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Produktion von Ungerechtigkeit

Olga Romanowa ist eine bekannte Journalistin, die sowohl im Fernsehen wie auch in Printmedien gearbeitet hat. Außerdem ist sie Direktorin einer Organisation zur Strafgefangenenhilfe. Sie berichtet, wie einer ihrer Besuche im hohen Norden sie in eine Welt entführt, in der die Haft selbst nur eine Nebenrolle spielt.

Quelle spektr

„Sagen Sie mal, Iwan Stepanowitsch, Pekinesen ... Gibt es die hier wirklich?“
„Klaro.“
„Diese kleinen wuscheligen mit Palmen auf dem Kopf. Und Stupsnasen ...“
„Klaro.“
„Was machen die denn hier und woher kommen sie?“
„Aus dem Wald. Die leben hier seit eh und je.“

Mir scheint, einer von uns spinnt. Ich fahre seit vielen Jahren in diese Gegend, in die entlegenen Gefangenengebiete des russischen Nordens, wo die Taiga in den Bergen endet und erste Anzeichen der Tundra zu sehen sind. Etwas weiter weg gehen die Berge in Hügel über, und dort beginnt die Tundra. Hier aber ist noch Wald, bevölkert von Bären, Wildschweinen, Wölfen und anderen niedlichen Pelztieren. Und schon seit vielen Jahren reibe ich mir die Augen, wenn aus diesem Wald, in den man sich nicht einmal zum Pinkeln hineintraut, eine Meute wilder Pekinesen, angeführt von einem kessen Alpha-Männchen, herauskommt, die kleine Siedlung durchquert, die Schuppen umschnüffelt, sich mit den ansässigen riesigen Hofhunden anbellt, die versuchen sich der Meute anzuschließen, aber verscheucht werden – und dann stolz im Kiefernwald verschwindet.

Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa

Ich kenne mich mit Hunden aus, ich sehe, dass das erstklassige, gezüchtete Rassehunde sind. Die können hier nicht überleben: Ich komme im Sommer in Sandalen aus Moskau in die Gebietshauptstadt geflogen und ziehe mir im Taxi Filzstiefel an, die nächste Stadt ist 400 km von hier entfernt. Ich kenne den Unterschied zwischen Winterfilzstiefeln und Sommerfilzstiefeln.

In Sommerfilzstiefeln bin ich einmal zum von der Straße abgelegenen Ende der Siedlung gegangen, um zu sehen, warum die Schafe und der Bock dorthin laufen. Jetzt in Winterfilzstiefeln schafft man es nicht dorthin, im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen.

Im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen

Jedenfalls laufen die Schafe und der Bock zu einem Ding, das von weitem aussieht wie ein weißer Stein, sie scharen sich um ihn, und dann treten die älteren Tiere näher und berühren den Stein mit der Stirn, doch das ist gar kein Stein, sondern ein alter Schafsbockschädel.

„Iwan Stepanowitsch, da ist doch so ein Schafsbockschädel, zu dem die hinlaufen, kennen Sie den?“
„Klaro. So’n Schädel eben.“
„Iwan Stepanowitsch, und warum fliegen die Bienen hier immer im Kreis um den Bienenstock?“
„Olga, du Dummchen. Wohin sollen die denn sonst fliegen?“

Ich frage, er antwortet. Was ist daran bitte nicht zu verstehen? Ich bin das Moskauer Dummchen und er der Oberst der Föderalen Strafvollzugsbehörde, ein hohes Tier, Herr über die hiesigen Ländereien mit all ihren Lagern und Strafkolonien. Er versteht nicht, warum ich wieder hergekommen bin, obwohl er sich anscheinend schon dran gewöhnt hat.

