herd oder im Ofen, danach schmelzen sie im Mund, sogar mit Gräten.“ / Foto © Takie Dela 

Auch der Kater Luntik begleitet Valentina gern beim Angeln. Früher ging sie gemeinsam mit ihren zweiten Ehemann fischen. Seit der sich das Bein verletzt hat, sind Buran und Luntik ihre einzigen Begleiter / Foto © Takie Dela 

Valentina nennt den Kater im Scherz die „Fischereiaufsicht“. Die Kiste mit den Angelsachen ist auch Zuhause sein Lieblingsplatz. Draußen auf dem See streicht er Valentina um die Beine und linst ins Eisloch, ob sich da was tut. Im Sommer steigt er zu ihr ins Boot und wartet dann dort, bis ein Fisch am Haken hereingeflogen kommt / Foto © Takie Dela 

Nikita und Veronika toben sich nach dem Kindergarten auf dem Sofa aus. Valentina hat ihre Enkel vor drei Jahren zu sich genommen. Das Amt hatte ihrer Mutter – Valentinas Schwiegertochter – das Sorgerecht entzogen, und ihr Sohn kam alleine mit zwei kleinen Kindern nicht zurecht. So wurde die Großmutter noch einmal Mutter / Foto © Takie Dela 

Einen typischen Tag beschreibt Valentina so: „Um fünf Uhr stehe ich auf. Ich heize den Ofen ein, mache Frühstück und gucke kurz ins Internet. Dann bringe ich die Kinder in den Kindergarten und gehe fischen. Da kann ich mich entspannen. Wenn ich heimkomme, nehme ich die Fische aus und putze sie. Dann wird gekocht. Wenn die Kinder aus dem Kindergarten kommen, machen wir Hausaufgaben oder spielen. Um zehn gehe ich ins Bett.“ / Foto © Takie Dela 

Im Sommer hat Valentina sich einen Traum erfüllt: ein E-Bike. Sie hat lange darauf gespart. Sie sammelt Beeren im Wald und verkauft sie auf dem Markt. Das Rad ist eine Investition: So kommt sie schneller in den Wald an die guten Plätze, wo die Heidelbeeren wachsen.  

Nikita und Veronika schauen aus dem Fenster ihres Hauses. Valentina hat ihnen schon gesagt: „Wenn ich einmal sterbe, legt mir eine Angel mit ins Grab.“ / Foto © Takie Dela 

Irina Iwanowa und Galina Martynowa, Kinelachta 

Irina Martynowa und ihre Mutter Galina Iwanowa breiten ein Netz aus. Der Fischfang hat der Familie geholfen, schwer Zeiten zu überstehen. Galinas Großvater – Irinas Urgroßvater – wurde im Großen Terror erschossen. Seine Frau blieb allein mit fünf Kindern zurück. Um sie satt zu kriegen, begann sie mit der Fischerei. Sie lernte, wie man Netze knüpft, den Zwirn dafür stellte sie aus Leinen selbst her. Früh am Morgen lief sie drei Kilometer zum See und stellte ihre Netze auf / Foto © Takie Dela 

Auf der Fahrt über den Sinemuksa-See hat Irina Iwanowna ihren Mann und ihre Mutter im Schlepptau. Seit ihre Urgroßmutter aus der Not mit dem Fischen begann, wird die Tradition von Generation zu Generation weitergegeben / Foto © Takie Dela 

Der Tag beginnt mit einem kleinen Barsch. Galinas Großmutter hat ihr beigebracht, wie man Fische fängt. Später hat sie gemeinsam mit ihrem Mann geangelt. Seit er gestorben ist, sitzt sie meistens allein am Wasser / Foto © Takie Dela 

Kleine Fische machen auch satt – wenn man genug davon fängt. Früher hat Irina mit ihrer Mutter auch Reusen und Netze aufgestellt, wenn der See gefroren war. Das ist harte Arbeit. Heute wartet Galina meistens zuhause und übernimmt dann das Putzen und die Zubereitung des Fangs / Foto © Takie Dela 

Zurück aus der Kälte. Galina Martynowa heizt den Samowar ein / Foto © Takie Dela 

Als kleines Mädchen hat Galina gelernt, was Hunger bedeutet. Ihre Großmutter hat die Familie mit den Fischen durchgefüttert, die sie aus dem See gezogen hat. Der Hunger ist Vergangenheit, aber Galina hat immer einen Vorrat im Haus – getrocknet und in der Tiefkühltruhe / Foto © Takie Dela 

