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Wer lebt glücklich in Russland?

Dem Dichter und Publizisten Nikolaj Nekrassow ging es gut, er hätte glücklich sein können. Aber er lebte im 19. Jahrhundert und er lebte in Russland und so füllte er seine persönlichen goldenen Jahre mit der Arbeit an einem Poem über die Unentrinnbarkeit des irdischen Leidens. Glücklich sein im Hier und Jetzt, das können Russen nicht, analysiert der Historiker und Chefredakteur des Portals Snob Nikolai Uskow, selbst eine schillernde Figur des modernen intellektuellen Russland. In seinem kulturhistorischen Essay jedenfalls geht er dem russischen Leiden zunächst einmal an die Wurzeln. Erst wenn alles vorbei ist, sagt er, dann wird es bei uns schön! Beerdigungen sind in Russland der Höhepunkt der Glückseligkeit. Wie kann das sein? Uskow ruft dazu auf, es anders zu machen, auch einmal Russland Russland sein zu lassen, und Erfüllung im individuellen Leben zu suchen.

Quelle Snob

Können Sie sich diese Frage in einem anderen Land vorstellen, etwa in Frankreich? Wer lebt in Frankreich glücklich? Na, alle doch. Und über den existenziellen Abgrund legen sich augenblicklich die Seerosen von Claude Monet. Platanen, der Duft von Kaffee und frischem Gebäck, Vögelchen in den Tuilerien – in Frankreich gibt und kann es keine Hölle geben, höchstens eine unglückliche Liebe, aber die ist etwas Wunderbares. Selbst der Clochard, der eben unter der Brücke Pont Alexandre III aufwacht, erfreut sich an der lieben Sonne und lächelt den frühmorgendlichen Joggern zu. „Bonjour, M’sieur!“

Nekrassow stellte seine verzwickte Frage in jener Epoche unserer Geschichte, die man heute beinahe als ihr Goldenes Zeitalter ansieht. Urteilen Sie selbst: Er arbeitete zwischen 1863 und 1878 an seinem Poem. Die Großen Reformen Alexanders II., Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Ostrowski, Gontscharow, Tschaikowski, Mussorgski, die Akademiemitglieder und Peredwishniki – faktisch entstand das, was später in beträchtlichem Maß den Begriff Russland ausmachen würde. Doch nein, bei Nekrassow finden wir keine Begeisterung über die Epoche. „Schon ärmre Zeiten sah das Land, bösartigere nicht“ – diese Worte lieh er sich bei der damals höchst angesagten Schriftstellerin Nadeshda Chwoschtschinskaja und bewaffnete damit auf ewig alle Russland-Nörgler: Nur so sprach man meiner Erinnerung nach über die Siebzigerjahre und über die Achtziger- und über die Neunziger- und über die 2000er Jahre, von der Gegenwart ganz zu schweigen.

Wenn wir das Poem Wer lebt glücklich in Russland? aufschlagen, stoßen wir umgehend auf die Quetschprovinz, den Kummerleider-Amtsbezirk, das Kirchspiel Ödendorf. Da ist sie, die Geografie des Goldenen Zeitalters: die Dörfer Flickdorf, Lochdorf, Barfußdorf, Frierdorf, Branddorf und auch Hungerdorf. Nekrassows Absicht zufolge hätte das Poem zu einem Panorama des menschlichen Leidens werden sollen. Bauern, Popen, Gutsbesitzer, Beamte, Handelsleute und sogar der Zar – aus Nekrassows Sicht sind hier alle unglücklich. Unglücklich ist anscheinend auch der Dichter selbst.

