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„Die Russen haben jetzt ein Kainsmal auf der Stirn“

Ein einziges Bild kann die Geschichte eines ganzen Landes erzählen: Ein Kloster wird zu einem Straflager und wieder zu einem Kloster mit angeschlossenem Strafvollzug. Frank Gaudlitz hat es in Kungur am Ural aufgenommen. Auf seiner letzten Reise durch Russland ist der Potsdamer Fotograf den Spuren von Alexander von Humboldt gefolgt. Nach 30 Jahren wollte er sich dem Land noch einmal auf neue Weise nähern. Dann befahl Wladimir Putin die Invasion der Ukraine, sein Volk folgte ihm und Gaudlitz brach sein Projekt ab. Im Interview spricht er über 30 Jahre Russland-Neugier und Russland-Verzweiflung. 

Quelle dekoder

Kungur / Foto: © Frank Gaudlitz

dekoder: Über 30 Jahre lang sind Sie regelmäßig für große Reportagen nach Russland gereist. Ihr letztes Projekt haben Sie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vorzeitig beendet. Bevor wir dazu kommen: Was hat ursprünglich Ihre Neugier für das Land geweckt? 

Frank Gaudlitz: 1988 bin ich zum ersten Mal in die Sowjetunion gereist. Als Fotografiestudent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig absolvierte ich im Sommer einen Arbeitseinsatz auf einer Baustelle der Erdgastrasse „Drushba“, die Gas vom Ural nach Osteuropa bringen sollte, und an der die DDR mitbaute. Ich komme aus Potsdam. In der Garnisonsstadt waren wir umgeben von russischem Militär, um nicht zu sagen „umzingelt“. Das war eher interessant als bedrohlich. Als dann 1991 der Abzug der sowjetischen Truppen beschlossen wurde, habe ich diesen Abzug mit der Kamera begleitet und wollte auch in Russland die Zeltstädte fotografieren, in denen die Offiziere und Soldaten zunächst untergebracht wurden, weil es keine Wohnungen für sie gab. In Sankt Petersburg angekommen, war ich erschrocken über die gesellschaftlichen Verwerfungen, die der Zusammenbruch der Sowjetunion mit sich gebracht hatte: Es ging mir nicht mehr nur um eine relativ elitäre Gruppe von Militärangehörigen, die in Containern lebten, es ging um etwas viel Größeres, eine Bruchstelle der Geschichte. Und da habe ich beschlossen, ich bleibe dran. 

 

Vielen Russen sind die 1990er Jahre als Zeit des Zusammenbruchs in Erinnerung. Wenigen als Zeit des Aufbruchs. Wie geht es Ihnen? 

Ich konnte in dieser Zeit den ganzen Kontinent bereisen – habe Lager des Gulags über dem Polarkreis besucht, die Schwerindustrie in Norilsk, die Kohlereviere in Sibirien, den Baikal und den Altai. Manchmal bin ich einfach über eine Mauer gestiegen und plötzlich stand ich zum Beispiel in einer Kokerei in Kemerowo. Klar, man wurde mal festgehalten und verhört, aber eigentlich kam man überall rein. Ich habe nie in Hotels gewohnt, meistens in Kommunalkas geschlafen oder unterwegs in Zügen. In der DDR waren die Möglichkeiten begrenzt gewesen, Weite und Abenteuer zu erleben. Nun konnte man auf einmal die Welt und damit auch einiges über sich selbst erfahren. Mit Abenteuer meine ich nichts Oberflächliches, sondern etwas, das ans Substanzielle geht. Ich war gewissermaßen getrieben von dieser Idee einer psychologischen Gesellschaftsstudie. Mir ging es nicht um die politischen Großereignisse, sondern darum, wie der Einzelne diese Auflösung der Gesellschaftsordnung erlebt. 

 

Wie hat sich das Land seitdem verändert? 

Als ich mich 2017/18 nach einer längeren Pause erneut Russland fotografisch zuwandte, fiel mir die Diskrepanz zwischen ideologischer Inszenierung und der Realität besonders auf. Wenn ich in den 90er Jahren ganz unmittelbar den Alltag fotografierte und eine große Nähe, auch emotional, zu den Menschen herstellen konnte, dann war das 2017/18 völlig anders. Ich habe gespürt, dass sich auch in mir selbst eine Distanz aufgebaut hatte, dass die Ereignisse sich eher wie auf einer Bühne abspielten und ich sie von außen betrachtete. Gleichzeitig sah man sich an eine alte Stilistik aus dem Kommunismus erinnert, verbunden mit einem patriotischen Pathos. Das war plötzlich ein völlig anderes Russland. Statt mit einzelnen Menschen in Beziehung zu treten, habe ich Orte gesucht, wo ein ideologisches Vokabular aufgerufen wurde und dann den Blick auf die Inszenierung und auf ihre Wirkung gelenkt. 