Der Himmel über dem See / Foto © Takie Dela 

Galina Martynowa blickt auf in die Sterne / Foto © Takie Dela 

 

Text & Fotos: Takie Dela 
Veröffentlicht am:  11.02.2025

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Am 5. Juli unterzeichnete die NATO die Beitrittsprotokolle für Finnland und Schweden. Die Entscheidung Finnlands in die NATO einzutreten gehört zu den fundamentalen politischen Zäsuren in der Geschichte des Landes. Michael Jonas über die komplizierten russisch-finnischen Beziehungen und die Politik der Selbst-Neutralisierung, die nun zu Ende geht.  

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Es ist Sommerzeit. Tausende Menschen in Russland gehen in Parks oder fahren ins Grüne, um die Sommerfrische zu genießen. Ob auf dem Land, beim Angeln, auf der Jagd, bei einer Geburtstagsfeier oder Hochzeit – es gibt Schaschlik.

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Finnisch-russische Beziehungen

Die Entscheidung Finnlands vom 18. Mai 2022, im Verbund mit dem neutralen Schweden die Mitgliedschaft in der NATO zu beantragen, gehört zu den fundamentalen politischen Zäsuren der Geschichte des Landes.

Mit der Entscheidung, sich dem westlichen Verteidigungsbündnis anzuschließen, bricht Finnland bewusst mit einer außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Tradition, die das Land – von einigen Ausnahmen abgesehen – von seinen staatlichen Anfängen im 19. Jahrhundert an begleitet hat. In diesem Beschluss fängt sich in gleichsam verdichteter Form eine Entfremdung nicht nur der politischen Eliten des Landes, sondern nahezu der gesamten finnischen Gesellschaft. Diese wäre noch bis vor weniger als einem Vierteljahr in sämtlichen öffentlichen Meinungsbarometern noch nicht einmal im Entferntesten auf die Idee gekommen, die angestammten Prämissen ihres Verhältnisses zu Russland überhaupt in Frage zu stellen. Dies mag angesichts des eskalierten Krieges in der Ukraine marginal scheinen. Es macht aber zugleich deutlich, wie fundamental Putins Aggression die internationale Politik und die europäische Sicherheitsarchitektur auch und gerade jenseits der unmittelbar (post-)sowjetischen Sphäre verändert hat.

Worin nun bestanden die erwähnten Prämissen des finnisch-russischen Verhältnisses, wie sie bis vor wenigen Monaten nahezu uneingeschränkte Gültigkeit besaßen? Welchem historischen Wandel und welchen Einflüssen unterlag die russische Finnlandpolitik? Und welchen strategischen Erwägungen, welchem Kalkül folgten die Träger finnischer Politik im Hinblick auf das Verhältnis zum imperialen Nachbarn im Osten seit dem 19. Jahrhundert?

Die Staatswerdung Finnlands war im Laufe des 19. Jahrhunderts konstitutiv an das Russische Kaiserreich geknüpft. Nach dem Russisch-Schwedischen Krieg 1808–1809 war die vormalig schwedische Provinz Finnland als Großfürstentum unter Beibehaltung ihrer alten schwedischen verfassungsrechtlichen Stellung autonomer Teil des russischen Imperiums geworden. Der Zar Alexander I. wurde dabei in Personalunion Großfürst von Finnland und leistete ab dem Landtag von Borgå/Porvoo1 1809 den Eid auf die angestammten finnischen Freiheitsrechte und Privilegien. Zu Letzteren gehörten die aus schwedischer Zeit existierende Ständeversammlung, die Religionsfreiheit der überwiegend lutherischen Bevölkerung des Großfürstentums und – gerade im binnen-imperialen Vergleich – weitreichende verfassungsrechtliche Privilegien. Dieses höchst diffizile Verhältnis zwischen Helsingfors/Helsinki, das zur Hauptstadt des Großfürstentums aufwuchs, und Sankt Petersburg entwickelte sich über das kommende Jahrhundert verfassungspolitisch und politisch-administrativ beständig weiter. Letztlich ermöglichte es dem Großfürstentum Finnland die umfängliche autonome Staatswerdung innerhalb des russischen Imperiums.