Und das, obwohl der Adlige Nekrassow eine glänzende Karriere machte und der womöglich erfolgreichste Verleger und Redakteur der Geschichte des russischen Zeitschriftenwesens war. Er lebte mit einer Frau zusammen, der Schönheit Awdotja Panajewa, aber in der Wohnung ihres Gatten Iwan Panajew. Diese merkwürdige Konstellation sorgte beim Publikum für die unglaublichsten erotischen Fantasien. Als das gewagte Verhältnis mit den Panajews endete, erlebte Nekrassow weitere aufregende Leidenschaften. Und dazu hatte Nikolai Alexejewitsch auch unglaubliches Kartenglück und gewann Hunderttausende von Rubeln. Dank dem finanziellen Wohlstand konnte sich der Dichter einer weiteren seiner aristokratischen Passionen hingeben, der Hetzjagd. Sein mit Eigenmitteln gekauftes Gut Karabicha im Gebiet Jaroslawl zeugt durchaus anschaulich von den beträchtlichen materiellen Möglichkeiten des Dichters. Und dann erwarb sich dieser vom Schicksal zweifellos verwöhnte Mann plötzlich den Ruf, der größte Leidende der russischen Literatur zu sein. Das Sein bestimmte in keiner Weise sein Bewusstsein.

Der russische Mensch lebt nie im Frieden mit seiner Zeit. Widerstrebend erträgt er sie, mit aufeinandergepressten Lippen und zusammengezogenen Augenbrauen, ist immer irgendwo abseits, am Rand. Unzufrieden brummt er in den Bart, fantasiert entweder von der Vergangenheit oder von der Zukunft. Dort war oder wird alles anders sein als in der verzwickten Gegenwart.

Die Nekrassow vorausgegangene Generation adliger Gutsbesitzer hatte von der Aufhebung der Leibeigenschaft geträumt. Nicht etwa deswegen, weil ihnen das in irgendeiner Hinsicht, zum Beispiel für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, nützlich gewesen wäre. Im Gegenteil, die Aufhebung der Leibeigenschaft bedeutete ihren Ruin. Doch der Besitz von Leuten war für die adligen Revolutionäre etwas Beschämendes, Schändliches. 1861 hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft dann endlich auf. Die Schande, könnte man meinen, hatte ein Ende gefunden. Doch nein. Nekrassow schreibt:

Fürwahr, die große Kette brach
Und sprang in Stücke ganz:
Das eine Ende traf den Herrn,
Das andre Ende uns!

Die „Schande der Leibeigenschaft“ verwandelt sich unerwartet in eine „große Kette“. Alles ist jetzt schlechter als zuvor. Und so wird es in Russland offenbar immer sein: Mit Stalin wurde das Land zu einem Imperium. In der Sowjetunion waren Bildung und medizinische Versorgung kostenlos, und die Kühlschränke quollen über vor Lebensmitteln. Wenn Putin dereinst abtritt, wird man auch über seine Zeit Legenden erfinden und Lieder darüber singen. Daran zweifle ich nicht im Geringsten.

Glücklich leben in Russland nur die Toten. „Sie haben ausgelitten“, pflegt das hiesige Volk über sie zu sagen. Nekrassow starb an Magenkrebs, es vergingen einige wenige Jahre, und schon begann man sein Jahrhundert als absolut goldenes anzusehen.

Für Tote gibt es bei uns überall einen Weg, für Tote gibt es bei uns überall Ehren. Endlich sagt man über dich nur noch Gutes. Man begräbt dich mit herzzerreißendem Enthusiasmus. In Russland war Suworow der erste glückliche Leichnam: „In allen Straßen, durch die sie ihn fuhren, standen die Leute dicht an dicht. Alle Balkone und sogar die Hausdächer waren voller bekümmerter, weinender Zuschauer“, erinnert sich Schischkow. Später würde Puschkins und Tolstois Begräbnis folgen. Lenins und Stalins Begräbnis. Wyssozkis Begräbnis, Sacharows Begräbnis. Jelzins Begräbnis. Begräbnis, Begräbnis, Begräbnis. In Russland sind Hochzeiten immer missraten, versoffen und vulgär. Hochzeit – das bedeutet Schlägereien und protzige Uhren wie die von Peskow. Dafür sind die Begräbnisse majestätisch.

