Tief hinab steigt die Lyrikerin Tanya Skarynkina, 1969 in der west-belarussischen Kleinstadt Smarhon geboren, – in ihre Erinnerungen und Träume, in die multikulturellen sprachlichen Bande der belarussischen Provinz, in die historische Verwerfungen und Brüche des belarussischen Kulturraums und in die schillernden Welten der Literatur und des Films. So macht sich Skarynkina, die zu den bedeutendsten Dichterinnen und Essayistinnen ihres Landes gehört, in ihrem literarisch-poetischen Text vor dem Hintergrund der Ereignisse seit dem Sommer 2020 auf die Suche nach einer Zukunft für Belarus. Ein Land, das auch in der Vergangenheit immer wieder die eigenen Menschen verloren hat, weil sie vor neuen Machthabern in andere Länder fliehen und als Fremde andernorts ein neues Leben beginnen mussten.
Augustregen hat ohne Vorwarnung die Julihitze abgelöst. Ich gehe absichtlich ohne Regenschirm hinaus. Nach der Höllenhitze ist die Nässe angehm. Für alle Fälle nehme ich den Staubmantel mit, zu dem man hier früher koshówez sagte. An der Betonung auf der vorletzten Silbe merkt man, dass es ein polnisches Wort ist, und das verwundert auch nicht, denn früher war auf unserem Gebiet Polen. „Polschtsch“ sagt die ältere Generation. Warum es koshowez heißt, weiß ich nicht, denn er ist aus wasserundurchlässiger Plane genäht. Sicher nicht aus kosha, Leder. Vielleicht ist es ein ganz leichter Mantel (koshuch)? Im polnischen Wörterbuch konnte ich kożowiec nicht finden, auch im belarussischen suchte ich erfolglos. Also wohl ein dialektaler Schatz aus der Vergangenheit.
Der Heilige Augustinus, einer der ersten Autoren des frühen Christentums, schreibt in seinen Confessiones, dass nur die Vergangenheit existiert, die Zukunft gibt es nicht. Die Gegenwart im Übrigen auch nicht. Es gibt nur die Gegenwart des Vergangenen und die Zukunft des Vergangenen. Darauf baut Augustinus sein gesamtes Verständnis der menschlichen Kultur. Ich laufe ohne Schirm durch den warmen Regen und denke darüber nach. Es fällt mir schwer zuzustimmen. Doch für gewöhnlich vertraue ich dem Heiligen Augustinus.
Ich erreiche den Teich im Stadtzentrum. Obenauf Seerosen. Die Oberfläche des Blattes der Gelben Teichrose soll die Ebene der zukünftigen Geschichte sein, deswegen stelle ich mir beim Beobachten der Regentropfen vor, wie sie als Details, die täglich in den Text einfließen und ihn schwerer machen, das Blatt der Teichrose niederdrücken. Teichrosen wachsen auch im Weiher von Perawosy, dem Dorf, in dem meine Mutter geboren wurde. Alle meine Verwandten mütterlicherseits bis in die vierte Generation, vielleicht auch weiter zurück, lebten dort. Sie nannten den Weiher kutok – Winkel – und Teichrosen bulauka – Stecknadeln.
Warum ich so viel über meine Vorfahren weiß? Ich hatte das Glück, mit der Archivarin Lena aus Minsk befreundet zu sein. Lena fand zum Beispiel Transportlisten der Flüchtlinge aus Perawosy aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie schickte mir die Kopie eines Dokuments von 1914, auf dem Großvater Iosifs Familie registriert ist – der Vater meiner Mutter mit seinen Eltern (Adelaida, Apalinary) und Schwestern (Genueva, Maryja), die vor dem Krieg nach Maladsetschna flohen. Ergebnis dieser Flucht war, dass Maryja, die von allen Marynja genannt wurde, den Chef der Eisenbahn von Maladsetschna kennenlernte, einen Józef Tyszko. Sie heirateten und seitdem haben wir polnische Verwandtschaft.