Die Staatswerdung Finnlands war im Laufe des 19. Jahrhunderts konstitutiv an das Russische Kaiserreich geknüpft / Bild – Karte des Großfürstentums Finnland, 1857 © Wikipedia, gemeinfrei

Experimentierfeld imperialer Reformpolitik

Aus russischer Perspektive wurde Finnland zu einem Experimentierfeld imperialer Reformpolitik. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Reformphase der 1860er Jahre unter Alexander II., der nicht nur die Landstände erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder einberief, sondern darüber hinaus zur Gleichstellung der finnischen Sprache – neben der bisherigen Verwaltungssprache Schwedisch – beitrug. Dies begründete im Kern die moderne politische Kultur des Landes. Selbst die Phase nationalistisch-imperialistischer Eskalation unter Alexander III. und vor allem Nikolaus II. überstand das imperiale Binnenverhältnis zwischen dem Großfürstentum und Sankt Petersburg vergleichsweise intakt.

Russifizierungsbestrebungen und das Bemühen, das Großfürstentum systematischer an das vermeintliche Mutterland zu binden, scheiterten noch vor dem Ersten Weltkrieg am hinhaltenden Widerstand der finnischen Eliten. Im Zentrum der finnischen Politik und öffentlichen Agitation stand dabei stets die Behauptung althergebrachter Verfassungsrechte und damit die Majestät des Rechts. Begleitet wurde dies von einer Welle internationaler Solidarität, wie sich eindrucksvoll an der „Pro Finlandia“-Petition von mehr als tausend führender europäischer Kulturschaffender – im Grunde der versammelten geistigen Elite des Kontinents – ablesen lässt, die sich 1899 Zar Nikolaus II. gegenüber für die finnische Sache aussprach.

Auch Phasen der relativen imperialen Schwäche verstand man zu nutzen. So führte die Revolution von 1905, die Finnland nur am Rande erfasste, im Folgejahr zur Einrichtung eines Einkammernparlaments, der Eduskunta, und der Einführung des Frauenwahlrechts. Finnlands Wahlrecht und das politische System insgesamt gehörten damit zu einem der modernsten in Europa, in dem noch vor dem Ersten Weltkrieg die Sozialdemokratische Partei (SDP) zu einem entscheidenden Machtfaktor heranwachsen konnte.

Die Unabhängigkeit Finnlands

Angesichts der eingeübten Modalitäten zum Russischen Kaiserreich hinterließ das Revolutionsjahr 1917 das Gros der finnischen Eliten in einem gleichsam perplexen Zustand. Erst nach Monaten des Lavierens und der politischen Neu-Orientierung entschied man sich für die Unabhängigkeit von Russland und suchte nach einer legitimierten Autorität auf russischer Seite, die das gewesene Großfürstentum in die staatliche Eigenständigkeit entlassen konnte. Eine solche fanden die politischen Eliten Helsinkis schließlich Anfang Dezember 1917 in Lenin, dessen anti-imperialistische Politik sich nahezu reibungslos mit den finnischen Interessen vertrug.

Die revolutionären Wirren und der sich entgrenzende Bürgerkrieg im Russischen Reich ließen freilich auch Finnland nicht unberührt. Vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Unwuchten des Weltkriegs eskalierte die ideologische Frontstellung zwischen bürgerlich-konservativen und eher sozialistisch-revolutionär orientierten Kräften um die Jahreswende 1917/18. In dem Finnland von Januar bis Mai 1918 überziehenden Bürgerkrieg standen sich schließlich zunehmend unversöhnlich anti-revolutionäre, zumeist bürgerlich-konservative „Weiße“ und die den industriellen Süden des Landes dominierenden „Roten“ gegenüber.
Auch und gerade im europäischen Vergleich gehört dieser Bürgerkrieg zu den am brutalsten geführten innenpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit und entspricht in keiner Weise dem klischeehaften Bild des kleinen friedlichen Landes im europäischen Nordosten, das man sich heute gelegentlich von Finnland macht. Innerhalb eines Vierteljahres kamen mehr als 36.000 Menschen ums Leben. Ergebnis des Bürgerkriegs war die Etablierung einer „weiß“ dominierten Präsidialrepublik Finnland, die sich außen- und sicherheitspolitisch in den restlichen Norden zu integrieren versuchte und ansonsten nach Westen und auf den Völkerbund orientierte.

