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Die unsichtbaren Repressionen gegen Queers

Kurz bevor Alexander Lukaschenko 1994 zum ersten Mal Präsident wurde, war im unabhängigen Belarus Homosexualität legalisiert worden. Nicht-heteronormative Lebensstile konnten langsam öffentlich thematisiert werden, Belarus feierte seine erste Queer-Ikone.

Doch die Hoffnungen auf mehr Sichtbarkeit und Anerkennung grundlegender Rechte von LGBTQ* Personen währten kurz. Stattdessen forderte strukturelle Diskriminierung von ihnen Selbsrverleugnung, bald folgte systematische Verfolgung. Als das Kulturministerium in Lukaschenkos Diktatur 2024, wenige Monate vor Beginn der Wahlkampagne zur überstürzten Präsidentschaftswahl im Januar 2025, dann Queer-Sein juristisch mit „Pornografie“ gleichsetzte, gerieten alle lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Menschen ins Fadenkreuz des belarussischen Sicherheitsapparates.

Die dekoder-Autorin Xenija Tarassewitsch und der Aktivist Oleg Roshkow erläutern, wie Repressionen die Liberalisierung gegenüber der LGBTQ* Community seit der Unabhängigkeit 1991 ersetzten. Wie die belarussische Gesellschaft, die sich für tolerant hält, darauf reagierte. Und warum belarussische Queers benachteiligt werden, wenn es um die internationale Anerkennung ihrer Verfolgung in Belarus geht, beispielsweise bei Asyl-Verfahren im Ausland.

Quelle dekoder

Lukaschenkos Repressionsapparat macht sich bereit: Queers mit Regenbogenflagge unterstützen am 20. September 2020 den friedlichen Protest gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Minsk. / Foto © Depositphotos/Imago

Allein im September 2024 wurden in Belarus laut der Menschenrechtsorganisation Legal Initiative 15 bis 20 Menschen aus der LGBTQ* Community festgenommen. Bekannt wurde auch die Inhaftierung von acht trans* Personen. Die Silowiki erstellten gegen sie Anzeigen wegen „Rowdytums“. Gegen zwei von ihnen wurden Strafverfahren wegen „Verbreitung pornografischen Materials“ eingeleitet.

Ein Jahr zuvor, im September 2023, hatte die belarussische Regierung begonnen, einen Gesetzentwurf – analog dem russischen Gesetz – zum Verbot von „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zu erarbeiten. Kurz darauf begannen Razzien auf queeren Partys (ähnlich wie zur gleichen Zeit in Russland und obwohl das Gesetz in Belarus bis heute nicht angenommen ist – dek.), bei denen die Silowiki persönliche Daten der Besucher sammelten.

Doch das war nicht immer so. Als Belarus in den 1990er Jahren unabhängig wurde und Alexander Lukaschenko erst anfing Richtung Alleinherrschaft zu streben, war die Situation weitaus verheißungsvoller.

Nur Kultur, keine Menschenrechte

Homosexuelle Beziehungen wurden in Belarus im Jahr 1994 entkriminalisiert, drei Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit und nur wenige Monate vor Lukaschenkos Machtantritt. Bis dahin hatte das sowjetische Gesetz mit dem Artikel über „Unzucht zwischen Männern“ gegolten.

Der Machtwechsel, gefolgt vom Wechsel des politischen Regimes, brachte anfangs keine sichtbaren Veränderungen bei einer sich abzeichnenden Liberalisierung. Über Themen wie Sex und Homosexualität wurde nun mehr oder weniger offen gesprochen. In Belarus gab es zu dieser Zeit auch die erste queere Ikone: Edzik Tarlecki alias Madame Zju-Zju.

„Seit den 1990er Jahren gab es einen Konsens: Man kann sich in der Kultur engagieren, aber nicht in den Menschenrechten, – erst recht nicht die Rechte und Probleme der Community sprechen“, erklärt Oleg Roshkow, Gründer der Medieninitiative J4T (Journalists For Tolerance).

