Als Reformen Alexanders II. (auch: die Großen Reformen) wird ein Bündel von Gesetzesänderungen bezeichnet, von denen die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 als die wichtigste gilt. Durch weitreichende Strukturreformen sollte das Russische Reich auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung vorbereitet und weiter an europäische Normen herangeführt werden.
Russlands Niederlage im Krimkrieg (1853–56) führte den Zeitgenossen die strukturellen Defizite des Landes vor Augen, denn im ersten mit industrieller Technologie geführten Krieg war Russland seinen Kontrahenten klar unterlegen gewesen. Zudem zeichnete sich ab, dass Russland durch die zunehmende Industrialisierung der europäischen Wirtschaft gegenüber den anderen Großmächten weiter zurückzufallen drohte. Dieses Szenario verlieh einer grundlegenden Frage der russischen Geschichte neue Dynamik: Sollte Russland sich an das (west)europäische Normen- und Wertesystem anlehnen oder einen eigenen, slawisch-russischen Weg definieren und beschreiten? Dieses Dilemma prägte seit den Reformen Peters I. im frühen 18. Jahrhundert die russländische Agenda und den Umgang mit der zunehmenden Verflechtung Russlands mit dem europäischen Staaten- und Wirtschaftssystem.
Das System der Leibeigenschaft galt dabei zunehmend als das wichtigste Merkmal. Neben naheliegenden ökonomischen Motiven und durchaus moralisch begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit von Besitz von Menschen sprachen auch militärische Gründe für eine Reform, denn das neue Ideal einer modernen und flexibel einsetzbaren Armee war mit dem starren System der Leibeigenschaft nicht mehr vereinbar.1 Die Angst vor wachsenden sozialen Unruhen und Aufständen formulierte auch eine gewisse Dringlichkeit zur Klärung dieser Frage. Unmittelbar nach dem Krimkrieg begann so eine entsprechende Reform an Kontur zu gewinnen, bis Alexander II. am 19. Februar 1861 ein Gesetz zur Aufhebung der Leibeigenschaft unterzeichnete.
Das Gesetz entzog dem bisherigen russländischen Sozial- und Wirtschaftssystem die Grundlage, ohne adäquaten Ersatz zu schaffen. Der russische Adel sah seinen Wohlstand bedroht, denn seine Vertreter waren weder willens noch dazu ausgebildet, ihre riesigen Ländereien selbst zu bewirtschaften. Die ehemals leibeigenen Bauern wurden durch das Gesetz zwar aus juristischer Perspektive „frei“ und erhielten (meist zu wenig) Land zur Bewirtschaftung, waren aber durch ein kompliziertes Abgabensystem langfristig immer noch an die mir – die russische Dorfgemeinschaft – gebunden und von dieser abhängig.2 Eines der wichtigsten Kriterien persönlicher Freiheit, das der individuellen Mobilität, blieb somit weiterhin unerfüllt. Dem Gesetz zur Aufhebung der Leibeigenschaft folgten weitere Reformen, gemeinsam werden sie meist als die Großen Reformen (welikie reformy) beschrieben. Die Schaffung der gewählten Lokalverwaltungen (semstwa) 1864 sollte einige der strukturellen Defizite des Gesetzes von 1861 ausgleichen und die Bauernschaft stärker in die lokale Mitbestimmung einbinden. Es folgten außerdem Reformen zum Finanz- (1863) und Bildungswesen (1863 und 1871), zum Justizsystem (1864) und zur städtischen Selbstverwaltung (1870), mit der Heeresreform (1874) wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.
Die Reformen Alexanders II. sollten das russische Sozial- und Wirtschaftssystem auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung einstellen, gleichzeitig aber die politische Ordnung weitestgehend unangetastet lassen. Ein Spagat, der sich in retrospektiver Deutung als zu schwierig erwies, was eine abschließende Beurteilung schwierig macht. Einerseits wurden in den 1860ern/1870ern grundlegende soziale Standards moderner Staatlichkeit eingeführt. Andererseits schuf die inkonsequente Einbindung der nicht mehr leibeignen Bauernschaft in das reformierte Sozialsystem die Basis für die revolutionären Unruhen in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts. Auch im damaligen Russland war der Reformkurs nicht unumstritten und bereits der nächste Zar, Alexander III., hob durch ein Gegenreformprogramm einige der Änderungen wieder auf.