Oppositionspolitiker Alexej Nawalny darf bei der Präsidentschaftswahl im März 2018 nicht kandidieren und hat zum Wählerstreik aufgerufen. An Xenia Sobtschak, die erklärt hat, Kandidatin gegen alle zu sein, scheiden sich die Geister: Ist sie am Ende eine Marionette des Kreml, angetreten, um die liberale Wählerschaft zu spalten?
So oder so: Was Nawalny grundlegend von Sobtschak unterscheidet, obwohl sich ihre Positionen ähneln, und welche Möglichkeiten ein kritischer Wähler im März sonst noch hat – das analysiert Politologe Alexander Kynew auf Republic.
Es scheint so, als wären die Wahlkampagnen von Nawalny und Sobtschak quasi identisch. Tatsächlich aber unterscheiden sie sich sehr und ziehen völlig unterschiedliche Folgen nach sich.
Worum geht es in Nawalnys Kampagne? Nawalny ist zweifellos ein Mensch mit demokratischen Ansichten, er ist bestrebt, mit den Menschen in der Sprache zu sprechen, die die Mehrheit versteht und zwar über das, was diese Mehrheit anzuhören bereit ist. Er übersetzt den liberalen Diskurs in eine für die Mehrheit verständliche Sprache und führt Beispiele an, die jeweils für sich genommen überzeugend sind – im Prinzip schafft er eine Synthese von Freiheit und Gerechtigkeit. Denn sein zentrales Thema – der Kampf gegen Korruption – entspricht im Grunde dem Thema soziale Gerechtigkeit, nur knackig und anschaulich serviert.
Die Sprache der Mehrheit
Ob er auch auf andere Bürgerrechte Wert legt, auf freie Religionsausübung und so weiter und so fort? Bestimmt, und kaum jemand bezweifelt das. Nur orientiert er sich an einem breiten Auditorium, wenn es darum geht, die Probleme zu gewichten. Er versucht, mit dem Übertragen des liberalen Diskurses in die „Sprache der Menschen“ eine neue Mehrheit zu schaffen. Genau deswegen ist er für die gegenwärtige Staatsmacht eine Bedrohung.
Alles, was bei Nawalny die Grundlage für sein Image und sein politisches Programm bildet, kommt bei Sobtschak entweder gar nicht vor oder nur irgendwo am Rande. Und umgekehrt: Das, was bei Nawalny zwar implizit ist, im Kampf um die Wählermassen aber keine Rolle spielt, ist in Sobtschaks Kampagne ein Hauptanliegen. Ob die Krim uns gehört oder nicht, europäische Werte, Sanktionen gegen Russland, Legalisierung leichter Drogen, LGBT-Rechte, Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens und so weiter – das alles sind natürlich wichtige Fragen. Doch aus der Sicht des einfachen Bürgers stehen sie nicht an erster oder zweiter und nicht mal an dritter Stelle.
Mobilisierung einer Minderheit
Weil sie Probleme anders hierarchisiert und weil die Kandidatin ein anderes Image hat, ist die an sich ähnliche Kampagne Sobtschaks nicht dazu geeignet, eine neue Mehrheit zu erzeugen, sondern nur dazu, eine Minderheit zu mobilisieren. Wobei dieser Effekt durch die geringe Beliebtheit der Kandidatin verstärkt wird.
Wie unterscheiden sich die Folgen dieser beiden Strategien, der Erzeugung einer neuen Mehrheit (bei Nawalny) und der Mobilisierung einer ultraliberalen Minderheit (bei Sobtschak)?
Die Strategie der neuen Mehrheit ist immerhin ein realer Kampf um die Macht – Macht, zumindest was [einen hypothetischen – dek] politischen Einfluss im Parlament angeht. Und sie ist eine Chance, die gesellschaftliche Evolution durch Schritte voranzutreiben, die die Menschen zu verstehen und anzunehmen bereit sind.
Kampf um die Macht versus Wähler-Ghetto
Die Strategie der Mobilisierung einer Minderheit bedeutet, dass auf sehr lange Sicht kein realer Einfluss auf die Machthaber zu erwarten ist, ganz zu schweigen von einer Chance, sie abzulösen. Im Grunde ist es ein Kampf für das Recht auf ein ruhiges Leben im Wähler-Ghetto, es ist eine Strategie der langfristigen politischen Aufklärung und ein Versuch, die Gesellschaft allmählich an die Existenz und Akzeptanz eines liberalen Diskurses zu gewöhnen – in der Hoffnung, sie würde sich von selbst schrittweise weiterentwickeln.
Auch wenn sich also die Positionen in vielen Fragen ähneln, sind die Aussichten in realita völlig unterschiedlich. Die zweite Strategie zu wählen, würde für Anhänger der ersten nicht bedeuten, „quasi Gleichgesinnte“ zu unterstützen – es wäre eine Kapitulation und ein Eingeständnis, auf Ambitionen und Kampfgeist zu verzichten. Und genau so wird das auch benutzt werden. „Quasi dasselbe“ zu unterstützen, wird sich als Falle erweisen.
Nawalny: kein Ritter im weißen Gewand
Nawalny als Ritter im weißen Gewand zu bezeichnen, ist sicher auch nicht angebracht.
In verschiedener Hinsicht kann man ihn kritisieren, vor allem für seinen fehlenden Teamgeist: Im Prinzip wurde nichts unternommen, um anderen oppositionellen Kandidaten zu helfen, sei es bei den Wahlen zum Moskauer Stadtrat 2014, zur Staatsduma 2016 oder bei den Moskauer Kommunalwahlen 2017. Die offenbar gut organisierten Mitarbeiter Nawalnys sind heute praktisch das einzige funktionsfähige regionale Netzwerk eines führenden demokratischen Politikers.
Stimme „gegen alle“ gibt es nicht
Vielleicht ändert sich diese Situation in der Zukunft, aber derzeit unterstützen Sie bei den bevorstehenden Wahlen, wenn Sie eine der beiden genannten Strategien wählen, auch den Trend, der die Demokratiebewegung weiterhin dominieren wird. Eine Stimme „gegen alle“ gibt es bei diesen Wahlen nicht. Das ist eine Illusion. Sie unterstützen (oder auch nicht) einen ganz konkreten Politiker und mit ihm die Strategie, die er verkörpert. Das Ergebnis derer, die an der Macht sind, werden Sie bei solchen Wahlen fast nicht beeinflussen, das Schicksal der Demokratiebewegung jedoch durchaus.
Also, wenn Sie für ein kleines liberales Ghetto und Versuche einer schrittweisen Aufklärung sind, dann ist Ihre Kandidatin Xenia Sobtschak. Andernfalls haben Sie gleich drei Möglichkeiten: beim „Wählerstreik“ mitzumachen; Stimmzettel zu verschandeln oder mitzunehmen; oder aber „für jeden anderen Kandidaten“ zu stimmen, der chancenlos, aber unschädlich ist (wie Jawlinski und Titow).