Ich kenne seine beiden Frauen und die meisten seiner Kinder, sie begegnen mir so offen und freundschaftlich wie man, sagen wir, einer Katze überhaupt begegnen kann – einem rätselhaften, aber insgesamt harmlosen Wesen, solange es die Pfoten von der Smetana lässt. Ich versuche zu erklären, warum ich gekommen bin:

„Ich habe so eine Art Patenschaft für hiesige Häftlinge übernommen.“
„Was bitteschön für eine Patenschaft bei welchen Häftlingen? Dein Mann hat seine Strafe doch schon lange abgesessen. Übrigens ein guter Kerl, vom Lande, dass er zwei Hochschulabschlüsse hat, da würde man nicht drauf kommen, eher ein Einfaltspinsel, aber mit einem eigenen Kopf, auf jeden Fall: Alle erinnern sich hier noch, wie er mal mitten im Winter Rosen für dich aufgetrieben hat, als du zu Besuch kamst. Und was soll das jetzt, was für Häftlinge?“
Hundertneunundfünfziger.“
„Hättst du das doch gleich gesagt.“

Und dann fährt er mich zu dem abgelegenen Lager, wo meine Hundertneunundfünfziger einsitzen, Unternehmer, einer davon ziemlich bekannt, ich kenne seine alte Mutter gut, eine verdienstvolle Lehrerin, und seine junge Frau, die ihn im Lager geheiratet hat – einen völlig ruinierten, nicht mehr jungen, recht fülligen Mann mit sehr langer Haftstrafe.

Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist

Die junge Frau ist ein gutes Mädchen, eine ganz rechtschaffene, ich kenne die Geschichte, wie sie sich kennengelernt und verliebt haben – zu einem Zeitpunkt, als niemand überhaupt an so etwas wie Liebe dachte und schon gegen ihn ermittelt wurde. Jetzt lerne ich ihn also kennen, wir wissen schon viel voneinander, haben nur noch nicht miteinander gesprochen, aber nach dem ersten „Tagchen!“ wird alles einfach und klar: Er ist ein selten kluger und bezaubernder Mensch, und so lausche ich ihm mit offenem Mund.

Mein zweiter Schützling ist Philosoph, Absolvent der Moskauer Universität, promoviert, Tätigkeit in der Präsidialverwaltung, 14 Jahre Haft – die sitzt er für jemand anders ab. Seine Frau hat ihn sofort verlassen, aber er hat über einen Briefwechsel ein Mädchen aus Tschita kennengelernt, sie haben geheiratet, jetzt ist sie schwanger.

Ich verlasse das Lager ganz beseelt: Was für Menschen! Und damit meine ich nicht einmal so sehr die Verurteilten, sondern die, die dort arbeiten. Bis zum Anschlag rechtschaffene und gute Leute, die haben nichts Böses. Verständnisvoll, alle miteinander. Einer bringt mich noch ein Stück und zeigt auf die Überreste einiger Holzhäuser:

„Sieh mal, hier stand im Herbst noch ein solides Haus.“
„Und wo ist es hin?“
„Der Besitzer kam für zwei Wochen ins Krankenhaus, da haben wir sein Häuschen zerlegt, Balken für Balken. Siehst du den Hund dort? Der hat da in der Hütte gelebt, jetzt kriegt er bei uns zu fressen.“
„Ist der Besitzer gestorben?“
„Wieso gestorben? Ausgenüchtert haben sie ihn, unseren guten Wirtschafter. Was haben wir gelacht! Er kommt raus, und sein Haus ist weg, hat sich einfach so in Brennholz verwandelt.“
„Und wo wohnt er jetzt?“
„Drüben im Wohnheim. Aber er soll bald ein Zimmer in der Stadt bekommen, heißt es.“

Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle

Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle. Seine alte hat er für gleichzeitig zwei neue verlassen, eine mit Irka und eine mit Nataschka, die beiden Frauen arbeiten auch in den Lagern, die eine als Inspektorin, die andere als Hausmeisterin. Sie sind ein bisschen eifersüchtig aufeinander, aber er lebt abwechselnd in beiden Familien, versucht keine zu benachteiligen – immerhin sechs Kinder sind dabei rausgekommen. Die älteren Söhne arbeiten auch in den Lagern, einer sitzt, wegen Drogen.

Wodka trinkt man hier im Grunde erst mit über vierzig. Was heißt Wodka, das ist ein Witz. Selbstgebrannter Fusel und Methylalkohol.

„Olja, komm, wir schauen uns den Bären an.“ Iwan Stepanowitsch holt mich mit dem Auto ab, er hat extra für mich einen Bären wecken lassen.