Der Tod ist der Übergang zur Unsterblichkeit, ist der Sieg über das verhasste Leben. Stalin muss etwas in der Art in Bezug auf den nationalen Charakter gefühlt haben. Denn er war es, der das Feiern von Todestagen initiierte. 1937 feierte das Land im großen Stil den 100. Todestag Puschkins. Pioniere salutierten ihm, Bauern brachten Gaben dar und Stachanow-Arbeiter nahmen aus Anlass des Festes erhöhte sozialistische Verpflichtungen auf sich. 1952 feierte die jubelnde Volksmenge den 100. Todestag Gogols. Auf einem Boulevard wurde ein lebensfroher, breitschultriger Bursche aufgestellt, während man Andrejews depressive Jammergestalt den Blicken entzog. Gogol quälen bei seinem Eintritt in die Ewigkeit keine Koliken und Zweifel mehr, er ist selbstbewusst, gesund und fröhlich.

Übrigens heißt das eindringlichste Poem über unsere Heimat ja Die toten Seelen. Schon seit siebzig Jahren sind wir stolz darauf, der Gefallenen zu gedenken, und scheren uns dabei kein bisschen um die am Leben Gebliebenen. Das wichtigste Ereignis in der Geschichte des Landes ist ein mörderischer Krieg. Mit einem unguten Leuchten in den Augen kämpfen Historiker und die Gesellschaft dafür, dass die Opfer dieses Kriegs so furchtbar wie möglich aussehen: nicht sieben Millionen, sondern zwanzig, nicht zwanzig, sondern siebenundzwanzig, und wenn man auch die Ungeborenen dazuzählt, ganze fünfzig Millionen. Nein, hundert! Der wichtigste Politiker des Landes ist auch sein wichtigster Henker, Josef Stalin. Das wichtigste Heiligtum ist das Grabmal des unbekannten Soldaten. Das Land unterdrückt, quält, mordet, plündert, vertreibt und fordert dann die Asche der glücklich am Leben Gebliebenen zurück, um sie hier zu begraben. Mit allen Ehren. Welch erbitterte Grabenkämpfe führte man wegen der sterblichen Überreste Brodskys und jetzt Rachmaninows.

„Die Toten haben keine Schande“, sagte Fürst Swjatoslaw Igorewitsch, der Vater des heiligen Wladimir. Letzterem will man übrigens, natürlich zum 1000. Todestag, ein Denkmal aufstellen. Die Toten haben keine Schande, dafür haben die Lebenden so viel, wie sie nur können, die Lebenden leben in Kommunalkas und Baracken, schuften und saufen, verblöden und verrohen. Die Lebenden beneiden die Toten.

Eine hübsche Erklärung für diese nationale Nekrophilie könnte der spontane Platonismus der russischen Weltanschauung sein, den wir zusammen mit dem orthodoxen Glauben von den Griechen übernommen haben sollen. Die wahre Welt ist ein Jammertal, hier gilt es zu leiden und zu darben, das echte Leben kommt danach, beispielsweise jenseits des Grabs. Der Katholizismus stand tatsächlich unter geringerem Einfluss von Seiten Platons, orientierte sich vornehmlich an den Stoikern und Aristoteles und vermochte deshalb eine Generation glücklicher Menschen zu erziehen, die im Heute leben und sich an Monets Seerosen, der Sonne und dem Wein erfreuen. Denn diesen trinkt man wirklich, um sich zu erfreuen. Den Wodka, um zu vergessen.

Aus der platonistischen Philosophie lässt sich nach Belieben die Ärmlichkeit russischer Wohnungen ableiten, die schiefen Zäune, verwilderten Gärten, Hoftoiletten, die Müllberge am Straßenrand, die himmelschreiende Vernachlässigung von Ästhetik, Hygiene und guten Manieren. Aber hübsche Erklärungen sind selten zutreffend. Wo elementare Armut und Düsternis vieles bestimmen, darf man nicht nach Philosophie suchen.