Ich stelle mir die Kriegswirren vor, alle fliehen, die Züge sind vollgestopft bis unter’s Dach, keinerlei Komfort, und dann mittendrin diese Liebe, jedenfalls dachte ich das immer, aber sie sagten mir, Tanja, welche Liebe, nichts dergleichen, keinerlei Komfort, Wirrnis, Krieg, die Menschen flüchteten, egal wie, vor Explosionen, vor Deutschen mit Stahlhelmen. Es hat sich so ergeben, aus Ausweglosigkeit hat sie ihn genommen, weil sie wie Bettler lebten, und dann der Krieg, und er brachte sie nach Polschtsch. Eigentlich brauchte keiner den anderen.
Als der Schriftsteller Dmitri Bykow den Schauspieler Konstantin Raikin fragte, worum es in Kafkas Verwandlung gehe, wunderte ich mich. Kennt ein bekannter Literat und Fernsehmoderator – denn gestellt wurde die Frage in der Sendung SSL (Shalkaja samena literatury, dt. Lausiger Literaturersatz) – wirklich die Antwort auf diese Frage nicht? Er beteuerte aufrichtig, es nicht zu wissen, also gab Raikin eine Antwort, die das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Das Schlimmste ist, wenn man nicht gebraucht wird, aber existiert.“
Zu diesem Thema habe ich ständig postapokalyptische Träume. Dass uns Außerirdische erobern, die sich in Menschen verwandeln. Die echten Menschen mit ihren Schwächen und romantischen Gefühlen werden sie in der Zukunft nicht mehr brauchen. Mal ehrlich, was sollen die realen Menschen in einer nicht-existenten postapokalyptischen Zukunft?
Traum Nr. 1
Wir fahren in einem offenen Auto durch die Berge. Serpentinen hinauf. Vielleicht in ein Sanatorium. Leichter Wind umweht unbeschwerte Gesichter. Noch eine Kurve, und da ist das Meer. Plötzlich, wie immer im Traum, alles passiert plötzlich, herrscht Chaos auf der Straße. Die Autos verhalten sich wie eine Herde wildgewordener Kühe. Jemand sagt, die Verkehrsregeln sind aufgehoben. Ein Lastwagen fährt vorbei, darin sitzen Soldaten in Reihen. Etwas mit ihren Gesichtern stimmt nicht. Die Gesichter glänzen in der Sonne als wären sie aus Plastik. Aus grauem Kunststoff. Auf jedem Gesicht liegt ein gleichbleibender Ausdruck von Selbstzufriedenheit. Angewidert und fassungslos wende ich mich ab, mir wird klar: Jetzt ist alles aus. Wir kehren in die Stadt zurück. Das Meer ist vergessen. Unsere fröhliche Gesellschaft zerfällt mit einem Mal. Ich gehe allein durch die Stadt. Ich beobachte, wie „diese“ – so nenne ich die außerirdischen Besatzer im Stillen – unsere Mädchen mustern und sich widerlich grinsend über die Objekte ihrer Begierde austauschen. Wenn sie das Verlangen nach Kopulation verspüren, bewegen sie sich mit riesigen Sätzen, wie Heuschrecken, zu einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Vielleicht sitzt dort ihr Stab und sie konsultieren die Machthaber bezüglich dieser unbekannten körperlichen Impulse. Denn unter „diesen“ gibt es keine sogenannten Frauen. Ihre Arbeiter breiten behände unverhältnismäßig große Rollen mit künstlichem Dreck über die Gehwege und Rasenflächen. Kino wurde verboten. Auf Bildschirmen, die in unglaublicher Zahl in der ganzen Stadt installiert wurden, laufen Trickfilme, die jemand mit der Vorstellungskraft eines Wurms und ebensolchen künstlerischen Fähigkeiten gezeichnet hat. Ohne Musik und Sprache. Die Figürchen krümmen sich in seltsamen Rhythmen über die Bildschirme, ihre Augen sind leer, mit schwarzer Farbe ausgemalt. Ich stehe und schaue und muss mich beinahe übergeben. Einer von „diesen“ sagt hinter mir:
„Schön.“
Ich muss brechen.