 

Madame Zju Zju performt „Ach, kakaja shenschtschina!“ (1995, dt. Ach, was für eine Frau!) der ukrainisch-sowjetischen Gruppe Freestyle  aus Poltawa, begleitet von einem „betrunkenen Chor“. / Quelle: youtube.com/@Norma Pospolita Madame Zju Zju 

Chronik belarussischer Pride-Märsche

Das belarussische Online-Magazin Make Out hat vor einigen Jahren, noch vor der jüngsten Verfolgungswelle, eine Chronologie der Pride-Demos veröffentlicht, die halblegal in Minsk stattfanden.

Im Jahr 1999 fanden dank der Organisatoren der ersten Minsk Pride neben den Wettbewerben Mr. Gay Belarus und Transmission auch ein Bildungsprogramm und eine Konferenz zum Thema Rechte von Schwulen und Lesben statt. In der Nacht stürmte OMON den Club, in dem alles stattfand. Dennoch nahmen an der ersten belarussischen Pride ungefähr 500 Menschen teil.

Im Jahr 2001 gab es dann den ersten richtig großen Pride-Marsch: Zwischen 500 und 2000 Teilnehmende versammelten sich in der Nähe des Minsker Stadtzentrums unter Regenbogenflaggen. Zwar war die Veranstaltung nicht von den Behörden genehmigt, dennoch verlief alles ohne Zwischenfälle. Indes sah sich aber Tarlecki aka Madame Zju Zju schon Mitte der 2000er Jahre gezwungen, in die Ukraine zu gehen. 

In den Folgejahren fanden kleinere Aktionen statt, zum Beispiel 2008. 2010 lösten OMON-Einheiten die Pride auf und verprügelten Teilnehmende. Im folgenden Jahr wurde der LGBTQ*-Marsch am Stadtrand von Minsk abgehalten, um Gewalt zu vermeiden. Die letzte öffentliche Aktion fand 2012 statt: Aktivist*innen fuhren mit Plakaten und Regenbogenfahnen in Straßenbahnen durch die Stadt.

Für die achte Minsk Pride am 2. Oktober 2012 mieteten die Organisator*innen eine eigene Straßenbahn und dekorierten sie mit bunten Ballons und Regenbogenflaggen. Eine Demonstration zu Fuß war zuvor verboten worden. / Foto © Zuma Press/ Imago

Die „Causa Pi“

Oleg Roshkow widerspricht einer unter Belarussen verbreiteten Vorstellung von Toleranz und betont, dass queere Menschen in Belarus nur hinter verschlossenen Türen sie selbst sein können. Im öffentlichen Raum seien sie stets gezwungen sich zu verstellen. Roshkow nennt diese Praxis „soziale Kastration“. 

„Solange man so tut, als sei man heterosexuell, wird man von der Gesellschaft toleriert, obwohl alle alles wissen. Wenn ich mich aber öffentlich zu meiner Homosexualität bekenne, folgen massive negative Reaktionen: ‚Wie kannst du es wagen, deine Homosexualität zur Schau zu stellen‘“, erklärt Roshkow.

Die vielleicht bekannteste homophobe Straftat in der Geschichte des unabhängigen Belarus war der sogenannte Fall Pi: Am 25. Mai 2014 wurde der Architekt Michail Pischtschewski nach einer privaten Party in Minsk überfallen und verprügelt. Er lag einen Monat lang im Koma, aufgrund großflächiger Hämatome mussten ihm 20 Prozent der Gehirnmasse entfernt werden. 

Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine andere, einen Menschen zu töten.