Ich vermute den Grund für unsere ewige Fixierung auf das Jenseits eher in den Eigenheiten des nationalen Staatswesens. Die erdrückende Mehrheit der hiesigen Menschen ist nicht nur von der Macht entfremdet, sondern hat auch das Gefühl, nicht einmal über ihr eigenes Leben bestimmen zu können. Nikolai Alexejewitsch Nekrassow selbst hätte, wenn er in England geboren wäre und dort so einflussreiche Zeitschriften herausgegeben hätte, wie es Sowremennik und Otetschestwennye sapiski waren, nicht traurige Poeme geschrieben, sondern Gesetze, und zwar im Unterhaus. Zur Fuchsjagd auf seinem Gut in der Grafschaft Surrey hätten die einflussreichsten Mitglieder der Whigs, Herzöge und Abgeordnete um sich versammelt, nicht progressive Rasnotschinzy.

Die denkenden Menschen, die in ganz Europa zur Lokomotive der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft wurden, verdrängte man unsere gesamte Geschichte hindurch von jeglichen Entscheidungsbefugnissen. Im Endeffekt suchte sich ihre Sorge um das Gemeinwohl ein Ventil in harter Kritik am Geschehen, im Gram und in der Verachtung der Gegenwart.

Glücklich lebten in Russland wohl nur diejenigen, die sich nicht mit verzwickten Fragen quälten, sondern die Dinge anpackten und die Gegenwart als beste aller möglichen Welten ansahen. Solche Macher gab es zu jeder Zeit reichlich und doch waren es lächerlich wenige. Mein Ratschlag zur Krise: Lasst Russland in Ruhe, ihr könnt das Land nicht verändern, aber so habt ihr immer noch die Chance auf ein interessantes und bequemes Leben. Puschkin, dem das Schicksal viel weniger Erfolg schenkte als Nekrassow, wusste das:

„… Ich murre nicht deswegen, weil die Götter mir versagten,
In zärtlicher Beschwernis die Steuern zu beklagen
Oder Zarn zu störn, einander zu bekriegen;
Ob es der Presse freisteht, Idioten zu betrügen
Oder ob Zensoren, empfindlich, dumme Schwätzer
Am Spaltenfüllen hindern, kann mich kaum verletzen.
Das sind nur Worte, Worte, Worte weiter nichts,
Auf andre, bessre Rechte leg ich mehr Gewicht;
Die andre, bessre Freiheit ist mir mehr vonnöten;
Vom Zaren abzuhängen oder von Proleten –
Ist das nicht völlig gleich? Gott mit euch!
Aber keinem
Je Rechenschaft zu geben, sich selber nur zu meinen
Beim Schaffen und im Dienst; für Macht und für Livreen –
Gewissen und Gedanken, den Hals nicht zu verdrehen;
Zu schlendern hier und dort, nach eigner Lust und Laune
Die gottgegebne Schönheit der Natur bestaunen,
Und durch die Schöpfungen von Geist und Kunst verführt,
In freudiger Entzückung zu zittern tief gerührt.
– Das nenn ich Glück! Hier liegen Rechte …“

(Deutsch von Eric Boerner)


Pushkin zitiert mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers.

Nekrassow zitiert nach: Gedichte und Poeme: Nikolai Alexejewitsch Nekrassow, Nachdichtung von Martin Remané und Rudolf Seuberlich, Berlin [u.a.] 1965 (Aufbau-Verl.)

 

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Nikolaj Nekrassow

Nikolaj Alexejewitsch Nekrassow war ein Autor, Kritiker und einflussreicher Publizist, der insbesondere in politisch-revolutionär gesinnten Kreisen eine breite Anhängerschaft fand. Im westlichen Ausland kaum bekannt, gilt Nekrassow in Russland als Nationalheld der Literatur des 19. Jahrhunderts und als moralische Instanz der Kulturgeschichte. Nekrassow begriff Literatur in erster Linie als Medium zum Ausdruck sozialer und politischer Belange.