Fast in jedem Lager leben hier Bären. Die Jäger (also die Häftlinge oder Arbeiter) töten eine Bärin, und wenn sie Junge hat, nehmen sie die mit ins Lager. Ist natürlich schade, dass sie den armen Bären jetzt wecken, der dämmert schon in den Winterschlaf hinüber, aber sie sind nicht davon abzuhalten. Füttern ihn grade mit einem leckeren Apfel. Ich frage, was er sonst noch zu fressen bekommt – doch wohl nicht nur Äpfel, ja und Schweinefleisch werden sie ihm wohl auch nicht kaufen, das wäre übertrieben.

Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz

Der gute Iwan Stepanowitsch sagt mir, was er frisst. Besser gesagt, wen. Nein, das schreibe ich nicht auf, das brauchen Sie nicht zu wissen. Sie würden sonst noch anfangen, die ganze Menschheit zu hassen. Weil Sie dort in Ihren Hauptstädten und Ihrer Zivilisation hinter Ihren schicken Laptops sitzen und über Humanismus, Umwelt und Schädlichkeit von Margarine philosophieren – und die wird hier von Häftlingshänden aus Palmöl produziert.

Die Menschen hier erleben Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit genauso, wie sie all das im 16. Jahrhundert erlebt haben, sie selber produzieren Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit und verstehen, dass das nicht anders sein kann, so ist die Welt beschaffen, so und nicht anders. Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz.

Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!

Stepanytsch und ich setzen uns in den UAZik, seinen russischen Geländewagen, und fahren in ein anderes Lager, nicht weit weg, rund 50 Kilometer. Auf einmal läuft vor uns eine Kuh auf die Straße, hinter ihr noch eine. Ohne auf das Auto zu achten, überqueren sie gemächlich die Straße und verschwinden im Gestrüpp.

„Iwan Stepanowitsch, Kühe! Aus dem Wald! Hier gibt es doch nichts als Wald, kein Dorf, kein Lager, keinen Stall und im Wald sind Bären!“
„Olja, du kleines Dummchen. Mal sind's Pekinesen, mal Kühe ... Die leben nun mal hier. Muss dich nicht kümmern. Maljawka, mein Kätzchen, weißt du, gestern hat sie einen Luchs abgemurkst. Soll ich jetzt einen Brief an Im Reich der Tiere schreiben?

Ich schweige. Wir fahren weiter, vor uns taucht ein Bahnübergang auf. Auf den schneeverwehten Gleisen der Schmalspurbahn steht ein neues Paar eleganter Herrenschuhe. Lackleder mit Absatz. Keine Seele weit und breit. Ich schweige. Iwan Stepanowitsch schaut sich die Schuhe an und wirft sie in den Kofferraum.

„Na, das ist ein Ding ... Hast du die Sohle gesehen?“
„Welche?“
„Olja, du bist echt so ein Dummchen? Die haben dünne Sohlen! Ganz dünne! Völlig rutschig. Solche Sohlen eignen sich nur für den Sommer in Orenburg.“
„Warum in Orenburg?“
„Da machen wir immer Urlaub, im Schwarzen Delfin.“
„Das ist doch ein Lager für Lebenslängliche.“
„Na, in eurem Scheiß-Moskau werden wir ja nun nicht gerade Urlaub machen! Im Delfin ist es im Sommer schön, Seen in der Nähe, ich nehm die Kinder mit, oh ja, ihnen gefällt es da, schön warm, nur ziemlich weit weg, die Fahrt find ich echt anstrengend.“

... Jaja, im Schwarzen Delfin ist es schön, was sonst. Mir fällt wieder ein, dass auf Stepanytschs jüngere Kinder statt eines Kindermädchens zwei Häftlinge aufpassen, zwei Hundertfünfer, ich weiß, dass der eine 23 Jahre aufgebrummt bekommen hat, wegen besonderer Grausamkeit. Stepanytsch mag ihn sehr, sagt, er ist ein guter Mensch. Denn im Suff kann sowas ja schnell mal passieren.