Finnischer Staat ohne Garantien

Währenddessen wuchs mit der Stalinschen Sowjetunion das eigentliche Sicherheitsrisiko für den jungen und in seiner Unabhängigkeit noch ungefestigten finnischen Staat heran. Was Finnland in den 1920er und 1930er Jahren versäumte, war die Lösung der für seine staatliche Existenz kritischen Garantiefrage, wie sie der spätere Staatspräsident des Landes, Juho K. Paasikivi (1870-1956), immer wieder anmahnte. Es war eben jener Paasikivi, der als zentraler Russlandpolitiker des Landes früh erkannte, dass die staatliche Existenz Finnlands nur mit und nicht gegen Russland, beziehungsweise die UdSSR, zu sichern wäre. Dies wurde zum Ende der 1930er Jahre insofern akut, als Stalin sich im Hinblick auf die Kontrolle der vormaligen imperialen Peripherie des Russischen Reiches erneut zu rühren begann und auch von Finnland Grenzkorrekturen und eine engere Bindung an Moskau einforderte.

Als Botschafter in Moskau trat Paasikivi noch im Herbst 1939 vehement dafür ein, Stalins sicherheitspolitischem Bedürfnis so weit wie möglich entgegenzukommen und – neben möglichen Gebietsabtretungen – schlimmstenfalls auch die punktuelle Stationierung sowjetischer Truppen auf finnischem Staatsgebiet zuzulassen. Die Alternative, so machten Paasikivi und mit diesem auch der finnische Oberbefehlshaber C. G. E. Mannerheim (1867-1951) deutlich, wäre ein Krieg gegen die Sowjetunion, den Finnland weder gewinnen noch überleben könne. Die Mehrheit in der finnischen Regierung optierte im Herbst 1939 indes gegen eine Annahme der Stalinschen Forderungen, auch in der Hoffnung, dass sich die Sowjetführung von einer harten, auf das Völkerrecht rekurrierenden Haltung beeindrucken ließe.

Der „Winterkrieg”

Das Gegenteil war der Fall: Ab November 1939 sah sich Finnland einem nur schwach kaschierten sowjetischen Angriffskrieg ausgesetzt und musste diesen – entgegen eigener Erwartungen – bis in den März 1940 auf sich allein gestellt ausfechten. Dass dies im Großen und Ganzen gelang und der junge Staat nicht umgehend zum Opfer des (neo-)imperialistischen Aggressors wurde, begründete den geschichtsmächtigen, für die finnische Nation konstitutiven Mythos vom „Winterkrieg“. Sowjetischen Geländegewinnen, die ihrerseits weit hinter den ursprünglichen Erwartungen der sowjetischen Armeeführung zurückblieben, setzten die Finnen einen bemerkenswerten Behauptungswillen entgegen, der sich nicht nur aus dem Durchhaltevermögen der finnischen Armee, sondern auch aus einer umfassend mobilisierten Gesellschaft speiste. Hier zeigten sich im Übrigen die Anfänge jener umfassenden, ja totalisierten Landesverteidigung, die die finnische Verteidigungspraxis auch heute wieder modellhaft erscheinen lassen. Dreieinhalb Monate hielt Finnland um den Jahreswechsel 1939/40 der Sowjetunion stand. Gerade in dem Augenblick aber, an dem sich die Westallierten aus eigenen strategischen Erwägungen zu einer militärischen Intervention auf finnischer Seite bereitfanden, entschieden sich Mannerheim und die politische Führung in Helsinki für einen schmerzhaften Waffenstillstand mit der UdSSR. Als (erster) Moskauer Frieden vom März 1940 erfüllte dieser einen Großteil der sowjetischen Forderungen aus der Vorkriegszeit.

