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Nicht menschengemacht – 10 Fotos von Sergey Maximishin

Der preisgekrönte russische Dokumentarfotograf Sergey Maximishin formulierte für sich einst sechs Kriterien, die ein gutes Foto ausmachen:

  • • ein gutes Foto ist immer überraschend
  • • ein gutes Foto lässt einen nicht los
  • • ein gutes Foto kann man nicht nachmachen
  • • ein gutes Foto ist ehrlich
  • • ein gutes Foto kann man nicht einfach am Telefon wiedergeben
  • • ein gutes Foto ist „nicht menschengemacht“

Während die ersten fünf Kriterien verständlich und plausibel sind, wirft das letzte mehrere Fragen auf. Wie?! „Nicht menschengemacht“? Der Fotograf geht doch selbst mit seinem Fotoapparat irgendwohin und hält die Kamera oder befestigt sie auf dem Stativ, drückt auf den Knopf. Aber gemeint ist damit: Jedes wirklich gute Foto entsteht gleichzeitig durch ein Wunder, das man nicht vorprogrammieren, vorbestimmen oder vorhersehen kann. 
Unter anderem darum geht es in den kleinen Erzählungen von Sergey Maximishin, die die 100 Bilder in seinem Buch 100 Fotos von Sergey Maximishin (Sankt Petersburg, 2015) begleiten. 

dekoder hat zu Weihnachten zehn Fotos aus diesem Buch ausgewählt. Wir sind uns sicher, dass diese ehrlichen Bilder die Leser überraschen und nicht loslassen werden. Auch wenn Fotografieren und Telefonieren zu den Feiertagen gehört: Versuchen Sie nicht, Maximishins Bilder nachzumachen oder sie einfach am Telefon wiederzugeben – denn die sind „nicht menschengemacht“. 

Quelle dekoder

Tosnenski Rajon, Leningradskaja Oblast, Russland, 2004 / Fotos: © Sergey Maximishin

Die französische Frauenzeitschrift Elle hatte mich mit einer Reportage über russische Frauen beauftragt. Ich präsentierte der Redaktion eine Liste mit möglichen Heldinnen: eine Eiskunstlauftrainerin, eine neue russische Ehefrau, eine Kindergärtnerin, eine Restauratorin der Eremitage und eine Milchbäuerin. Die Elle stimmte zu, aber nur unter der Bedingung, dass die Heldinnen allesamt hübsch und glamourös wären.

Jemand, der nicht vom Fach ist, kann sich gar nicht vorstellen, auf welche Probleme man stößt, wenn man für Magazine arbeitet. Einmal sollte ich für eine englischsprachige Zeitschrift in Saudi-Arabien eine Reportage über Kasan fotografieren. Ich bekam eine Liste von Dingen zugeschickt, die man auf den Bildern nicht sehen durfte: Neben Alkohol, Menschen mit Hunden, Männern mit freiem Oberkörper standen auch Frauen in kurzärmeliger Kleidung auf der Liste. Draußen herrschte eine Bullenhitze, und ich antwortete der Redaktion, es gebe in Kasan nur einen Menschen in langen Ärmeln: mich. Ich habe nämlich eine Sonnenallergie.

Genauso ist es mit Texten: Viele Zeitschriften haben eine Liste von Wörtern, die nie auf ihren Seiten erscheinen dürfen. Ein Hochglanzmagazin für Männer hat es seinen Autoren zum Beispiel verboten, das Wort „Liebe“ zu benutzen – es würde die Leser irritieren. Und der französische Journalist, mit dem ich für die Elle zusammenarbeitete, klagte über eine redaktionelle Sperrliste von Begriffen, die für die Leser angeblich zu kompliziert seien. Angeführt wurde sie von dem Wort „Paradox“.