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UAZ (Uljanowsker Automobilfabrik)

Die Uljanowsker Automobilfabrik (Uljanowski Awtomobilny Zawod/ UAZ) ist ein Hersteller verschiedener geländegängiger Fahrzeugtypen mit Sitz in Uljanowsk an der mittleren Wolga. Abgeleitet von der Bezeichnung des Unternehmens werden die Fahrzeuge umgangssprachlich als UAZik bezeichnet. Einige von ihnen besitzen in Russland einen regelrechten Kultstatus.

Infolge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion wurde das Moskauer Stalinwerk (Zawod imeni Stalina/ ZIS - heute ZIL, Zawod imeni Lichatschowa) 1941 nach Uljanowsk evakuiert. Zunächst liefen Granaten zur Flugzeugabwehr über das Band, ab 1942 wurden dann auch Lastwagen für die Front hergestellt. Den Krieg überstand das Werk weitgehend unbeschadet.  Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre spezialisierte es sich auf die Produktion kleinerer geländegängiger Fahrzeuge wie Geländewagen, Minibusse und Kleinlastwagen. Auch nach dem Ende der Sowjetunion konnte es seinen Betrieb mit dieser Ausrichtung beibehalten.

Zu den in ganz Russland bekannten Fahrzeugen des Werkes gehört das Modell UAZ-452, ein seit 1965 produzierter Minibus. Seine kompakte, kastenartige Form brachte dem Fahrzeug die umgangssprachlichen Bezeichnungen Buchanka (Kastenbrot) und, da es vor allem auch als Krankenfahrzeug Verwendung fand, Tabletka (Tablette) ein.

Der UAZ-452 als Krankenwagen

Eines der erfolgreichsten Modelle ist der ab 1971 gebaute UAZ-469, ein allradbetriebener Geländewagen, der zunächst als Militär- und Polizeifahrzeug im gesamten ehemaligen Ostblock verbreitet war. Seit den späten 80ern wurde der Verkauf des Fahrzeugs auch für den zivilen Markt geöffnet. Der Wagen erreichte dabei einen geradezu legendären Status, zum einen aufgrund seiner technischen Schlichtheit (er ist mit den einfachsten Werkzeugen zu reparieren), vor allem aber, weil er praktisch jedes noch so unwegbare Terrain überwinden kann. Diese Fähigkeit brachte ihm den Spitznamen Koslik (Ziegenbock) ein.

Ein UAZ-469 als Militärfahrzeug / © Vitaly V. Kuzmin unter CC-BY-SA 4.0

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Walenki

Walenki sind nahtlose, in einem Stück gefertigte Filzstiefel aus Schafswolle. Sie halten auch bei großer Kälte warm und gelten deshalb als ideales Winterschuhwerk für die trockenen russischen Winter. Walenki werden als ein Symbol traditioneller russischer Kultur betrachtet, heute aber in erster Linie mit dem Landleben assoziiert.

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Als Samogon bezeichnet man einen in häuslicher Eigenproduktion und für den Eigenbedarf hergestellten Schnaps. Grundlage bildet eine Maische, die in der Regel aus Kartoffeln, Früchten, Zucker oder Getreideprodukten besteht und in selbstgebauten Anlagen destilliert wird. Vor allem in den Übergangsphasen vom Zarenreich zur Sowjetunion und später während der Perestroika war der Samogon, der inzwischen fest zur russischen Alltagskultur zählt, weit verbreitet.

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St. Georgs-Band

Das St. Georgs-Band ist ein schwarz-orange gestreiftes Band, das auf eine militärische Auszeichnung im zaristischen Russland zurückgeht. Heute gilt es als Erinnerungssymbol an den Sieg über den Hitler-Faschismus, besitzt neben dieser historischen aber auch eine politische Bedeutung.

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Mentowka (Polizeirevier)

Mentowka ist eine umgangssprachliche, eher abwertend konnotierte Bezeichnung für ein Polizeirevier. Entstammt ursprünglich dem Kriminellenjargon und ist vom Jargon-Begriff Ment (Polizist) abgeleitet.

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Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

Die Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK ist eine staatlich kontrollierte Medienholding. Sie besitzt mehrere landesweit empfangbare Fernseh- und Radiosender sowie Internetmedien, außerdem knapp 100 regionale Medienanstalten in den Föderationssubjekten der Russischen Föderation.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)