„Michails Geschichte ging mir persönlich sehr nah“, erinnert sich Roshkow. „Ich kannte ihn nicht, aber als ich von seinem Fall erfuhr, half ich seinen Eltern dabei, Geld für die Behandlung zu sammeln. Zunächst waren sie dagegen, die Sache öffentlich zu machen, aber dann arbeiteten sie mit der Presse zusammen, weil es eine Chance gab, ihn zu retten. “

Auch die Nicht-Queers leisteten in diesem Fall erhebliche Unterstützung, so Roshkow: „Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine ganz andere, einen Menschen zu töten. Viele Belarussen sahen eine Grenze überschritten, als sie diesen Fall sahen.“

Michail erlangte das Bewusstsein zwar wieder, seine Gehirnfunktionen blieben jedoch eingeschränkt. Am 25. Oktober 2015 starb er an einer Hirnhautentzündung.

Verstaatlichte Homophobie

Roshkow bewertet den Angriff auf Pischtschewski als Signal für alle LGBTQ* Menschen, denn jede*r von ihnen hätte an seiner Stelle sein können. Dennoch sei Queerfeindlichkeit lange Zeit nicht institutionalisiert gewesen. So waren in Minsk queere Partys durchaus erlaubt, auch wenn sie oft Razzien erlebten. Doch nach Ansicht des Experten habe es lange keine konkrete politische Entscheidung gegeben, die queere Community systematisch zu verfolgen.  

Die Trendwende fand Roshkows NGO J4T in zunehmender Hetze gegen LGBTQ* in belarussischen Staatsmedien: in der ersten Hälfte des Jahres 2020 in zehn Prozent der Veröffentlichungen, in der zweiten Hälfte bereits in 20 Prozent. Und im Jahr 2021 enthielt bereits jede vierte Veröffentlichung zum Thema LGBTQ* Hassrede.

„Es gibt in den staatlichen Medien eine Kampagne gegen die queere Community“, sagt Roshkow. „Nach unseren Maßstäben bedienen sich die Propagandisten der gröbsten Form von Hassrede.“

Wenn ich ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte ich wegen Pornografie vor Gericht kommen.

Von indirektem Druck gingen die belarussischen Behörden schließlich zu direkten Maßnahmen über: Im April 2024 verabschiedete das Kulturministerium einen Beschluss, der „nichttraditionelle Beziehungen“ mit Pornografie gleichsetzt. Und nun können die Strafverfolgungsbehörden praktisch jede Darstellung eines homosexuellen Paares oder einer trans* Person nach Artikel 343 des Strafgesetzbuchs verfolgen, der eine Strafe von bis zu vier Jahren Gefängnis vorsieht.

„Wenn ich vor fünf Jahren ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte das jetzt als Pornografie angesehen werden. Und ich könnte für die Verbreitung des Fotos vor Gericht kommen“, erklärt Roshkow.

Menschenrechtsaktivisten von Legal Initiative schreiben, dass mittlerweile sämtliche nichtheterosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen, auch wenn sie in gegenseitigem Einverständnis bestehen, als etwas Illegales interpretiert werden, was die gesellschaftliche Missbilligung und die Rechtfertigung von Gewalt gegen Queers verstärkt. 

Transition ja, Toleranz nein

Zwar ist Belarus immer noch eines der wenigen Länder, in denen nach Änderung der entsprechenden Rubrik im Reisepass eine Transition mit kostenloser Hormontherapie und chirurgischer Geschlechtsangleichung möglich ist. Voraussetzung ist allerdings das Einverständnis einer sechs- bis achtköpfigen ärztlichen Kommission. 

Trans* Personen werden dennoch diskriminiert. Menschenrechtsaktivist*innen berichteten im Jahr 2024 von den Erfahrungen des trans* Mannes Marat. Er machte die Transition und erhielt neue Dokumente. Aber seine Daten in den Geburtsurkunden seiner vier Kinder konnte er nicht ändern lassen – die Standesämter verweigerten ihm das.

Später gingen bei der Schulverwaltung anonyme Anzeigen wegen angeblicher häuslicher Gewalt ein. Marat bekam Kontrollbesuche. Bald darauf wurde er erneut vor die medizinische Kommission bestellt, wo die Genehmigung zur Transition annulliert und die Rückgabe seiner Dokumente verlangt wurde. Marat floh letztlich mit seinen Kindern nach Frankreich. 