Wo bekommt man glamouröse Milchbäuerinnen her? Ich rief den wunderbaren Fotografen Shenja Astaschenkow an. Er arbeitet seit 30 Jahren für die Zeitung Tosnenski Westnik und kennt nicht nur alle Milchbäuerinnen im Bezirk Tosnenski, sondern, da war ich mir sicher, auch alle Kühe. „Ja!“, sagte Shenka, „Glamouröse haben wir! Werden dir gefallen!“

Die Mädels erwarteten uns schon in Kriegsbemalung. Wie sich herausstellte, war eine der Schwestern die Karriereleiter aufgestiegen und arbeitete mittlerweile als Besamungstechnikerin. Umso besser, fand ich. Während wir durch den Kuhstall gingen, fiel mir auf, dass eine der Kühe sich immer zu den Menschen reckte, Aufmerksamkeit suchte. Ich stellte die jungen Frauen zu der liebebedürftigen Kuh, sagte ihnen, sie sollen ernst und immer schön ins Objektiv schauen. Die Kuh enttäuschte mich nicht und reckte die Lippen zum Kuss. Und dann sandte uns Gott auch noch einen Mann mit Schubkarre.


Sabaikalski Krai, Russland, 2006Von Tschita nach Krasnokamensk sind es mit dem Zug 15 Stunden. Von Kransnokamensk bis an die chinesische Grenze – eine. Den besten Blick auf die Stadt hat man von einer Anhöhe aus, die die hiesigen Bewohner „Liebeshügel“ nennen: Mitten in der vollkommen flachen Steppe eine lange schmale Reihe von Hochhäusern. Rechts außen – Urangruben. In der Mitte – der zentrale Platz mit den goldenen Kuppeln. Links außen – ein Stahlbetonwerk und die Zone.

In der Strafkolonie von Krasnokamensk saß Michail Chodorkowski den ersten Teil seiner Haftstrafe ab. Seine Frau und seine Mutter waren zu einem Besuch angereist. Im Auftrag der Weltwoche sollte ich zusammen mit dem deutschen Journalisten Jens Hartmann hinterherfahren, um sie zu interviewen und über den Inhaftierungsort zu berichten.

Mit der Ankunft des Häftlings von föderaler Bedeutung war die Stadt aufgeblüht. Der nicht abreißende Strom an Geschäftsreisenden – Polizisten, Justizmitarbeiter, Anwälte, Journalisten – führte zu einem sprunghaften Wachstum von Unternehmen im Dienstleistungssektor. Und trotzdem blieb das Angebot hinter der Nachfrage zurück: Das einzige Hotel der Stadt platzte aus allen Nähten.

Man verdoppelte die Anzahl der Betten, indem man die (ohnehin schon kleinen) Zimmer halbierte. Ich musste mit einer schmalen Box mit Heizung Vorlieb nehmen, Jens bekam die Heizungsrohre. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil es brütend heiß war, Jens hat kein Auge zugetan, weil er fast erfroren wäre.

Am nächsten Morgen fuhren wir los, um Chodorkowskis Mutter zu fotografieren, wie sie aus dem Lager kommt. Die Bullen waren so schlau, etwa 800 Meter vor dem Tor ein Schild anzubringen: „Foto- und Videoaufnahmen verboten“. Ich ging daran vorbei und stellte mich vor dem Tor auf, ohne die Kamera auszupacken. Ein Polizist gesellte sich zu mir. Als Marina Filippowna in Begleitung der Anwältin im Tor erschien, schob sich der Polizist vor mich. Ich versuchte, meine Kamera rauszuholen, aber der Bulle brüllte: „Keine Fotos vom Objekt!“ und wollte mir die Kamera aus der Hand reißen. „Das ist kein Objekt, das ist eine Mutter!“, schrie die Anwältin zurück, aber der Moment war vorbei. Die Fotos konnte ich vergessen.

Danach saßen wir mit Marina Filippowna und Irina Chodorkowskaja in einem Café. So vertrieben wir uns den Tag. Den ganzen nächsten Tag hatten die Chodorkowskis zu tun, also machte ich ein paar Aufnahmen von der Stadt, Jens unterhielt sich mit dem hiesigen Popen, und dann machten wir einen Ausflug ins Stahlbetonwerk, wo, so sagte man uns, Chodorkowskis Mitinsassen arbeiteten.