Da beschließt unsere kleine Gesellschaft, ein halbes Dutzend Invasionsgegner, die nicht einverstanden sind, zu fliehen. In die Wüste. Wie Beduinen gekleidet. Fliehen wir nach Afrika.
Albert Camus’ Roman Der Fremde, dessen Titel ich ohne Erlaubnis leicht abgewandelt übernommen habe, spielt in Nordafrika, im kolonialen Algerien, wo der Autor auch geboren wurde. Plötzlich fällt mir auf, dass auch der Heilige Augustinus aus Algerien stammte. Das hat für mich Bedeutung. Ich sammle Koinzidenzen. Camus’ Protagonist Meursault sammelt seltsame Zufälle, schneidet sie aus Zeitungen aus und klebt sie in ein Heft. Manchmal liest er sie wieder, so wie ich nun zum vierten Male Der Fremde. Als er bereits im Gefängnis sitzt, nachdem er aus Versehen am Strand einen Araber getötet hat, und weiß, dass ihn die Guillotine erwartet, spielt ihm die böse Ironie des Schicksals noch einen ungewöhnlichen Fall aus der Presse in die Hände: Ein Mann war sich nach Amerika gegangen, dort zu Reichtum gekommen und dann heimgekehrt. Das interessiert Meursault:
„Zwischen meinem Strohsack und dem Bettrost hatte ich nämlich ein fast an den Stoff geklebtes, vergilbtes, durchsichtiges altes Stück Zeitung gefunden. Es berichtete von einem Vorfall, dessen Anfang fehlte, der sich aber in der Tschechoslowakei ereignet haben musste. Ein Mann war aus einem tschechischen Dorf aufgebrochen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er reich und mit Frau und Kind zurückgekehrt. Seine Mutter unterhielt mit seiner Schwester in seinem Geburtsort ein Hotel. Um sie zu überraschen, hatte er seine Frau und sein Kind in einem anderen Gasthof gelassen, war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannt hatte, als er hereinkam. Er war auf die Idee gekommen, zum Spaß ein Zimmer zu nehmen. Er hatte sein Geld gezeigt. Nachts hatten seine Mutter und seine Schwester ihn mit einem Hammer totgeschlagen, um ihn auszurauben, und hatten seine Leiche in den Fluss geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen, hatte, ohne es zu wissen, die Identität des Reisenden enthüllt. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt. Ich habe diese Geschichte wohl Tausende Male gelesen. Einerseits war sie unwahrscheinlich. Andererseits war sie normal. Jedenfalls fand ich, dass der Reisende es ein bisschen verdient hatte und dass man nie spielen soll.“
„Unglaublich“, denkt Camus’ Held laut über diesen Fall.1 Im Theaterstück, nicht im Buch. Zuerst sah ich die Verfilmung von Luchino Visconti. Doch das reichte mir nicht. Ich suchte nach weiteren Inszenierungen über diesen Menschen, der von der Gesellschaft ausgestoßen worden war. Ich fand das Stück im Moskauer Theater Sowremennik, erst kürzlich, 50 Jahre nach Viscontis Film mit Marchello Mastroianni in der Hauptrolle. Eine junge, noch unbekannte Regisseurin hatte das Stück inszeniert und war dabei mutig genug gewesen, den Originaltext des Buches abzuwandeln. Im Buch bewertet der Held die Zeitungsnotiz über den Tschechen nicht. Er sagt nicht: „Unglaublich.“
Ebenso unglaublich ist, dass der Tscheche aus der Gefängnis-Notiz nach Hause zurückkehrte, denn die Jantschukowitschs aus dem Dorf Perawosy zum Beispiel sind nicht zurückgekehrt. Jantschukowitsch war der Familienname meiner Mutter. Im Dorf am Flüsschen Wilija lebten nur Jantschukowitschs. Alle waren miteinander verwandt, manche näher, manche ferner. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten sie nach Amerika aus. Meine Archivfreundin Lena schickte mir die Dokumente der Perawoser Jantschukowitschs zur Ausreise und zur Registrierung in Amerika. Meine eigenen Verwandten fand ich nicht darunter. Keine mir bekannten jedenfalls. Außer Dshan natürlich, auch ein Jantschukowitsch, über den ich seit meiner Kindheit Geschichten höre. Und der als einziger zurückgekehrt ist.