 

Fällt Ihnen eine bestimmte Situation dazu ein? 

2018 bin ich zur Präsidentschaftswahl nach Moskau gereist. Der Wahltermin war auf den 18. März gelegt worden, den Jahrestag der Krim-Annexion. Und am Abend gab es unterhalb des Roten Platzes ein patriotisches Festival unter dem Motto: „Rossija, Sewastopol, Krim“. Alles war umstellt von Polizei, aber ich bin irgendwie reingekommen. Die Männer die dort standen, die Stimmung, dieses Jubeln, das Fahnenschwenken, das hat mir Angst gemacht. Ich empfand die gesamte Situation als bedrohlich – nicht für mich, sondern allgemein. Und damals dachte ich: Die würden sofort alle in den Krieg ziehen. 

 

Sie haben sich dann 2021 auf den Weg gemacht, um das Land noch einmal neu zu erkunden, und zwar auf den Spuren von Alexander von Humboldt. Wie kam es dazu? 

Humboldt hat mich immer fasziniert. Vor vielen Jahren bin ich seinem Weg durch Südamerika gefolgt. Nun wollte ich auf der Route seiner Altersreise durch Eurasien die russische Provinz erkunden. Mit 60 Jahren ist Humboldt von Berlin aus circa 19.000 Kilometer in einer Postkutsche über den Kontinent gefahren bis an die chinesische Grenze. 

 

Nachdem in ihren frühen Reportagen aus Russland die Menschen im Mittelpunkt standen, sieht man jetzt auf diesen Bildern gar keine Menschen, nur Gebäude.  

Das ursprüngliche Konzept war, Bruchstellen zwischen urbanem Raum und der Landschaft zu fotografieren. Und als Gegenpol die Verantwortungsträger, am liebsten die Bürgermeister der durchreisten Orte, also nicht mehr Privatpersonen, sondern Vertreter der Staatsmacht. Aber das ließ sich leider nicht realisieren, weil ich trotz Unterstützung durch einen russischen Begleiter und die Russische Geografische Gesellschaft gar nicht an die Entscheidungsträger rankam. Als der erste Bürgermeister bereit war, sich fotografieren zu lassen, waren wir schon am Ural. In Kosmodemjansk hatten wir beispielsweise telefonisch einen Termin mit der Bürgermeisterin vereinbart. Aber statt der Bürgermeisterin kam der örtliche Chef des FSB in Lederjacke und stellte so lange Fragen, bis wir aufgegeben haben. 

 

Nach welchen Motiven haben Sie gesucht?  

Ich habe versucht, im urbanen Raum Architekturensembles zu finden, in denen sich Zeiten und Ideologien überlagern und die vielleicht etwas vom Leben der vorübergehend abwesenden Bewohner in der russischen Provinz erahnen lassen. Meine Dolmetscherin hat dann etwas ganz anderes in den Bildern gesehen, was mir gar nicht bewusst gewesen war. Sie sagte: „Da kommen die Soldaten her, die jetzt in der Ukraine kämpfen.“ Auf den Fotos sind sie abwesend. So betrachtet haben die Bilder eine Relevanz gewonnen, die zunächst nicht beabsichtigt war. 

 

Ein Merkmal der postsowjetischen Zeit war auch, dass die Dinge nicht an ihrem Platz waren: Sportstadien wurden zu Schwarzmärkten, in Schuhgeschäften wurden plötzlich Computer verkauft. Auf vielen Bildern dieser Serie ist eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Epochen zu sehen, der Aufholprozess ist immer noch nicht abgeschlossen. 