Am Tor angekommen hupten wir – man machte uns auf. Wir fuhren aufs Gelände – niemand sagte ein Wort. Wir liefen durch die Werkhallen, warteten, dass uns jemand von hinten zurückrief – alles still. Wir fanden die Häftlingsbrigade. Wir stellten uns vor, unterhielten uns, die Gefangenen schlugen mir einen Deal vor: Du gibst uns deine Kamera und hundert Dollar, und wir liefern dir morgen die allerbesten Fotos von Chodorkowski. Ich ärgerte mich sehr, dass ich keine einfache Knipse dabei hatte (später sah ich solche Bilder in irgendeiner Zeitung), aber meine Arbeitskamera schien mir dann doch zu kostbar. Und so fuhren wir wieder – niemand sagte ein Wort. So ist das manchmal.

Am Abend nahmen Irina und Marina Filippowna den Zug nach Hause. Jens und ich setzten uns in ein Taxi, fuhren zu irgendeinem Bahnhof – ich wollte die Frauen im Zugfenster fotografieren. Dann fuhren wir auf schnellstem Weg zum Flughafen nach Tschita. Etwas zu schnell – wir kamen um fünf Uhr morgens an. Unser Flug ging um zehn, der Flughafen machte erst um acht auf (ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt), draußen -30 °C. Das Flughafenhotel war ebenfalls zu; wir hämmerten an die Tür, der Nachtwächter rief die Polizei. Die Bullen kamen, sahen ein, dass uns der Kältetod erwartet, und befahlen, uns reinzulassen. Am Morgen hoben wir planmäßig ab.

Das Bild habe ich quasi im Vorbeigehen geschossen. Mir war klar, dass ein Kreml aus Eis eine starke Metapher ist, und ich mich dort ein bisschen umsehen musste. So ist es immer: Hast du die Kulisse, warte auf den Darsteller, hast du einen Darsteller, such die Kulisse. Aber mit einem derart gewaltigen Exponat habe ich natürlich nicht gerechnet. Dieses Foto ist später viele Male veröffentlicht worden, und ich habe mich sehr gefreut, als die berühmte Kuratorin und Herausgeberin Leah Bendavid genau dieses Bild für das Buch Siberia: In the Eyes of Russian Photographers auswählte.


Tobolsk, Russland, 2005Ein Freund von mir sagte, als er dieses Bild sah: „Das Lächeln des Sauron“. An dem jungen Mann ist nichts Dämonisches – er heißt Sascha und ist Fahrer beim Kulturkomitee der Stadtverwaltung von Tobolsk. Sie schickten mir Sascha und seinen Buchanka-UAZik zu Hilfe, als wir für die russische GEO eine Reportage über Tobolsk machten. Das Bild ist entstanden, als wir zusammen mit dem Journalisten Alexander Moshajew abends mit der Fähre über den Irtysch setzten. Wir zwei waren an Deck gegangen, Sascha, der Fahrer, war im Auto geblieben, und es war schwer, dieses Dreieck zu übersehen – die Zähne, die Kirche, das Kreuz. In der Kamera war kein Film mehr, ich hatte schon alle Vorräte für den Tag aufgebraucht. Nur noch eine alte 800er Rolle, die seit Monaten im Fotokoffer rumlag, war noch da (dass ich mich überhaupt erinnerte!) – ein exotisches Teil für die damalige Zeit. Während ich den Film einlegte, wanderte die Kirche von selbst zum linken Rand des Autofensters, ich konnte gerade noch ein paar Bilder schießen. Und wie das immer so ist, unabhängig davon, wie viele Schüsse man macht – es ist immer genau das eine richtige Bild dabei.

Sascha hat sich nicht nur mit seinem blendenden Lächeln verewigt, sondern auch mit dem Spruch: „Fleisch ohne Wodka fressen nur die Hunde“. Als ich einmal eine Reportage über russischen Wodka für eine deutsche Kochzeitschrift machte, gefiel meinem deutschen Kollegen Saschas Lebensweisheit so gut, dass er sie als Überschrift für den Artikel benutzte.