Mama erzählt:
„Nachbar Dshan hatte einen Hampelmann. Wenn wir am Faden zogen, machte der Faxen. Immer wenn wir zu Dshan kamen, wollte jeder der erste beim Hampelmann sein. Er war aus Sperrholz, hing an der Wand und war bunt angemalt. Dshan hatte ihn aus Amerika mitgebracht und aufgehängt.“
Dshan hieß ursprünglich Iwan. In Amerika hieß er dann John. Aber John, so meine Vermutung, fügte sich wegen des „o“ nicht in die Sprache ein, denn das Belarussische liebt das „a“. Ich studiere die Kopie der Registrierungskarte von Dshan-Iwan genauer und erfahre, dass er von 1917 bis 1933 in der Textilfabrik von Worcester, Massachusetts gearbeitet hat. In seinem Haus hing eine riesige Fotografie, die in der Fabrikhalle aufgenommen worden war.
Mama:
„Da waren vielleicht 200 Menschen auf der Fotografie. Immer, wenn wir mit Mama und Papa dort zu Besuch waren, schaute ich sie an und versuchte, Dshan zu finden.“
Ich weiß, wie Dshan ausgesehen hat. Wir haben ein Foto vom größten Hochwasser, das Perawosy erlebt hat. Darauf sind Mama und ihre Freundin Soja Warsozka zu sehen, wie sie mit dem Boot in die Stadt zur Arbeit fahren. Wie Statuen stehen sie in dem kleinen Boot, adrett mit ihren Handtäschchen. Torebka sagte man damals in polnischer Art zu einer Damenhandtasche. Und feine Schühchen tragen sie. Die Schuhe machte damals der berühmte Damenschuhmacher Baran von der Perschamajski-Straße. Mama und Soja sitzen ganz still. Am Ruder ein schmaler Mann mit dunkler Mütze. Das ist Dshan.
Traum Nr. 2
Es ging weiter und weiter und schließlich kamen wir nach Afrika. Mit dem Floß schlugen wir uns zum Anwesen durch, einem riesigen leerstehenden Haus mit Flachdach in arabischem Stil. Fast alle Fenster sind eingeschlagen. Ich erahne, dass hier ein Krieg stattgefunden hat, scheinbar ein Atomkrieg, der keine Menschen übriggelassen hat. Es wird Abend, der breite Fluss, an dessen Ufern das Haus steht, (genau wie in Perawosy), glänzt im Licht der tiefstehenden Sonne. Vogelschwärme. Krach, Geschrei. Als es dunkel ist, entfache ich ein kleines Feuer auf dem Flachdach eines der Wirtschaftsgebäude und röste Kartoffeln. Pelle sie und esse. In diesem Traum ist alles so langsam. Und überdeutlich.. Die Kartoffel zerfällt in meinen Händen. Kühlt ab. Ich esse. Ich spüre nichts von der Veränderung, die stattfindet,. Dass ich nichts außer Kartoffeln zu essen habe. Ich bin eine Verstoßene und muss mich den neuen Lebensbedingungen anpassen. Den Bedingungen ewiger Einsamkeit. Deshalb denke ich mir aus (und das ist einfach, wenn man träumt), dass das Haus dem meines Großvaters in Perawosy gleicht, in dem ich nie gewesen bin. Auch die Sonne ist dieselbe, nur heißer. Und der glitzernde Fluss ist wie unsere Wilija, das trockene Gras am Ufer und die vielen kleinen Punkte der Vögel im Glanz des Flusses sind fast wie unsere belarussischen in Smarhon. Nur zum Reden ist niemand da, aber daran kann man sich gewöhnen.