Europäische Bürokraten sehen „keine Diskriminierung“  

Abgesehen von all dem gibt es in Belarus noch kein Verbot von „Propaganda [nichttraditioneller Beziehungen – dek.]“ wie in Russland, und die LGBTQ* Gemeinschaft ist auch nicht als „extremistische Bewegung“ eingestuft.

Aktivist*innen und Expert*innen zufolge verschlechterten sich jedoch die Aussichten für konkrete Personen. Wie Roshkow betont, sind heute alle queeren Menschen in Gefahr, da die Silowiki auch ohne solche Verbote über ein umfangreiches Instrumentarium verfügten, um jede queere Person verhaften zu können. Angesichts der allgemeinen Repression schätzt Roshkow die Situation queerer Menschen in Belarus als noch schwieriger als in Russland ein.

Dass wir kein Gesetz haben, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten.

Gleichzeitig erregt Belarus weniger Aufmerksamkeit, die dortige LGBTQ* Community erfahre wenig Unterstützung. Auf Hilfe aus dem Ausland könne man nicht zählen.

Andrej Sawalej, Koordinator der Fall-Pi-Kampagne, sieht das ähnlich: „Die Tatsache, dass wir kein Gesetz haben, das LGBTQ* Menschen (direkt) diskriminiert, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten. Aber Russen können das – sie haben das Gesetz über ‚Propaganda für nichttraditionelle Beziehungen‘, sie bekommen Asyl in Europa. Belarussische Queers leben in der gleichen Realität, aber die europäischen Beamten sagen ihnen: ‚Ihr werdet nicht diskriminiert.‘“

Queere Flüchtlinge bekommen in den meisten Fällen ein humanitäres Visum für Litauen, aber Litauen gibt ihnen nicht immer auch eine Aufenthaltsgenehmigung oder den Flüchtlingsstatus. Dies gilt insbesondere für trans* Personen, da es in Litauen selbst an notwendigen medizinischen Einrichtungen für Geschlechtsangleichung und Hormontherapie fehlt.

Die meisten queeren Menschen in Belarus haben keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Das ist ein seltenes Privileg.

Auch in anderen EU-Ländern gibt es Schwierigkeiten, einen legalen Status zu erhalten. Infolgedessen sitzen Belarus*innen in der Falle: ohne Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Leistungen und ohne Chancen auf Asyl. „Man muss bedenken, dass die meisten queeren Menschen in Belarus keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen“, erinnert Roshkow. „Das ist ein seltenes Privileg. Darum wollen sie vor allem ein normales Leben führen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen in dieser ‚neuen Normalität‘ zu helfen.“

Trotz aller Schwierigkeiten machen die queeren Aktivist*innen weiter: „Wichtig für die Community sind gemeinsame Erfahrungen, Zusammengehörigkeitsgefühl und Unterstützung. Bis vor Kurzem konnten viele Initiativen noch Offline-Veranstaltungen organisieren, aber jetzt ist das nicht mehr sicher“, sagt Roshkow. „Die Menschen wollen positive Nachrichten, interessieren sich für Lifestyle, Kultur-Events, suchen Beispiele für erfolgreiche belarussische Queers. Und praktische Informationen: Wie man als gleichgeschlechtliches Paar in Belarus eine Wohnung mietet, wie man die Geschlechterrollen in einer Beziehung verteilt, wie man toxische Beziehungen und Fake-Dates vermeidet.“

Das Schweigen der demokratischen Kräfte

Roshkow hat keinen Zweifel daran, dass Belarus irgendwann doch auch ein „Propaganda“-Gesetz verabschieden wird. In Anbetracht der bereits bestehenden Gesetze zur „Pornografie“ dürfte es jedoch nicht besonders hart ausfallen, glaubt der Experte.  Was in der Queer-Community auch aufgefallen sei, meint Roshkow, ist, dass die demokratischen Kräfte die LGBTQ* Community während der Diskussion über den „Pornografie“-Gesetzesentwurf, als parallel die mediale Hasskampagne gegen sie gestartet wurde, in keiner Weise unterstützt hätten. Eine der wenigen, die sich negativ dazu äußerten, war Olga Gorbunowa, die – mittlerweile ehemalige – Sprecherin für Sozialpolitik des Vereinigten Übergangskabinetts.