Oserkowski-Lachszucht, Kamtschatka, Russland, 2006Aus der Oserkowski-Lachszucht werden die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran. Wenn sie groß genug sind, eilen sie nach Hause, einem Instinkt folgend, den man homing nennt. Die wenigen Lachse, die es schaffen, den Wilderern zu entwischen, kehren in ihre Geburtsfarm zurück. Dort presst man aus den Weibchen die Fischeier und sammelt sie in Eimern. Die Männchen betäubt man mit einem Holzknüppel, schlitzt ihnen die Bäuche auf und schüttet die Fischmilch in die Eimer mit dem Kaviar. Dann werden die Weibchen und Männchen auf einen Laster geladen und in die Resteverarbeitung geschickt – zum Essen sind sie nicht mehr geeignet. Aus den befruchteten Eiern schlüpft die Fischbrut. Die herangezogenen (1,5 Gramm, 7 Zentimeter) Setzlinge werden in den Pazifischen Ozean entlassen. Von der Küste Kamtschatkas schwimmen die Jungfische zu den Küsten Amerikas, wachsen unterwegs heran …

Genauso geht es in der Natur zu, nur dass es niemanden gibt, der die Setzlinge wiegt und misst, die Männchen mit einem Knüppel erschlägt und die Kadaver in ein Auto lädt.

Und wieder mal ein Foto darüber, dass man Gott eine Chance geben muss. Wie oft hat der Arbeiter Fische geworfen, wie oft habe ich auf den Auslöser gedrückt. Und nur bei einem von hundert geschossenen Bildern hat sich alles gefügt. Was dem Betrachter als phänomenales Glück erscheint, ist in der Regel ein Werk der Statistik.


Sankt Petersburg, Russland, 2000Noch ein Foto, das nur zum Teil mir gehört. Die Pressevorführung einer Ausstellung zu Iwan Aiwasowski. Die Museumsmitarbeiter waren noch nicht ganz fertig, als die Presse schon da war. Wir wurden vom Wachpersonal durchgeführt, eine große Gruppe – Fotografen, Kameraleute, schreibende Journalisten. Ein paar meiner Kollegen blieben vor der Glasvitrine stehen und begannen zu fotografieren.

Das, was dir einfach so zufliegt, weißt du weniger zu schätzen. Ich schickte das Bild zusammen mit den anderen weg und vergaß es. Ich dachte, so eins haben viele.

Ein paar Monate später fiel das Foto zufällig meiner Frau in die Hände. Mascha sagte: „Wow!“, was selten passiert und wirklich ein Grund ist, sich Gedanken zu machen. Ich durchsuchte die Timelines der Agenturen und stellte fest, dass es zwar ähnliche Fotos gab, aber genau so eins hatte niemand. Ich schickte das Bild an Rossija Press Foto, und es gewann in der Kategorie Kultur.

Das Bild ist vor allem unter Kuratoren und Museumsleuten beliebt. „Jeder Kurator kippt vom Stuhl vor Lachen, wenn er sieht, wie die Frau auf dem Foto die Vitrine putzt. Wir alle haben das schon mal gemacht, nur lagen wir dabei vielleicht nicht alle auf dem Boden“, schrieb Anne Tucker, [ehemals] Kuratorin am Museum of Fine Arts in Houston.


Sankt Petersburg, Russland, 2004Am zehnten Tag des heiligen Monats Dhul-Hidscha feiern die Muslime im Gedenken an die Opferbereitschaft des Propheten Ibrahims Kurban Bayrami das islamische Opferfest. Nach dem Gebet muss jeder rechtschaffene Muslim Allah einen Hammel, eine Kuh oder ein Kamel opfern. Das Opfertier darf keine physischen Blessuren aufweisen. Vor der Schlachtung muss man die Worte „Bismillah, Allahu Akhbar“ aussprechen. Das Fleisch soll in drei Teile geteilt werden: Ein Drittel soll man zu Hause essen, ein Drittel bedürftigen Verwandten oder Bekannten geben und das restliche Drittel Armen spenden, in Übereinstimmung mit dem Koran: „So esset davon und speiset den Bedürftigen und den Bittenden.“