Die Bewohner von Perawosy, dem Dorf an der Wilija, wo Ururgroßvater Ignacy, Urgroßvater Apalinary, Großvater Iosif und meine Mutter geboren wurden, verließen ihr schönes Dorf am Fluss, so denke ich, mit großer Bitterkeit und Angst, als sie in die amerikanische Ferne zogen, wo es schwierig war, mit Einheimischen zu reden. Und sie ja erstmal dieses Englisch lernen mussten. Der Familienname klang dort ungewohnt, wie ein wildes Wort. Also wurden sie zu Jankowskis, Janchuks und Janssons. Wie haben sie wohl beschlossen, in diese Ferne zu ziehen, die Jankowskis, Janowskis, Janchuks und Janssons? Mit welchem Geld, für welches Schiff kauften sie Fahrkarten? Der Gedanke macht mich unruhig. Warum hielt und hütete die Heimat sie nicht, warum zwang sie sie ans Ende der Welt für ein Stück Brot? Sie vertrieb sie wie Fremde, wie Dreck, wie Stroh. Dabei gehörten sie doch zu ihr. Es bringt mich um den Schlaf. Ich schalte einen amerikanischen Film ein, Edge of Tomorrow mit Tom Cruise, schaue, bis mir die Augen zufallen. Ich schalte ab, als die Protagonistin Cruise gerade befiehlt:
„Du musst uns von diesem Strand wegbringen.“
Am Strand werden „unsere amerikanischen Landsleute“ von den außerirdischen Mimics angegriffen. Agile Giganten, halb Spinne, halb Krabbe, halb Oktopus, halb Affe, halb was weiß ich. Vielleicht Tyrannosaurier. Ich schlafe spät ein. Um drei Uhr nachts klingelt das Telefon. Nummer unbekannt, aber man weiß ja nie. Ich gehe ran – Krach, Geschrei, Rufe. Ich höre, ohne zu begreifen:
„Hol uns raus!“
„Was?“
„Hol uns hier raus!“
Ich lege auf und stelle auf lautlos. Ich bin nicht Tom Cruise. Keine Retterin. Am Morgen sehe ich acht unbeantwortete Anrufe auf dem Display. Von verschiedenen nichtgespeicherten Nummern. Hätte ich sie doch retten sollen? Haben sie sich selbst vor den angreifenden Mimics gerettet? Die Hilferufe gehen mir nicht aus dem Kopf. Die unbekannte Stimme hallt in meinen Ohren nach.
Traum Nr. 3
Die nächste Postapokalypse beginnt mit einem lauten Geräusch aus dem Himmel. „Mu“, der zen-buddhistische Laut, alt wie die Welt. Aus dem Japanischen übersetzt bedeutet er „nichts“. Als sich im Traum aber am Himmel über dem Hauptplatz von Smarhon ein präzises Riesenloch bildete, war da der Kopf einer Kuh, die der ganzen Stadt „Mu“ zurief. Und es geht los. Der Kopf verschwindet. Durch das Loch, das in Sekundenschnelle größer wird, sinkt eine gewaltige fliegende Untertasse herab und schwebt über dem Hauptplatz. Heraus hagelt es gegnerische Soldaten in metallenen Raumanzügen. Die Gesichter verdeckt, die Absichten maximal feindlich. Die ganze Stadt zieht sich in den unterirdischen Gang zurück, der, wie sich herausstellt, schon immer unter dem Lenin-Denkmal ist, was aber keiner weiß. Ich, Heldin meiner eigenen Träume, achte darauf, dass niemand dem Massaker der erbarmungslosen Außerirdischen zum Opfer fällt. Erst als der letzte Bürger in den dunklen Schacht gestiegen und sein Rucksack außerhalb meiner Sichtweite ist, gehe auch ich. Über meinem Kopf ziehe ich den gusseisernen Deckel mit der Aufschrift „Smarhon“ zu. Die Aufschrift des Lukendeckels ist keine Erfindung der Autorin des Traums. In der Stadt gibt es tatsächlich eine Gießerei, die bis heute Kanaldeckel produziert. Wie schwarze Pfannkuchen lagen sie einst in der ganzen Sowjetunion verteilt. Ob es heute noch so ist, weiß ich nicht. Aber in unserer Stadt gibt es ein ganzes Meer davon.