Wir machen uns keine Illusionen. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können.

Roshkow vermutet, dass in der breiten Wählerschaft von Swetlana Tichanowskaja nicht alle tolerant gegenüber der queeren Community sind. Seit die Unterstützung für Tichanowskaja schwinde, versuche sie, diese zu erhalten, indem sie „sichere Positionen“ vertritt. Es gebe keinen politischen Willen, eine kleine Gruppe zu unterstützen, wenn man riskiert, die breite Zustimmung zu verlieren. 

„Wir sollten versuchen, uns durchzusetzen und Belarus in den Medien und der Kunst wieder auf die Tagesordnung zu bringen“, sagt Roshkow. Außerdem könne man über diplomatische Kanäle arbeiten, müsse mehr an nicht öffentlichen Treffen und Verhandlungen teilnehmen. „Wir machen uns keine Illusionen, dass uns jemand unterstützen wird. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“

 
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LGBT in Russland

Lesben, Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle werden diskriminiert, überall sehen sie sich mit aggressiver Homophobie konfrontiert. Doch die LGBT-Szene existiert weiter und organisiert sich – auch nachdem ein restriktives Gesetz gegen sogenannte „homosexuelle Propaganda“ in Kraft getreten ist. Der Weg führt sie ins Internet – Ewgeniy Kasakow gibt einen Einblick in Geschichte und Organisationsformen der LGBT-Community in Russland. 

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LGBT in Russland

Am 27. Mai 1993 begann für Homosexuelle ein neues Kapitel in Russland. Der Paragraph 121.1 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Kontakte zwischen Männern mit einer Gefängnisstrafe bis zu sieben Jahre ahndete, wurde abgeschafft. Damals existierte im Land bereits eine zunehmend nach Öffentlichkeit suchende LGBT-Bewegung. Die Entkriminalisierung ermöglichte es ihr, ihre Interessen zunehmend öffentlich zu vertreten und wahrgenommen zu werden1. Die öffentliche Resonanz war in großen Teilen indes negativ – bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Zuge der Annahme des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahr 2013 – das sogenannte „Verbot der Propaganda nichttraditioneller sexueller Orientierungen unter Minderjährigen“ – heizte sich die homophobe Atmosphäre im Land spürbar auf und zwang die LGBT-Szene erneut ins Verborgene: nun findet der Austausch vielfach fernab der breiten Öffentlichkeit seinen Raum, darunter in den Nischen des Internets.

Die erste Schwulenorganisation, das Leningrader Guy-Laboratorium um Alexander Saremba entstand bereits 19842 – wurde jedoch schnell zerschlagen. Die erste Lesbenorganisation der Sowjetunion – Klub der unabhängigen Frauen – wurde ebenfalls noch vor der Perestroika in Leningrad (dem heutigen St. Petersburg) gegründet. Während die Abschaffung des Straftatbestandes aus Paragraph 121.1 noch in weiter Ferne schien, existierte der Klub verdeckt und wurde von Behörden zumindest toleriert. Die Zeiten änderten sich schnell. Die Zeitung Tema, die 1989 von LGBT-Aktivist Roman Kalinin ins Leben gerufen wurde und sich den Problemen der männlichen Homosexuellen widmete, konnte bereits während der Perestroika verbreitet werden und wurde von staatlicher Seite geduldet. Gemeinsam mit Jewgenia Debrjanskaja, Ex-Ehefrau von Alexander Dugin, gründete Kalinin 1990 die Assoziation der sexuellen Minderheiten mit dem Ziel, den Paragraph 121.1 abzuschaffen und eine umfassende Gleichstellung für Männer und Frauen zu erlangen3. So gab es noch vor der Entkriminalisierung im Jahr 1993 einen regelrechten Gründungs-Boom von neuen Organisationen, Medien und Klubs. Und mit der Legalisierung erlebte die höchst fragmentierte Szene einen weiteren Schub, Optimismus verbreitete sich.