Die Händler verkauften die Hammel von Lastwagen. Mir fiel auf, dass einer der Käufer mit seinem Hammel nicht zum Parkplatz ging, sondern ihn in Richtung Moschee schleifte, also folgte ich ihm und versuchte im Gehen zu fotografieren. Wahrscheinlich ist so der „Mitzieheffekt“ entstanden, den man auf dem Foto sieht. Als Artjom Tschernow und Andrej Polikanow mit mir die Fotos für den Band auswählten, musste ich dieses Bild buchstäblich durchdrücken: Meine Kollegen reagierten relativ kühl, ich aber leide fast körperlich, wenn ich diese Respektlosigkeit vor dem Tod sehe, mich durchbohrt der Blick des verurteilten Tieres, das sich (buchstäblich!) an das Leben klammert. Hoffnung ohne Hoffnung.

Barthes schreibt in Die helle Kammer: „Im Jahre 1865 versuchte der junge Lewis Payne den amerikanischen Außenminister W. H. Seward zu ermorden. Alexander Gardner hat ihn in seiner Zelle fotographiert; er wartet auf den Henker. Das Foto ist schön, schön auch der Bursche: das ist das studium. Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein, und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist.“ Gut möglich, dass das eines der Bilder ist, die nur mir und niemandem sonst gefallen. Es gibt auch Fotos, die sehr beliebt sind und bei denen ich keine Ahnung habe, was an ihnen so gut sein soll.

Abdallah ibn ʿAbbas, der Cousin des Propheten, berichtete: „Einst sah der Gesandte Allahs einen, der sein Messer schärfte, während er mit einem Fuß auf der Schnauze des Schafs stand und das Schaf zu ihm hinaufsah. Da fragte der Prophet den Mann: Warum schärftest du dein Messer nicht, bevor du das Tier zu Boden warfst? Willst du ihm etwa zweimal das Leben nehmen?“


Sankt Petersburg, Russland, 2003Die Dreharbeiten im Internat dauerten drei Wochen. Zum Abschied wollte ich ein bisschen feiern, kaufte eine Torte aus Schokowaffeln und Kekse. Die Regisseurin Ljudmila Arkadjewna warf den elektrischen Samowar an, die jungen Leute setzten sich im Speiseraum auf ihre gewohnten Plätze, wie beim Mittagessen. Im Bild ist eine Uhr zu sehen – das ist einer der seltenen Fälle, wenn auf dem Film, wie in einer EXIF-Datei, die Aufnahmezeit festgehalten ist.

Die Jungs und Mädels tranken Tee, alberten herum, kokettierten, stritten sich. Aus über hundert Schüssen habe ich das Bild ausgewählt, auf dem fast nichts passiert, ich finde, so liest sich die Allusion auf das berühmte Fresko besser heraus.

Nur die Optik hat mich etwas im Stich gelassen: Ich habe die Aufnahmen mit einem billigen 50mm-Plastikobjektiv gemacht, das mir kurz davor runtergefallen war. Der linke Bildrand ist leicht verschwommen.

Das Foto war schon bekannt, bevor es den World Press Photo Award gewonnen hat. Hin und wieder begegnet es mir in unerwarteten Situationen, mit unerwarteten Lesarten. Einmal fragte mich jemand, ob ich absichtlich gewartet hätte, bis die Uhr sieben vor zwölf zeigt. Als ich nicht recht verstand, sagte er: „Naja, es sind doch zwölf Apostel, und am Tisch sitzen sieben!“


Kamtschatka, Russland, 2006

Der letzte Tag der Reise, das Pflichtprogramm war geschafft. Der Autor Pyotr Vail, mit dem ich die Reportage-Serie zu Kamtschatka machte, flog zurück nach Moskau. Ich hatte noch einen halben Tag, bis mein Flug ging. Ich beschloss, einen Blick auf die berühmten Thermalbäder zu werfen. Als ich mich etwas umgeschaut hatte, verstand ich, dass ich den höchsten Punkt suchen musste. Zum Glück hatten die Betreiber eine Klappleiter.