Mama:
„So was gab es bei uns nicht, sagte Dshan immer. Hochhäuser, schwarze Menschen. Ihm graute vor alldem. Als er wieder hier war, hat er sich einmal in Smarhon betrunken und ist in eine Pfütze gefallen. Da erschienen ihm plötzlich Wolkenkratzer aus der Pfütze und er sprach mit sich selbst auf Englisch.“
Die Nachfahren der Jantschukowitschs aus Massachusetts sehen schon aus wie Amerikaner. Man schickte mir Archivbilder der amerikanischen Perawoser. Ein junger hübscher Soldat mit weißer Schirmmütze und blauer Uniformjacke, der Enkel von Pjotr Jantschukowitsch aus Perawosy, ist ein Ebenbild von Tom Cruise. Dieselben grünen Augen, dichte Augenbrauen, kleiner klar umrissener Mund, große Nase. John Jansson. Hier würde er Iwan heißen. Selbst das Muttermal auf der linken Wange, genau in der Mitte, wie bei Cruise. Hätten die , die da „rausgeholt“ werden wollten, doch lieber Cruise angerufen und nicht mich. Im Film hat er immerhin die Welt von der monströsen Besatzung befreit, indem er sich in fantastischer Weise ins Gehirn des Wesens versetzte, das die Mimics steuerte. Ich dagegen konnte nicht mal im Traum meinem Vater helfen.
Traum Nr. 4
Das Zimmer, in dem Papa und ich wohnen, ist lang und schmal wie ein Korridor. An der Stirnseite gibt es ein großes Erkerfenster. Zum dritten Mal schon lebe ich im Traum hier, in einer Kommunalka. In der Nacht wache ich auf und begreife plötzlich, dass sie gleich hier sein werden, um uns zu holen. Die Nachbarin im Nachthemd hat schon zweimal mit besorgtem Gesicht hereingeschaut. Auch ohne dies ist klar, dass wir verloren sind. Die Angst wächst. Ich gehe zur Nachbarin in die Gemeinschaftsküche. Dort ist es wie im Mittelalter. Kupfergeschirr, ein rußgeschwärzter Kessel hängt über dem Feuer am Haken. Auf dem Holzboden liegen Kohlköpfe, Rüben und Zwiebeln herum. Und da kommen sie. Glatzköpfige Brüder in schweigender Reihe, alle in Schwarz. Über das Gemüse stolpern sie direkt zu Papa. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so furchtbar wäre. Ich weiß, dass sie ihn dort drin schlagen, aber es ist nichts zu hören. Dann führen sie ihn an uns vorbei aus der Wohnung. Ich halte die Augen geschlossen, um zu sehen, wie sie Papa zusammengeschlagen haben. Mit Beinen wie Watte gehe ich in unser Zimmer zurück. Nirgends ein Fleck Blut. Wahrscheinlich haben sie extra so geschlagen, dass man nichts sieht. Von Papa ist der Bambusstock geblieben. Mich schmerzt der Gedanke, wie Papa ohne ihn laufen wird. Dabei hat Papa im realen Leben den Stock gar nicht benutzt. Dann begreife ich, dass er jetzt keinen Stock mehr braucht, weil er nirgendwohin mehr gehen wird. Sie haben ihn weggebracht, um ihn zu töten. Auf dem Klavier liegt noch ein Spielzeug. Irgendwas Struppiges. Ich schaue genauer hin: es ist ein kleiner Löwe. Mein Vater hat mir sich selbst als Plüschtier hinterlassen, Löwe ist sein Sternbild. Ich verstehe nicht, warum sie mich nicht auch mitgenommen haben. Ich bin ihm doch so ähnlich. Wahrscheinlich lautet der Befehl, Mädchen nicht mitzunehmen. Vorläufig.