Doch verflog diese Euphorie der ersten LGBT-Stunde im Verlauf der 1990er Jahre: Interessenvertretungen spalteten sich, viele Aktivisten der Gründungsphase zogen sich zurück und wendeten sich kommerziellen Projekten zu, etwa als Klubbetreiber. Mit der Finanzkrise 1998 wurden die meisten Print-Formate, in denen sich die Szene austauschen konnte, vorerst eingestellt.

Die Politik setzte kaum Signale für den Minderheitenschutz: So wurden die nach sowjetischem Strafrecht verurteilten Homosexuellen nie rehabilitiert, geschweige denn entschädigt. Erst 1999 wurde Homosexualität nicht mehr als „Krankheit“ eingestuft und von einer entsprechenden offiziellen Liste gestrichen. Am gesellschaftlichen Klima änderte das wenig: Laut Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums hielten im Jahr 2013 immer noch 43 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch verwerflich, 35 Prozent für eine Krankheit – an diesen Zahlen hat sich seit Beginn der Untersuchung im Jahr 1998 kaum etwas verändert.4

Konservativer Rollback?

Zwar gab es in den 2000er Jahren Schritte zur rechtlichen Gleichstellung in der Gesellschaft. So wurde 2008 zum Beispiel das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer aufgehoben – eine diskriminierende Praxis, deren Abschaffung westeuropäische LGBT-Verbände seit Jahren von der EU einfordern. Auch konnten sich in der Öffentlichkeit erneut Magazine etablieren: die 2003 gegründete und erfolgreiche Zeitschrift Kwir, aus demselben Verlagshaus kam die 2006 gegründete Lesbenzeitung Pinx.

Die Situation war jedoch stets durch forcierte Versuche geprägt, die gerade erst wieder erlangten Rechte erneut zu beschneiden. Auf der regionalen Ebene gab es seit dem Jahr 2006 bereits einzelne Gesetze, die das spätere, landesweit gültige Gesetz gegen  „homosexuelle Propaganda“ vorwegnahmen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen hatten die Hardliner in der Duma damit schließlich 2013 Erfolg5: Dem neuen, landesweit gültigen Gesetz nach ist es seitdem verboten, in Gegenwart von Minderjährigen „nicht-traditionelle Beziehungen“ zu propagieren. Der Begriff Propaganda wird in dem Gesetz bewusst unscharf gehalten.

Bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet – Foto © Maria Komarowa/flickr.com

Wie es zur Anwendung kommen kann, zeigt besonders eindrücklich das Beispiel des 2013 gegründeten Internet-Projektes Deti-404 (dt. „Kinder-404“): Es widmet sich der Beratung von Kindern und Jugendlichen. Da die Macher des sogenannten Anti-Propaganda-Gesetzes aber gerade diese Zielgruppe vor Homosexualität „beschützen“ wollen, ist das Projekt vielen Hardlinern ein Dorn im Auge.6 Die Medienaufsicht hat das Portal zensiert, danach ist es auf eine neue Internet-Adresse umgezogen, außerdem laufen Gerichtsprozesse. Erst im Oktober 2016 drohte die Medienaufsicht nach Angaben der Seitenbetreiber wieder mit einer Websperre wegen offiziell verbotener Inhalte. Vor Kurzem nun starteten einige der Initiatoren von Deti-404 ein ähnliches Projekt: Der Sitz des Video-Portals Illuminator.info ist außerhalb Russlands und damit außer Reichweite der Behörden. Es richtet sich aufklärerisch mit Interviews von Fachexperten an ratsuchende Eltern.