Sankt Petersburg, Russland, 2003Fast zweihundert Journalisten waren zur Abschlusskonferenz des Petersburger Dialogs gekommen. Präsident Putin und Kanzler Schröder wurden erwartet. Nach dem Sicherheitscheck versammelten sie uns im riesigen Auditorium, niemand durfte raus, und Putin kommt ja nie weniger als zwei Stunden zu spät. Alle 15 Minuten rief mich die Redaktion von Izvestia an, für die ich damals arbeitete, und verlangte nach fröhlichen Fotos von Putin und traurigen von Schröder. Die Ausgabe ging um zwei Uhr mittags in Druck. Nur fünf Minuten zu spät, und die Fotos würden direkt in die Tonne wandern.

Endlich trafen die Staatschefs ein. Die Journalisten stürzten los, um einen Platz im riesigen Saal zu ergattern. Putin und Schröder setzten sich an einen langen Tisch weit weg voneinander, und ich ärgerte mich, dass ich mir einen frontalen Blickwinkel ausgesucht hatte – von der Seite fotografiert, hätte man optisch die Entfernung zwischen den Personen verkürzen können. In unserem Rücken waren die Vorhänge im Halbkreis zugezogen. Plötzlich kämpfte sich ein Lichtstrahl durch eine Lücke und fiel direkt auf Putins Gesicht, während Schröder im Schatten blieb. Alle hörten auf zu fotografieren, wegen der ungleichmäßigen Beleuchtung war ein gutes Doppelporträt unmöglich. Und ich denk mir so, Putin sieht doch gar nicht so schlecht aus, ganz hübsch. Drücke ein paar Mal ab. Der Präsident schaut zu mir hoch – und so ist dieses Bild entstanden.

Auf dem Weg nach draußen fragte ich den amerikanischen Fotografen, den ich beim Warten kennengelernt hatte: „Und, wie war's?“ „Zu förmlich“, sagte der. Dann musste es schnell gehen, die Redaktion wartete. Ich schnappte mir ein Taxi, fuhr ins Labor, entwickelte den Film, suchte noch im Taxi auf dem Weg nach Hause ein Foto raus, mit fröhlichem Putin und traurigem Schröder. Das scannte ich zu Hause ein, schickte es raus und vergaß den Auftrag.

So wäre das Bild verschütt gegangen, wenn nicht mein Freund Sergej Tjagin auf einem Fotoportal ein Bild von Putin veröffentlicht hätte, das er genau im selben Moment, mit demselben Lichteffekt geschossen hatte, nur im Profil. Es hagelte Kommentare: „Guckt mal, wie toll!“ Ich wurde neidisch: Ich hab auch so eins! Fand den richtigen Filmausschnitt (nur drei Bilder), steckte ihn in den Scanner. Eine Minute später erschien dieses Bild auf dem Monitor.

Die höchste Anerkennung für einen Fotografen ist es, wenn ein Bild es schafft, durch die dünne Expertenschicht zu dringen und Menschen zu erreichen, die sonst mit Fotografie wenig am Hut haben. Wenn es sich quasi unter's Volk mischt. Wenn man sich an das Bild erinnert, aber nicht mehr an den Künstler. Für mich ist das größte Kompliment die Frage: „Ach, dann haben Sie das Foto gemacht?“ Ich hoffe sehr, dass das eines dieser Bilder ist.

Und noch was: Erstaunlicherweise wird das Foto sowohl von Putins Befürwortern wie von seinen Gegnern aufgenommen. Jeder sieht darin das, was er sehen will.