Dass Finnland 1939 nicht umgehend zum Opfer der Sowjetunion wurde, begründete den geschichtsmächtigen, für die finnische Nation konstitutiven Mythos vom „Winterkrieg“ / Foto – Tote sowjetische Soldaten und zerstörte Kriegstechnik © Wikipedia, gemeinfrei

Erneut war es der erwähnte Paasikivi, der die konkrete Ausformung des künftigen Friedens mit der UdSSR auszuhandeln hatte. Damit einher gingen substantielle, für viele Finnen seinerzeit existentielle Friedensbedingungen von Moskauer Seite: die Abtretung weiter Teile West-Kareliens – nicht zuletzt der zweitgrößten Stadt des Landes Wiborg/Viipuri, mit der die Evakuierung von 422.000 Einwohnern, gut 12 Prozent der Landesbevölkerung, verbunden war; ferner die Abtretung militärstrategisch sensibler Küstengebiete und, nicht weniger belastend, die Stationierung sowjetischer Truppen auf finnischem Boden, in Hangö/Hanko, gut 100 Kilometer südöstlich der Hauptstadt.

Bedürfnis nach Revanche

Der Friede vom März 1940 war in vielfacher Hinsicht schwer erträglich und förderte in der finnischen Gesellschaft und ebenso unter den Eliten des Landes zunehmend das Bedürfnis nach Grenzrevision und russophob unterfütterter Revanche. Im anschließenden Kriegsjahr 1941 suchte Helsinki bewusst die Nähe und schließlich die militärische Koalition mit dem nationalsozialistischen Deutschland, um als Flankenmacht in Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ an der Vernichtung der UdSSR und der Austreibung eines als asiatisch dämonisierten Russlands bis hinter den Ural mitzuwirken. Als Hitlers Operation indessen früh scheiterte, entschied sich Finnland – mit Mannerheim als Schlüsselgestalt – spätestens seit dem Frühjahr 1943 für den einseitigen Austritt aus dem Krieg. In der Art, in der man im September 1944 schließlich erneut einen Frieden mit der UdSSR aushandelte, spiegelt sich wiederum die ältere, aus Finnlands Rolle im Zarenreich entlehnte Tradition der finnischen Politik – nämlich die Erkenntnis, dass angesichts einer mehr als 1300 Kilometer langen Landgrenze zur Sowjetunion, beziehungsweise zum heutigen Russland, die eigene staatliche Existenz und Souveränität nicht losgelöst von den geographischen Voraussetzungen des Landes betrachtet werden konnte (und kann).

Politik der Selbst-Neutralisierung

Auf dieser Grundlage entwickelte die finnische Staatsführung um die Präsidenten Paasikivi und Urho Kekkonen (1900–1986) in den Nachkriegsjahrzehnten eine Politik der Selbst-Neutralisierung, die seit den 1960er Jahren polemisch als „Finnlandisierung“ bezeichnet wurde. Als ideologisches Kampfvehikel entstammt der Begriff der „Finnlandisierung“ dem Arsenal westdeutscher Kalter-Kriegs-Rhetorik und geht auf Richard Löwenthal und Franz Josef Strauß zurück. Mit dem Hinweis auf das vermeintlich sowjetisch gleichgeschaltete und seiner Souveränität beraubte Finnland versuchten dezidiert antikommunistische Transatlantiker wie Strauß die im linken Parteienspektrum erwogene Neutralisierung der Bundesrepublik – oder eines wiedervereinigten Deutschlands – zu skandalisieren.

Kekkonen hingegen wendete diese Stigmatisierungsversuche seinerzeit ins Positive und argumentierte, dass die Selbst-Neutralisierung und das gute Verhältnis Finnlands zur UdSSR nicht auf die ohnehin vernachlässigenswerte Beschränkung der eigenen Souveränität zu reduzieren sei. Die selbstgewählte und aus den Erfahrungen des Weltkriegs erwachsene „Finnlandisierung“ käme vielmehr erst vor dem Hintergrund des damit verbundenen Beitrags zur Sicherung des Friedens in Europa und zu einer fortgesetzten Entspannungspolitik zu ihrer vollen internationalen Geltung. Insofern sei das finnische Beispiel im aufgeheizten Klima des Blockkonflikts eher als modellhaft denn als Inkarnation von staatlicher Selbstaufgabe und bolschewistischer Unterwanderung zu verstehen.