Nekrassow (1821–1878), der einer adligen Familie entstammte und gegen den Willen seines Vaters  1838 zum Philologiestudium nach Sankt Petersburg ging, musste sich zunächst durch Privatstunden und kleinere literarische und publizistische Tätigkeiten über Wasser halten. Erst die Bekanntschaft mit Wissarion Belinski im Jahr 1843, dem Nestor der russischen Literatur und Förderer junger Autoren, verhalf ihm zu ersten Erfolgen. Mitte der 40er Jahre gab Nekrassow „physiologische Skizzen“ heraus, Sozialreportagen, die sich teils kritisch, teils sentimentalistisch und nicht selten unfreiwillig komisch mit den Petersburger Armenvierteln und den vielfältigen Nöten ihrer Bewohner auseinandersetzen. Sie versammelten jene klassischen Autoren, die später als Vertreter der Natürlichen Schule in die russische Literaturgeschichte Eingang fanden.

Nekrassow erwarb durch seine vielfältigen redaktionellen Tätigkeiten eine vorzügliche publizistische Reputation und konnte so 1846 die renommierte Zeitschrift Der Zeitgenosse kaufen, die er schrittweise zu einem der wichtigsten Publikationsorgane für politische und ästhetische Debatten umbaute und profitabel machte. Ab Mitte der 50er Jahre driftete der Zeitgenosse unter dem Einfluss radikaler Kräfte wie Nikolaj Tschernyschewski immer stärker in Richtung eines politisch-revolutionären Extremismus , so dass die Zeitschrift in Konflikt mit den zaristischen Behörden geriet und 1866 schließen musste. Nekrassow übernahm daraufhin mit den Vaterländischen Annalen eine andere zentrale literaturkritische Zeitschrift, die er bis zu seinem Tod herausgab.

Den literarischen Druchbruch brachte 1856 sein erster großer Gedichtband, in dem das lyrische Ich als moralische Instanz angelegt ist und zu gesellschaftlichem Engagement gegen soziale Missstände aufruft. Zuvor waren die Zensurbestimmungen in Russland deutlich gelockert worden. In Der Dichter und der Bürger, einem Manifest politisch ambitionierter Literatur, schreibt Nekrassow: „Es wird Zeit aufzustehen, du weißt selbst / welche Zeit begonnen hat.“ Das monumentale Epos Wer lebt in Russland glücklich? (1863–1877), ein Panorama der verschiedenen sozialen Typen der russischen Gesellschaft, kann als Opus magnum Nekrassows gesehen werden. Nekrassow starb vor der endgültigen Fertigstellung des Buchs, nachdem er bereits über Jahre an verschiedenen schweren Erkrankungen gelitten hatte. Seine Popularität war zu dieser Zeit so groß, dass zu seiner Beerdigung Tausende von Anhängern auf dem Nowodewitsche-Friedhof in Moskau zusammenströmten.

Der Vorzeigedichter auf sowjetischen BriefmarkenNekrassows Geltung in der Literaturgeschichte sichert besonders die innovative Übertragung diverser sprachlicher Mittel aus Folklore und mündlicher Volksdichtung in den lyrischen Mainstream. Das Verwischen von Gattungsgrenzen und die Einarbeitung erzählerischer Elemente in die Lyrik lassen sich deutlich in den Versepen seines Spätwerkes erkennen. Die sowjetische Rezeption hat Nekrassow später zum „demokratischen“ Vorzeigedichter erhoben und verklärte die Texte zu progressiven Vorboten der Revolution von 1917. Diese stereotype Mystifizierung der gesellschaftlichen Tätigkeiten Nekrassows in der Sowjetunion verhinderte lange Zeit eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk. Jüngere Untersuchungen heben ambivalente Merkmale in der Biographie Nekrassows hervor und zeichnen eher das Bild eines zerrissenen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts. Diese Deutungen verstehen den tugendhaften und teils asketischen Impetus in Nekrassows Werken als Teil einer politischen Selbststilisierung, ein bewusstes Spiel mit verschiedenen Identitätsentwürfen. Nekrassows Moralisieren erscheint in grellem Kontrast zu seiner eigenen zügellosen Genusssucht, die bereits unter Zeitgenossen Anlass zu allerlei spekulativer Legendenbildung gab.

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