Sankt Petersburg, Russland, 2003

Das Verlagshaus Conde Nast hatte Illustrationen für einen Reiseführer zu Sankt Petersburg bestellt. Ich bekam eine Liste von Orten, die ich fotografieren sollte. Unter anderem das Restaurant Sow IljitschaDer Ruf des Iljitsch. Ich wählte die Nummer. Die Administratorin sagte mir, in Anwesenheit der Gäste seien Aufnahmen nicht erlaubt, aber tagsüber könne ich kommen.

Zwei schelmische Kellnerinnen in einer Mischung aus Pionier- und Gesundheitshelfer-Uniform bereiteten den Laden für den Abendbetrieb vor. Die eine wischte die Lenin-Büsten auf dem Fensterbrett ab. Ich fotografierte sie und behielt im Hintergrund das Iljitsch-Porträt an der Wand im Blick. Dann schob sich beim Tischabwischen ihre Kollegin vor die Linse.

„Geh mal weg, du störst den Mann! Dein Arsch verdeckt das ganze Bild!“, sagte die erste Kellnerin.

„Vielleicht ist mein Arsch ja auch nicht so übel!“, erwiderte die zweite kokett und beugte sich nach vorne.

Vielleicht hat sie sogar recht, dachte ich schon zu Hause, als ich nach einem passenden Bild suchte.

Fotos: Sergey Maximishin
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Jennie Seitz
Veröffentlicht am 24.12.2018 

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Kommunalka

„Aber wo wollen Sie wohnen?“ – „In Ihrer Wohnung.” Dieser kurze aber vereinnahmende Dialog auf der Straße zwischen Berlioz und Voland, dem Teufel, in Michail Bulgakows Klassiker Meister und Margarita (1929–1940) lässt erkennen, wie fließend die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in Sowjetrussland war.

Als dominante städtische Wohnform, als Quintessenz des stalinistischen Alltags, als fortschrittliches „Labor für den zukünftigen Kommunismus“ ist die Kommunalwohnung (auf Russisch kommunalnaja kwartira, kurz kommunalka) der Hauptschauplatz der neuen sowjetischen Lebensweise.

 Die Zuwanderer vom Land brachten ihre dörflichen Traditionen mit in die Städte – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988

Mit der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 wurde die Enteignung und Umverteilung bürgerlicher Wohnungen symbolisch inszeniert – gleichzeitig löste man so die Wohnraumkrise, die vor allem durch eine massive Landflucht und Zuwanderung in die Städte ausgelöst worden war. Meist durften die ehemaligen Wohnungseigentümer in ihrer Wohnung bleiben und sich ein Zimmer aussuchen, die restlichen wurden von den lokalen Wohngenossenschaften beliebig an Wohnraumsuchende umverteilt: Ein Zimmer für je eine Familie.

Manchmal wohnten bis zu drei Generationen in einem im Durchschnitt 20m² messenden Zimmer, sodass sich zum Beispiel in einer relativ großen 10-Zimmer-Altbauwohnung bis zu 50 Menschen Küche, Bad und Toilette teilten. Bewohner befanden sich ständig auf der kommunalen Bühne, Nachbarn waren omnipräsent und der Raum transparent.

Bulgakow beschreibt die Situation folgendermaßen:

„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um über Moskau zu schreiben, steht der verfluchte Wassili Iwanowitsch vor mir in der Ecke. Dieser Alptraum in Jackett und gestreifter Unterhose versperrt mir die Sonne. Ich lehne die Stirn an die steinerne Wand, und Wassili Iwanowitsch liegt über mir wie ein Sargdeckel.”1

Mithin herrschten unzumutbar beengte, unhygienische und konfliktreiche Zustände, zumal die Zuwanderer vom Land nicht nur ihre Hühner, sondern auch Ihre dörflichen Ansichts­weisen und Traditionen mit in die städtischen Räume brachten.

Anfänglich war sie als Not- und Übergangslösung gedacht, bald aber etablierte sich die Kommunalka als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Was die Kommunalka einzigartig unter den frühindustriellen Arbeiter­quartieren macht, ist nicht nur das erzwungene Zusammenleben einander fremder Menschen unterschiedlichster Schichten, Bildungsgrade, Regionen, Religionen etc. Die extreme Ideologisierung und Politisierung des neuen sowjetischen Alltags schuf einen komplexen und vielschichtigen (Wohn-)Raum.