Ich glaube, der wird auch auf absehbare Zeit nicht abgeschlossen sein. Es ist offenbar einfacher, Krieg zu führen, als Straßen durch dieses riesige Land zu bauen. An vielen Orten herrscht die Gleichzeitigkeit einer gigantischen Zeitspanne. Je weiter man hinter den Ural fährt, desto absurder wird es. Da stehen riesige Denkmäler für den Großen Vaterländischen Krieg spiegelblank geputzt und ringsherum fallen die Häuser ein, in denen die Menschen leben. Ich frage mich auch immer wieder, wie man als Russe einem System glauben kann, das niemals wirklich offen mit den Verbrechen der Vergangenheit gebrochen hat? Das eigene Land hat Millionen der eigenen Leute einfach umgebracht zur Stalinzeit! Ich weiß gar nicht, wie man das gedanklich fassen kann. Das kann man wahrscheinlich nur ausblenden, um irgendwie weiterzuleben. Aber dann bleibt in diesem Volk auch die Angst stecken, die Angst, dass alles wieder passieren kann. 

 

Das Bild aus Joschkar Ola zeigt sehr eindrücklich diese Gleichzeitigkeit und auch die Unsicherheit über die eigene Identität: Im Hintergrund bröckelnde Plattenbau-Riegel aus der Sowjetzeit. Und davor neu errichtete Fassaden, die einen mittelalterlichen Stil imitieren wie eine Filmkulisse. 

Joschkar Ola ist die Hauptstadt von Mari El, einer der kleinsten Teilrepubliken Russlands. Das architektonische Ensemble geht auf Leonid Markelow zurück, der war 16 Jahre lang Oberhaupt von Mari El. Seine Leidenschaft galt der Adaption bekannter Gebäude aus der ganzen Welt. Bis er schließlich wegen Korruption im Zuge seines Großbauprojekts zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. 

 

In Kungur steht diese strahlend weiße Kirche neben einem zerfallenden Backsteinbau. Was war da drin? 

Die Kirche ist ein ehemaliges Kloster, auf dessen Gelände ein Frauengefängnis errichtet wurde. Heute existieren beide parallel – die frisch renovierte Kirche und die Strafanstalt, heute ein offener Vollzug, soviel ich weiß. Hier der Kirchturm, dort die Wachtürme vom Gefängnis. Die sind auf einem anderen Foto zu sehen. 

 

Ihre Geschichte mit Russland spiegelt gewissermaßen, was die deutsche Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren im Verhältnis zu Moskau erlebt hat: Von der großen Neugier und emotionalen Nähe über die wachsende Distanz bis zur Entfremdung. Wer nicht regelmäßig dort war, auf den musste die Krim-Annexion wirken wie eine kalte Dusche. 

Ja, es geht vielen so. Und neben dem Schrecken ist auch eine große Trauer dabei. Und großes Unverständnis. Es gab in den vergangenen 30 Jahren immer wieder Momente, wo man dachte: Oh, toll, da kann sich etwas entwickeln, da ist eine Verbindung möglich! Zum Beispiel, wenn Visa-Verfahren vereinfacht wurden. Aber leider ist es dann völlig anders gekommen. Nach dem Überfall auf die Ukraine habe ich beschlossen, nicht mehr nach Russland zu fahren. Auch, weil ich Angst habe. Durch Putin haben die Russen für mich jetzt ein Kainsmal auf der Stirn. Das bedeutet aber nicht, dass ich dieses Lebensprojekt nicht mehr fortführen werde. Den zweiten Teil der Humboldt-Reise habe ich abgesagt. Stattdessen bin ich in ehemalige Unionsrepubliken gefahren, nach Moldau, nach Georgien, nach Armenien, und habe dort Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine porträtiert und russische Emigranten.  

 

Glauben Sie, dass es für Ihren Zugang zu diesem Thema eine Rolle gespielt hat, dass Sie in der DDR großgeworden sind?  

Ich denke, ja. Abgesehen davon, dass wir im Ostblock alle unter einer ähnlichen ideologischen Überfrachtung gelebt haben, gab es einfach auch mehr direkte Begegnungen. Zum Beispiel mit Soldaten, die man in Potsdam in der Kneipe getroffen hat.  

 

Irgendwie schließt sich da ja ein Kreis: Am Anfang stand der Abzug der sowjetischen Soldaten aus ihrer Heimatstadt Potsdam. Und am Ende der Einmarsch der Russen in der Ukraine. In der Kneipe und am Küchentisch waren die Soldaten auch einfach Menschen. Und doch sind sie bereit, es wieder zu tun – wieder Land zu besetzen, ihr Territorium mit Gewalt auszuweiten und auch schreckliche Kriegsverbrechen zu begehen. 

