Medien

Debattenschau № 49: Nawalny und die Macht der Straße

Es waren auffällig viele junge Leute: Teenager und Schüler. Manche hatten ihre Gesichter grün bemalt, manche hielten Schildchen mit Badeenten darauf in die Höhe. Und sie waren fast überall: nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in Jekaterinburg, in Nowosibirsk, in Wladiwostok und vielen weiteren Städten in den russischen Regionen. Beobachter sprechen von den größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/2012.

„Ich vermute, auch Putin und Nawalny sind verblüfft vom Ausmaß der Anti-Korruptions-Proteste“, twitterte Spiegel-Korrespondent Christian Esch am Sonntag aus Moskau. 

Oppositionspolitiker Alexej Nawalny war es, der zu den Protesten aufgerufen hatte. Zuvor hatte sein Fonds für Korruputionsbekämpfung (FBK) einen Bericht über Premier Medwedew veröffentlicht. Das Video auf Youtube hat nach dreieinhalb Wochen derzeit über 12,5 Millionen Klicks. 

Bei den Protesten am Sonntag griff die Polizei durch, zumal die Demonstrationen meist nicht von den örtlichen Behörden genehmigt worden waren: Allein in Moskau gab es laut Menschenrechtlern rund 900 Festnahmen, die Polizei spricht von etwa 500. Jugendliche filmten noch aus Polizeiwagen heraus, die Videos wurden über das Internet verbreitet.

Auch Nawalny selbst war während der Proteste am Sonntag in Moskau verhaftet worden, wurde am heutigen Montag dem Richter vorgeführt und zu einer Strafe von 20.000 Rubel [rund 320 Euro] verurteilt. Außerdem muss er für 15 Tage in Haft.

Auftrieb für die Proteste dürfte außerdem auch der Videomitschnitt einer Diskussion über Nawalny und andere politische Themen zwischen Schülern und Lehrerinnen in der Oblast Brjansk gegeben haben. Das Video, von Nawalnys Wahlkampfteam vergangene Woche im Netz verbreitet, wurde zum Hit, die selbstbewussten Schüler zu „Helden des russischen Internets“. 

Ein ereignisreiches Wochenende, und nicht nur in Russland: In Belarus, wo seit Wochen protestiert wird, griff die Staatsmacht am Samstag durch. Hunderte wurden verhaftet, die Polizei ging teilweise sehr brutal gegen die Demonstrierenden vor. 

Während russische Staatsmedien kaum berichten und die landesweiten Proteste darin weitgehend marginalisiert werden, kommentieren vor allem unabhängige Medien: Nawalny, der Retter Russlands? Frühlingserwachen der russischen Zivilgesellschaft? Was wird bleiben von den Protesten?

Quelle dekoder

Moskowski Komsomolez: Putin ist in der Pflicht

Das Massenblatt Moskowski Komsomolez sieht Wladimir Putin nun vor großen Herausforderungen:

Deutsch
Original
Der Präsident trägt in unserem Land die komplette Verantwortung. Er ist unmittelbar verpflichtet, seine Untergebenen bei der Stange zu halten. Am Vorabend der Wahlen vom 26. März 2000 erklärte WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin – dek] den Bürgern in einer TV-Sondersendung: „Wir wählen einen Präsidenten, der dazu verpflichtet ist, dem Land wieder zu Ansehen zu verhelfen.“ Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews, die bislang ohne befriedigende Antwort geblieben sind, haben zwar kaum das Ansehen unseres Landes beeinflusst, haben aber das Ansehen der russischen Machthaber eindeutig ruiniert. Mal sehen, ob Wladimir Putin das wieder aufbessern kann.
Президент в нашей стране отвечает за все. Держать в тонусе своих подчиненных – это прямая обязанность Владимира Владимировича Путина. Накануне выборов 26 марта 2000 года ВВП заявил в специальном телевизионном обращении к гражданам: “ Мы выбираем президента, чья обязанность – вернуть стране ее престиж”. Оставшиеся пока без содержательного ответа обвинения Навального в адрес Медведева вряд ли повлияли на престиж страны, но вот престиж российской власти они точно уронили. Посмотрим, сумеет ли Владимир Путин вновь его поднять.