Rückzug aus dem Offline-Leben

Die Anzahl von Online-Ressourcen der LGBT-Community wächst. Bereits seit 1996 hält sich zum Beispiel das Portal Gay.ru. Im darauffolgenden Jahr nahm auch die erste lesbische Seite VolgaVolga Anlauf. Nach der Fusion mit Kwir spaltete sich ein Teil von VolgaVolga als eigenständiges lesbiru.com-Projekt davon ab. Viele andere neue Projekte wurden zu einem Teil der Community, viele lokale Seiten entstanden und bemühen sich, neben solchen Platzhirschen wie zum Beispiel Gayly.ru (das seit 2001 besteht), um Nutzer.

Diese Portale und Formate sorgen in der Community für Vernetzung, bieten häufig auch Hilfe und Beratung. Der überregionale Dachverband Russian LGBT network versucht nach Kräften, die einzelnen Bemühungen zu koordinieren. Die Hauptlast der Beratungsarbeit tragen aber regionale Organisationen, wie zum Beispiel Rainbow Syndrome aus Rostow oder Wyhod aus St. Petersburg – eine NGO, die 2008 als erste LGBT-Organisation Russlands ihre formelle Gründung ohne eine Gerichtsklage erwirken konnte.

Ein Teil der Community wandert aus Russland aus und organisiert sich im Ausland, so wie beispielsweise im deutschen Verein Quarteera. Ein anderer Teil stellt angesichts öffentlicher (zum Teil organisierter) Anfeindungen und Prügelattacken solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie Pride Parades ein. Schließlich gibt es immer noch Aktivisten, die unerschrocken auf die Straße gehen. So mischen sie sich beispielsweise unter die Teilnehmer von offiziellen Feierlichkeiten zum 1. Mai, bilden Gruppen bei Demonstrationen und bekunden dabei ihren Protest gegen die Homophobie. Am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie, finden landesweit Flashmobs statt. Andere Aktionen sind zum Beispiel der St. Petersburger LGBT International Film Festival Side by Side, oder die alljährlich Anfang April stattfindende Woche gegen Homophobie. Tendenziell ist aber eine Verlagerung der aktivistischen Arbeit ins Internet zu beobachten.

Viele Printerzeugnisse wurden zum Ende der 2000er Jahre eingestellt oder verlagerten ihr Angebot ins Internet. Die Digitalisierung und eine Art Zeitungssterben können hier genauso als Gründe genannt werden, wie die fortschreitende Marginalisierung von LGBT-Personen und die Tabuisierung von LGBT-Themen. Pinx musste alsbald genauso schließen wie die 2013 gegründete Hochglanzzeitschrift Agens für Lesben. Kwir gibt es nur noch online, daneben bleiben nur einige wenige Printerzeugnisse.7


1.Gessen, Mascha (1993): Prava gomoseksualistov i lesbijanok v Rossijskoj Federacii: Otčet komissii po pravam čeloveka dlja gomoseksualistov i lesbijanok, San Francisco
2.Kon, Igor (1997): Seksualnaja kultura v Rossii: Klubnička na berezke, Moskau, S. 356
3.Gay.ru: Roman Kalinin: „Ja byl pervym otkrynym gomoseksualom“
4.Zahlen von 1998 bis 2013 auf Levada.ru: Občšestvennoje mnenie o gomoseksualistach
5.Ria.ru: Putin podpisal ukaz o zaprete gej-propagandy sredi detej
6.Zona.media: Verchovnyj sud ne stal otmenjat štraf osnovatelnice soobščestva „Deti-404“
7.Als Printerzeugnisse mit nennenswerter Reichweite blieben zum Beispiel die seit 2005 in Moskau erscheinende Zeitschrift Best for und die in Nowotscherkassk erscheinende Mens-GID bestehen – Magazine, die sich an den männlichen Teil der Community wenden.
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)