Ja. Es war nicht sonderlich schwer für Putin, patriotische Gefühle von verletzter Ehre aufzugreifen und anzufachen. Aus Putins Sicht war die Krim-Annexion innenpolitisch echt clever. Sie hat diese Gefühle bedient und seine Macht stabilisiert. Als zweites Element kommt die Angst dazu, vor den drakonischen Strafen, wenn man nicht einverstanden ist mit System und Krieg. Viele hat das eingeschüchtert, und viele sind gegangen. 

Sankt Petersburg / Foto: © Frank GaudlitzLipitzy / Foto: © Frank GaudlitzWolotschok / Foto: © Frank GaudlitzMurom / Foto: © Frank GaudlitzMurom / Foto: © Frank GaudlitzPokrowskoje / Foto: © Frank GaudlitzKasan / Foto: © Frank GaudlitzPerm / Foto: © Frank GaudlitzPerm / Foto: © Frank GaudlitzJoschkar Ola / Foto: © Frank Gaudlitz © Frank GaudlitzJekaterinburg / Foto: © Frank GaudlitzJekaterinburg / Foto: © Frank GaudlitzNischni Tagil / Foto: © Frank GaudlitzWerchnjaja Tura / Foto: © Frank Gaudlitz

Kuschwa / Foto: © Frank GaudlitzTobolsk / Foto: © Frank GaudlitzTobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz

 

 

Fotos: Frank Gaudlitz, aus der Serie Kosmos Russland
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am 4.12.2024
Kosmos Russland ist ein Projekt des Deutschen Kulturforums östliches Europa e.V., gefördert vom Land Brandenburg.

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Kommunalka

„Aber wo wollen Sie wohnen?“ – „In Ihrer Wohnung.” Dieser kurze aber vereinnahmende Dialog auf der Straße zwischen Berlioz und Voland, dem Teufel, in Michail Bulgakows Klassiker Meister und Margarita (1929–1940) lässt erkennen, wie fließend die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in Sowjetrussland war.

Als dominante städtische Wohnform, als Quintessenz des stalinistischen Alltags, als fortschrittliches „Labor für den zukünftigen Kommunismus“ ist die Kommunalwohnung (auf Russisch kommunalnaja kwartira, kurz kommunalka) der Hauptschauplatz der neuen sowjetischen Lebensweise.

 Die Zuwanderer vom Land brachten ihre dörflichen Traditionen mit in die Städte – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988

Mit der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 wurde die Enteignung und Umverteilung bürgerlicher Wohnungen symbolisch inszeniert – gleichzeitig löste man so die Wohnraumkrise, die vor allem durch eine massive Landflucht und Zuwanderung in die Städte ausgelöst worden war. Meist durften die ehemaligen Wohnungseigentümer in ihrer Wohnung bleiben und sich ein Zimmer aussuchen, die restlichen wurden von den lokalen Wohngenossenschaften beliebig an Wohnraumsuchende umverteilt: Ein Zimmer für je eine Familie.

Manchmal wohnten bis zu drei Generationen in einem im Durchschnitt 20m² messenden Zimmer, sodass sich zum Beispiel in einer relativ großen 10-Zimmer-Altbauwohnung bis zu 50 Menschen Küche, Bad und Toilette teilten. Bewohner befanden sich ständig auf der kommunalen Bühne, Nachbarn waren omnipräsent und der Raum transparent.

Bulgakow beschreibt die Situation folgendermaßen:

„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um über Moskau zu schreiben, steht der verfluchte Wassili Iwanowitsch vor mir in der Ecke. Dieser Alptraum in Jackett und gestreifter Unterhose versperrt mir die Sonne. Ich lehne die Stirn an die steinerne Wand, und Wassili Iwanowitsch liegt über mir wie ein Sargdeckel.”1

Mithin herrschten unzumutbar beengte, unhygienische und konfliktreiche Zustände, zumal die Zuwanderer vom Land nicht nur ihre Hühner, sondern auch Ihre dörflichen Ansichts­weisen und Traditionen mit in die städtischen Räume brachten.

Anfänglich war sie als Not- und Übergangslösung gedacht, bald aber etablierte sich die Kommunalka als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Was die Kommunalka einzigartig unter den frühindustriellen Arbeiter­quartieren macht, ist nicht nur das erzwungene Zusammenleben einander fremder Menschen unterschiedlichster Schichten, Bildungsgrade, Regionen, Religionen etc. Die extreme Ideologisierung und Politisierung des neuen sowjetischen Alltags schuf einen komplexen und vielschichtigen (Wohn-)Raum.