 

erschienen am 26.03.2017

Kommersant: Der Kreml hat die Wahl  

Auch Stanislaw Kutscher schaut in der Tageszeitung Kommersant auf die mögliche Reaktion des Kreml – und sieht es dabei als entscheidend an, wen mögliche Strafmaßnahmen treffen werden:

Deutsch
Original
In der Bevölkerung herrscht ein klares Bedürfnis, gegen die Korruption anzukämpfen – das zu ignorieren ist unmöglich. Deswegen wäre meines Erachtens die klügste Reaktion seitens der Regierung, erneut eine demonstrative Antikorruptionskampagne loszutreten.

Kurz gesagt, der Kreml hat die Wahl, und die lautet ganz einfach: Wer wandert ins Kittchen?

Запрос общества на борьбу с коррупцией очевиден, игнорировать его невозможно, а потому самым умным ответом – на мой взгляд – была бы очередная демонстративная антикоррупционная кампания со стороны самой власти.

Итак, если коротко, повторю, у Кремля есть выбор, и формулируется он просто: кого сажать?

 

erschienen am 27.03.2017

Republic: Ein Teufelskreis

Für Oleg Kaschin dagegen scheint klar, dass auch die neue Generation der Protestierenden nichts ausrichten kann. Auf auf dem unabhängigen Portal Republic schreibt er:

Deutsch
Original
Völlig verständlich ist der Enthusiasmus derer, die den vereinten Protest vor fünf Jahren genug beweint haben und jetzt plötzlich die neuen Gesichter auf der Twerskaja entdeckt haben. Ein Generationenwechsel dieser Art allerdings, bei der jede vorige Generation die nächste anschaut und hofft, ihr möge das gelingen, was den Älteren nicht gelang – das ist ein klassischer breit angelegter Entwicklungsweg, der beinahe garantiert, dass irgendwann zur Hälfte der nächsten Amtszeit Putins schon eine neue Jugend antreten wird. Und die, die heute auf der Twerskaja waren, werden ihnen zuschauen mit genau den Hoffnungen, mit denen die ehemalige Bolotnaja-Bewegung auf die heutigen Teenager schaut. Es mutet an wie ein Teufelskreis, was sich da gerade hinter neuen Gesichtern verbirgt, die aber sowieso nichts erreichen werden. [...]

Demokratien vermeiden ihr Zerbersten mithilfe von Machtwechseln. Der russische Autoritarismus (lässt er sich noch mit einem anderen vergleichen?) vermeidet das Zerbersten, indem er alle fünf Jahre die Teilnehmer auf Protestkundgebungen auswechselt.

Понятен энтузиазм тех, кто успел оплакать слитый протест пять лет назад и вдруг увидел новые лица на Тверской. Но смена поколений в таком формате, когда каждое предыдущее поколение смотрит на новое и надеется, что у него получится то, что не получилось у старших – это классический экстенсивный путь развития, почти гарантирующий, что где-нибудь к середине следующего путинского срока придет уже новая молодежь, а те, кто был сегодня на Тверской, будут смотреть уже на нее с той же надеждой, с которой бывшая Болотная смотрит на тинейджеров сегодня. Ощущение замкнутого круга прячется теперь за новыми лицами, но все равно никуда не девается.
[...] 
Демократии избегают взрыва с помощью ротации власти. Российский авторитаризм (и с кем его здесь сравнить?) избегает взрыва с помощью ротации людей на протестных митингах раз в пятилетку.

 

erschienen am 27.03.2017

Colta: Korruption ist der Zündstoff

Jegor Sennikow sieht auf colta.ru die Korruption als Zündstoff und gleichzeitig als Klammer, die viele im Land vereint:

Deutsch
Original
Vergessen darf man allerdings auch nicht, dass das Thema Korruption als Zündstoff für die heutigen Proteste gedient hat, und dies gänzlich vom Zettel zu streichen wäre falsch. [...]