Manchmal wohnten drei Generationen in einem Zimmer – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988Oft waren es die geräumigen Wohnungen wohlhabender Familien, die in Kommunalwohnungen umgewandelt und für das Zusammenleben mehrerer Familien angepasst wurden. Zwischentüren wurden vermauert oder mit Schränken zugestellt, dunkle, schmale Flure entstanden, die separaten Zugang zu den einzelnen Zimmern boten. Nicht selten wurden Badezimmer in Wohnräume umgebaut, dafür dann in den geräumigen Küchen eine Badewanne installiert. Persönliche Hausgeräte hingen oft, nach Familien geordnet und entsprechend beschriftet, an Nägeln an der Wand: Auf diese Weise waren etwa Küchenutensilien organisiert, aber auch die Toilettensitze im kleinen Raum der Toilette. Die Schwierigkeiten, die eine solche gemeinsame Nutzung der wohntechnischen Infrastruktur mit sich brachte, waren Gegenstand zahlloser Alltagsgeschichten und wurden auch in Literatur und Film immer wieder humoristisch aufgegriffen.

Dieser totale wie ambivalente Raum und die darin handelnden Akteure werden in der Forschung aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, die beide ihre Berechtigung haben: Die eine sieht in der Kommunalka vor allem ein Instrument gesellschaftlicher Kontrolle, der die Bewohner ausgesetzt waren.2 Die andere entdeckt bei den Kommunalkabewohnern eine besondere Handlungsfähigkeit, die den ambivalenten Lebensumständen entsprang: Zwischen der von außen aufgezwungenen Ideologie und der Realität vor Ort gab es gewaltige Unterschiede, also mussten die Bewohner situationsbedingt Lösungen finden, um Diskrepanzen entgegenzuwirken.3

 Dabei hatte natürlich jede/r eine eigene Meinung bzw. ein eigenes Interesse.

Welcher Aspekt auch immer im Vordergrund stehen mag: Die Kommunalka ist eine kollektive Lebensform, an die sich die Bewohner anpassen mussten, ob sie es wollten oder nicht. Als (Schicksals-)Gemeinschaft entwickelten die Bewohner eigene Regeln der Alltagsgestaltung und des Verhaltens, die sich ungeachtet der soziopolitischen und -kulturellen Veränderungen fortsetzen. Auch heute noch: Etwa ein fünftel der St. Petersburger Bevölkerung wohnt in Kommunalkas. „Immerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe […].“4


Die Kommunalka spielt auch eine wichtige Rolle in unserer Fotostrecke für den Monat Juli. Und noch einen ganz anderen Blick auf die sowjetische Gemeinschaftswohnung gibt es in diesem sehr populären Song aus den frühen 90ern:

https://www.youtube.com/watch?v=D_mVylRi_T0

 

Pop-Band Djuna „Kommunalnaja Kwartira" – humoristischer Song aus den 90ern zum Thema Kommunalka

1.Bulgakow, Michail (1995): Moskau in den zwanziger Jahren, in: Ich habe getötet: Erzählungen und Feuilletons: Gesammelte Werke 7/I, Berlin, S. 74-87, hier: S. 79
2.Siehe Meerović, Mark (2003): Očerki istorij žilishchnoj politiki v SSR i ee realizacij v architekturnom projektirovanii (1917 - 1974 gg.), Irkutsk und Boym, Svetlana (1994): Common Places: Mythologies of Everyday Life in Russia, Harvard
3.Gerasimova, Ekaterina (2000): Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyi institut: Istoriko-sociologičeskii analiz (na materialach Leningrada, 1917 - 1991), Promotion, European University at St. Petersburg und Evans, Sandra (2011): Sowjetisch Wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld
4.Pjecuch, Vjačeslav (1991): Die neue Moskauer Philosophie: Ein russischer Kriminalroman, München 1991, S. 127f.
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