Manchmal wohnten drei Generationen in einem Zimmer – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988Oft waren es die geräumigen Wohnungen wohlhabender Familien, die in Kommunalwohnungen umgewandelt und für das Zusammenleben mehrerer Familien angepasst wurden. Zwischentüren wurden vermauert oder mit Schränken zugestellt, dunkle, schmale Flure entstanden, die separaten Zugang zu den einzelnen Zimmern boten. Nicht selten wurden Badezimmer in Wohnräume umgebaut, dafür dann in den geräumigen Küchen eine Badewanne installiert. Persönliche Hausgeräte hingen oft, nach Familien geordnet und entsprechend beschriftet, an Nägeln an der Wand: Auf diese Weise waren etwa Küchenutensilien organisiert, aber auch die Toilettensitze im kleinen Raum der Toilette. Die Schwierigkeiten, die eine solche gemeinsame Nutzung der wohntechnischen Infrastruktur mit sich brachte, waren Gegenstand zahlloser Alltagsgeschichten und wurden auch in Literatur und Film immer wieder humoristisch aufgegriffen.

Dieser totale wie ambivalente Raum und die darin handelnden Akteure werden in der Forschung aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, die beide ihre Berechtigung haben: Die eine sieht in der Kommunalka vor allem ein Instrument gesellschaftlicher Kontrolle, der die Bewohner ausgesetzt waren.2 Die andere entdeckt bei den Kommunalkabewohnern eine besondere Handlungsfähigkeit, die den ambivalenten Lebensumständen entsprang: Zwischen der von außen aufgezwungenen Ideologie und der Realität vor Ort gab es gewaltige Unterschiede, also mussten die Bewohner situationsbedingt Lösungen finden, um Diskrepanzen entgegenzuwirken.3

 Dabei hatte natürlich jede/r eine eigene Meinung bzw. ein eigenes Interesse.

Welcher Aspekt auch immer im Vordergrund stehen mag: Die Kommunalka ist eine kollektive Lebensform, an die sich die Bewohner anpassen mussten, ob sie es wollten oder nicht. Als (Schicksals-)Gemeinschaft entwickelten die Bewohner eigene Regeln der Alltagsgestaltung und des Verhaltens, die sich ungeachtet der soziopolitischen und -kulturellen Veränderungen fortsetzen. Auch heute noch: Etwa ein fünftel der St. Petersburger Bevölkerung wohnt in Kommunalkas. „Immerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe […].“4


Die Kommunalka spielt auch eine wichtige Rolle in unserer Fotostrecke für den Monat Juli. Und noch einen ganz anderen Blick auf die sowjetische Gemeinschaftswohnung gibt es in diesem sehr populären Song aus den frühen 90ern:

https://www.youtube.com/watch?v=D_mVylRi_T0

 

Pop-Band Djuna „Kommunalnaja Kwartira" – humoristischer Song aus den 90ern zum Thema Kommunalka

1.Bulgakow, Michail (1995): Moskau in den zwanziger Jahren, in: Ich habe getötet: Erzählungen und Feuilletons: Gesammelte Werke 7/I, Berlin, S. 74-87, hier: S. 79
2.Siehe Meerović, Mark (2003): Očerki istorij žilishchnoj politiki v SSR i ee realizacij v architekturnom projektirovanii (1917 - 1974 gg.), Irkutsk und Boym, Svetlana (1994): Common Places: Mythologies of Everyday Life in Russia, Harvard
3.Gerasimova, Ekaterina (2000): Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyi institut: Istoriko-sociologičeskii analiz (na materialach Leningrada, 1917 - 1991), Promotion, European University at St. Petersburg und Evans, Sandra (2011): Sowjetisch Wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld
4.Pjecuch, Vjačeslav (1991): Die neue Moskauer Philosophie: Ein russischer Kriminalroman, München 1991, S. 127f.
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Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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Als Samogon bezeichnet man einen in häuslicher Eigenproduktion und für den Eigenbedarf hergestellten Schnaps. Grundlage bildet eine Maische, die in der Regel aus Kartoffeln, Früchten, Zucker oder Getreideprodukten besteht und in selbstgebauten Anlagen destilliert wird. Vor allem in den Übergangsphasen vom Zarenreich zur Sowjetunion und später während der Perestroika war der Samogon, der inzwischen fest zur russischen Alltagskultur zählt, weit verbreitet.

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Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)