Zu irgendeinem Zeitpunkt wurde vielen klar, dass du zwar gleichzeitig die Spielregeln beachten und den vorgesehenen Abläufen folgen kannst, aber als Reaktion erntest du weder aufrichtiges Mitgefühl noch das geringste bisschen Gerechtigkeit, auch in der Rechtsprechung. Das alles ist so durchsichtig, dass es sowohl Schüler verstehen, die von ihren Lehrern bearbeitet werden, als auch Rentner, die das Fernsehen bearbeitet. [...] 
Ganz sicher ist jedoch, dass in Russland – und zwar nicht nur in Moskau und Petersburg – eine neue gesellschaftliche Bewegung herangereift ist.

Но нельзя забывать и то, что коррупционная тема послужила запалом сегодняшних протестов — и скидывать ее со счетов целиком совсем не стоит. [...] В какой-то момент многим стало понятно, что ты можешь играть по правилам и следовать установленным процедурам, но в ответ ты не дождешься ни искреннего сочувствия, ни хотя бы условной справедливости и правосудия. Символ этот такой зримый, что понятен и школьникам, обрабатываемым своими учителями, и пенсионерам, обрабатываемым телевизором. [...]
[Но] о чем можно говорить сегодня совершенно точно, что в России — а не только в Москве или в Петербурге — вызрело какое-то новое общественное движение.

 

erschienen am 26.03.2017

Komsomolskaja Prawda: Vorsicht Falle!

Die regierungsnahe Komsomolskaja Prawda warnt vor der Teilnahme an den ungenehmigten Protestaktionen:

Deutsch
Original
Ganz offensichtlich war es kein friedlicher Spaziergänger, der den Polizisten geschlagen hat. Wahrscheinlich war es ein Aktivist aus dem Lager, das zu der illegalen Demonstration aufgerufen hatte. Der Täter konnte untertauchen, nun wird er anhand von Bildern der Überwachungskameras gesucht.

Das ist die Lektion für alle, die auf nicht genehmigte Demos gehen: Leute, vielleicht steht ihr einfach nur da und seid ganz friedlich. Aber man kann euch leicht in eine Falle locken und in Krawalle hineinziehen.

И бил полицейского явно не мирно гуляющий прохожий. Наверняка это был активист из лагеря тех, кто собирал незаконный митинг. Он успел скрыться, его ищут по изображениям с камер наблюдения...
И это урок тем, кто выходит на несанкционированные шествия — ребята, вы, может, и будет просто стоять, никого не трогая. Но вас могут легко подставить, втянуть в беспорядки.

 

erschienen am 26.03.2017

Echo Moskwy Blog: Nawalny fehlt ein Plan

Kristina Potuptschik, bis 2012 Pressesprecherin der Jugendorganisation Naschi, galt für viele als die Personifizierung der sogenannten Kreml-Blogosphäre. Seit einigen Jahren hört man von ihr gemäßigte Töne. Auf ihrem Echo-Blog kann sie der oppositionellen Euphorie nur wenig abgewinnen:

Deutsch
Original
Sehr viele Jugendliche waren da, Schüler von gestern und heute. Der wichtigste Ort war Piter und nicht Moskau. Das sind die Hauptunterschiede zu Bolotnaja. Außerdem gab es damals nach den Protesten dieses deutliche Empfinden: Es passiert etwas. Das fehlt diesmal. [...] Nawalny steckt in einer misslichen Lage: Die Menschen haben sich getroffen, sind wieder auseinandergegangen, und dann? Nichts. Nawalny hat dem Protest nichts anzubieten, kein Programm und keinen Handlungsplan. Und das begreifen sogar die Schüler.
Очень много молодежи, вчерашних и нынешних школьников. Главным городом стал Питер, а не Москва. Эти же пункты — главные отличия от Болотки. А еще то, что тогда после протестов было четкое ощущение — что-то Происходит. Сейчас такого ощущения нет. [...] И Навальный сейчас в ситуации крайне неудачной — ну погуляли, ну разошлись, а дальше что? А дальше — ничего. Предложить Навальный протесту ничего не может, программы и плана действий у него нет, и понимают это даже школьники.