Was diese Politik dem Land in jedem Fall bewahrte, war in erster Linie seine Fortexistenz als nicht-sowjetisierter Staat. Je feiner dieser Modus zwischen Helsinki und Moskau austariert wurde, je mehr das Vertrauen der Sowjetführung in die Beständigkeit des guten Verhältnisses zu Finnland wuchs, desto nachhaltiger erweiterte sich auch der finnische Handlungsspielraum. Dies galt zweifelsohne im Inneren, wo das Land – bei aller strukturellen Abhängigkeit vom sowjetischen Markt und trotz Tendenzen zur vorauseilenden Selbstzensur – den Wohlfahrtstaat schwedischer Prägung zu übernehmen verstand und sich seine nationale und gesellschaftspolitische Eigenständigkeit bewahrte. Mehr noch ließ sich dies auch in den Außenbeziehungen und im Hinblick auf die Rolle des Landes im internationalen System beobachten. Auf Grundlage der gewachsenen Integration Finnlands in den nordischen Raum wurde insbesondere Kekkonen zum Stichwortgeber und – als sprichwörtlicher Sauna-Diplomat – zu einer der zentralen Figuren der Entspannungspolitik im Kalten Krieg.

Was diese Politik dem Land in jedem Fall bewahrte, war in erster Linie seine Fortexistenz als nicht-sowjetisierter Staat / Foto – Treffen zwischen Urho Kekkonen und dem Generalsekretär der UdSSR, Leonid Breshnew, 1975 © PF-team/Pressfoto Zeeland/Press Photo Archive JOKA/Finnish Heritage Agency (JOKAPF3AiV02C:6), gemeinfrei

Entfremdung Finnlands von Russland

Das in die Knochen der finnischen Entscheidungsträger übergegangene russlandpolitische Verhalten wirkte bis an den Rand unserer Gegenwart intensiv nach. Auch in der Zeit ultimativer russischer Schwäche, als mit dem Zusammenbruch der UdSSR die gesamte sowjetische Einflusssphäre in Ostmittel- und Südosteuropa abhanden kam, gab Helsinki die Prämissen seiner außen- und sicherheitspolitischen Doktrin nie völlig auf. Schien die Mitgliedschaft in der EG/EU mit dem 1. Januar 1995 eine gleichsam naturgemäße Evolution der Hinwendung Finnlands nach Europa zu sein, so schälte sich im Hinblick auf die NATO im Laufe der letzten drei Jahrzehnte ein fein austarierter Kompromiss heraus. Während Finnland sich auf militärisch-praktischer Ebene sanft dem westlichen Verteidigungsbündnis anzunähern begann, hielt man von einer etwaigen militärpolitischen Integration in die NATO stets Abstand. Dies geschah nicht nur aus kollektiv eingeübter Rücksichtnahme auf Moskau, wie im Verhalten Paasikivis und Kekkonens im Kalten Krieg angelegt, sondern auch aus der Erwägung, mit der eigenen gesellschaftspolitisch umfassenden Landesverteidigung auf etwaige militärische Bedrohungsszenarien mehr als ordentlich vorbereitet zu sein.

Noch zu Jahresanfang musste ein solches Vorgehen als gesamtstrategisches Patentrezept und nicht zuletzt als innenpolitisch dauerhaft verankerter Kompromiss erscheinen. Putins Aggression gegen die Ukraine im Februar 2022 hat diese Gewissheiten indes innerhalb von Wochenfrist abgeräumt. Im Grunde beschreibt der von Olaf Scholz geprägte Begriff der „Zeitenwende“ die Entwicklungen in Finnland daher weit besser als jene Bemühungen der Bundesregierung, auf Putins Invasion der Ukraine, die entgrenzte russische Kriegführung oder auch den in jeder Hinsicht miserablen Zustand der Bundeswehr zu reagieren. Mit der nachdrücklichen Entfremdung Finnlands blickt Moskau nun in naher Zukunft auf eine wesentlich erweiterte, im Grunde verdoppelte Landgrenze zu Mitgliedsstaaten der NATO – und damit auf das Gegenteil dessen, was Putin in den Verhandlungen vor der Invasion ein ums andere Mal programmatisch ins Feld führte: das sicherheitspolitische Bedürfnis Russlands, der NATO die vormalig sowjetische Einflusszone in Ostmittel- und Südosteuropa möglichst entwinden zu wollen.


1.Die historisch seinerzeit gebräuchlichen schwedischen Ortsbezeichnungen werden hier vorangestellt. Es folgt der finnische Ortsname. 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)