Aus den Dokumenten, die ich bekommen habe, geht hervor, dass nur eine einzige junge Frau aus Perawosy die Reise nach Amerika angetreten hat. Ältere Frauen gab es auch, sie fuhren mit ihren Männern. Aber diese 18-jährige Anna fuhr allein. „Marital status: Ledig (Single) Departure.“ So steht es auf dem Formular. Sie verließ das Dorf 1912. Auf der Pennsylvania fuhr sie von Hamburg nach New York. Ziel war natürlich Massachusetts. Wie bei allen. Zum Glück reiste sie über Deutschland und nicht über Großbritannien, wo 1912 die Titanic ihre erste und letzte Fahrt nach New York antrat. Ich habe mir den gleichnamigen Film von James Cameron extra noch einmal angeschaut, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen die einfachen Leute auf den billigsten Plätzen über den blauen Ozean ihrem himmelblauen Ziel entgegenfuhren. Es waren nicht die besten. Ich stelle mir vor, dass gut und gerne Leute aus Perawosy auf der Titanic gewesen sein könnten. Und hoffe, dass sie zu den Geretteten gehörten. Man müsste die Passagierliste der Titanic auftreiben. Plötzlich sind mir diese Menschen nicht mehr egal.
Ich frage meine Mutter: „Wie ist Dshan gestorben?“
Mama:
„Schlimm. Im Kolchos war ihm ein Auto gegen den Kopf gefahren. Die Dshanicha, also Julia, seine Frau, kümmerte sich nur leidlich um ihn. Gab ihm nichts zu trinken, damit er nicht auf den Topf musste, selbst gehen konnte er nicht mehr. Meine Eltern gingen mal zu Besuch und er bat um Wasser. Vater brachte welches, da flog die Dshanicha herbei und schimpfte ihn aus. Da hat sie von Vater aber was zu hören bekommen – und Dshan sein Wasser. Er war so klug, wohlerzogen und galant. Und wie er Maria mochte, meine mittlere Schwester, weil sie gerne mit ihm sprach. Über Englisch fragte sie ihn aus, aber er wusste nur noch wenig.“
Wie wohl Dshans Leben verlaufen wäre, wenn er nicht zurückgekehrt wäre und das Englische nicht vergessen hätte? Wie wäre es John Jansson ergangen, wäre er hier geboren? In Amerika wurde John, trotz – oder vielleicht wegen – seiner heldenhaften Erscheinung, nur 30 Jahre alt. Dem Todesjahr und der Kriegsuniform auf dem Foto zufolge könnte er im Bürgerkrieg in El Salvador gestorben sein. Der wohl furchtbarste Film über diesen Krieg ist Salvador von Oliver Stone. In der 10. Klasse habe ich ihn mit einer Freundin im Kino angeschaut. Wir sind beide wegen der grausamen Terrorszenen völlig ausgeflippt: die Willkür der Todesschwadronen, die die schutzlose, unbewaffnete Bevölkerung traktieren, wie es ihnen die wahnsinnige Phantasie ungebildeter Menschen mit unbegrenzter Macht souffliert. Man konnte schon getötet werden, wenn man bei der Ausweiskontrolle seinen Pass nicht dabeihatte. Seitdem trage ich meinen Pass immer bei mir. Und habe sogar ein Gedicht darüber geschrieben:
Ich habe immer meinen Pass dabei
wer weiß
wer weiß ob jemand kommt
und streng befiehlt:
„Dokumente her!“
Was zeige ich dann?
Nach diesem Film fing ich an, methodisch von Flucht zu träumen, von Festnahmen, Gefängniszellen, sogar einer Erschießung. Sie erschossen mich, aber ich starb nicht. An meinem Körper zeichneten sich nur ein paar Löcher ab, eingebrannt, wie beim Terminator, der auch ein Weltretter ist, wie Tom Cruise in Edge of Tomorrow, wie ich in meinem Traum vom Laut „Mu“. Die perfekte Clique.