 

erschienen am 26.03.2017

Facebook Alexander Morosow: Geschichte geschrieben

Der renommierte Politologe Alexander Morosow dagegen zollt auf seinem facebook-Account dem umstrittenen Oppositionspolitiker Nawalny allen Respekt: 

Deutsch
Original

Wie auch immer das alles ausgeht – die heutige Aktion in 80 Städten wird in die politische Geschichte Russlands eingehen. So viel  ist bereits klar. [...]

Drei Jahre schon publiziert Nawalny Anti-Korruptions-Materialien. Mit dem Beginn seiner spielerischen Wahlkampagne und nun dem Video über Dimon hat Nawalny ordentlich politisch Kapital geschlagen. Er ist ohne jegliche Übertreibung ein großer Zeitgenosse. Gehörigen Respekt verschaffen ihm sein Verstand, seine Beharrlichkeit und seine geniale Medienkompetenz.

Чем бы это все не закончилось, но сегодняшняя акция в 80 городах войдет в политическую историю РФ . Это уже ясно. [...]
Трехлетнюю историю антикоррупционных публикаций Навальный мощно капитализировал одним роликом про димона и началом своей игровой президентской кампании. Он без всякого преувеличения великий современник. Вызывают огромное уважение его ум, упорство и медиа-гениальность.

 

erschienen am 26.03.2017

Facebook Batscho Kortschilawa: Ukraine als Vorbild

Batscho Kortschilawa ist ehemaliger Presseattaché der georgischen Botschaft in der Ukraine. Auf seinem facebook-Account kommentiert er die Proteste in Russland und Belarus, dabei schreibt er der Ukraine eine wichtige Rolle zu:

Deutsch
Original
Werden die aktuellen Demonstrationen in Russland und Belarus irgendetwas verändern? In den nächsten Jahren nicht. Weil Derartiges dort regelmäßig passiert, aber ohne jedes Ergebnis.

Wisst ihr, warum ich nicht daran glaube, dass sich in den beiden Ländern – besonders in Russland – aktuell irgendwas verändern wird? Ganz einfach: Weil dort bisher Positiv-Beispiele im großen Maßstab fehlen. Die baltischen Länder und Georgien können hier nicht als Vorbild dienen. Aber falls die Ukraine zu einem entwickelten, wirtschaftlich starken, stabilen und demokratischen europäischen Staat werden sollte, könnte sie nicht nur zum Vorbild, sondern auch zum Impuls für große Veränderungen werden. Und erst dann wird es zu einer Demontage der derzeitigen Regimes in Belarus und Russland kommen. Aber in der gegenwärtigen Lage braucht ihr nicht zu erwarten, dass sich dort irgendetwas verändert.

Veränderungen in der gesamten Region werden von der Ukraine ausgehen und nicht anders. Und falls solche Veränderungen beginnen, dann wird die UKRAINE zum echten Anführer der Region. 

Изменят ли что то в России и Белорусии митинги которые проходят? В ближайшие годы нет. Потому что такое переодически там происходит, но не имеет никакого результата. 
Знаете почему я не верю в то что сейчас в этих двух странах, а особенно в России может что-то изменится? Ответ прост - у них нет пока положительного примера в большом масштабе. Страны Балтии и Грузия для них примером служить не может. А вот пример Украины, если она сможет стать развитым, экономически сильным, стабильным и демократическим европейским государством, сможет послужить не только примером, но и импульсом к большим изменениям. И только тогда произойдёт демонтаж тех режимов, которые сейчас в Белорусии и России. 
А пока так как есть, не ждите что там что-то изменится. Изменения во всем этом регионе начнутся с Украины, и никак по другому. А если такие изменения начнутся, то УКРАИНА станет реальным лидером региона.

 

erschienen am 26.03.2017

dekoder-Redaktion

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Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.

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Alexej Nawalny

„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)