Traum Nr. 5
Ich habe die Schlüssel zu den Hintertüren einiger Läden in der Stadt. Mit einer Freundin gehe ich nachts durch die leeren, hallenden Räume. Niemand da, wir mögen die Stille. Plötzlich eine Razzia. Die Polizei stürmt das Gebäude und direkt im Lager, zwischen Kisten, Fässern und Säcken, wird uns der Prozess gemacht. Gleich hier im Laden sollen wir in die Zelle gesteckt werden. Im Keller, hinter ein Holzgitter. Offenbar gibt es Ladengefängnisse. Sie verkünden das Urteil – 10 Jahre. Zusammen mit uns werden zwei Männer verurteilt. Sie protestieren, beginnen einen Kampf, dabei geht die Tür der größten Zelle zu Bruch.
„Zum Teufel!“, schreit der Richter. Er wirft sich gegen die Tür, durch die schon die Häftlinge drängen. Schüsse fallen, mehrere Polizisten fallen tot um. Der Richter flüstert uns zu:
„Seht ihr, jetzt achtet niemand auf euch.“
Und wir rennen weg. Doch ich lebe weiterhin in Angst. Um sie zu vertreiben, küsse ich im Hauseingang einen Fremden. In der Wohnung sind Gäste – da geht das schlecht. Uns wird klar, dass wir heiraten müssen. Er hat sich verliebt, ich habe ein pragmatisches Ziel. Es wird mich retten. Er ist rothaarig, unrasiert und fühlt sich heiß an. Krank scheint er nicht zu sein, es ist eher seine natürliche amerikanische Temperatur, er ist nämlich Amerikaner, spricht aber gut Russisch. Wir gehen in die Wohnung zurück, treten glücklich auf den Balkon, weil alles beschlossen ist. Wir schauen hinunter. Dort steht die Polizei.
Das war’s, denke ich entsetzt, sie haben sich an unsere nächtlichen Streifzüge erinnert.
Plötzlich tauchen aus der Dunkelheit weiße Figuren auf. Die roten Scheinwerfer lassen ihre schwarzen Augen wie Blutstropfen leuchten. Es sind Mumins. Es stellt sich heraus, in unserem Hof wird ein Film gedreht. Und die Polizei sichert das Set vor Passanten. Die Gefahr ist vorbei. Wir beschließen zu bleiben. Amerika kann warten.
Mama:
„Dshan hatte aus Amerika eine Geige mitgebracht. Immer wenn im Dorf ein Fest war, kam er und spielte, aber erst nach der Hausarbeit. Seine Frau half ihm nie. Alle naselang rief sie:
„Dshan! Bring mir die Strohmatte! Ich fall in Ohnmacht!“
Auf den Festen spielte Dshan mit seinen Söhnen, als sie herangewachsen waren. Ihr Ensemble nannten sie Dshandshyki. Wazik (Wazlau) spielte die Zimbel, Stach Klarinette und Ljonka-Streuner (weil er so zottelig war und sich nie kämmte) die Harmonika.“
Die Mundharmonika spielt auch meine Lieblingsfigur aus den Mumin-Geschichten, der Schnupferich, der immer einen alten Staubmantel trägt. Geschrieben hat die Geschichten die bekannte finnlandschwedische Schriftstellerin Tove Jansson. Ich habe fast einen Luftsprung gemacht, als mir auffiel, dass ihr Familienname eine der Varianten unseres Familiennamens ist. Ich fühlte mich Tove sofort verbunden. Ohnehin war sie mir schon lange unendlich nah, durch diesen einen Satz der Muminmutter:
„Die Muminmutter ist eine Mutter, die jedem immer alles erlaubt und niemandem je etwas verbietet.“
Lasst doch zusammen mit den Märchenfiguren die Staatsoberhäupter so denken – die Staatsoberhäupter der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die es nicht gibt. Die es nicht gibt, solange wir auf unserem eigenen Land Fremde sind. Verzeih, Augustinus, dass ich widerspreche.