Es ist ein kleiner Stimmungstest, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl: Rund 40 Millionen Wahlberechtigte waren vergangenes Wochenende aufgerufen, an den Regional- und Kommunalwahlen teilzunehmen. In 16 von 82 Regionen wurde auch der Gouverneur gewählt.
Allerdings: Die Wahlbeteiligung an dem Termin kurz nach den Sommerferien ist traditionell gering, auch diesmal lag sie nach vorläufigen Ergebnissen bei insgesamt nur knapp 29 Prozent. In Moskau, wo Stadtrat und Bezirksräte gewählt wurden, kam gar der Verdacht auf, sie sei gewollt niedrig: Es gab kaum Wahlwerbung, auch die staatlichen Medien berichteten nicht.
Wie erwartet hat die Regierungspartei Einiges Russland in den meisten Regionen die meisten Stimmen bekommen. Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos nannte außerdem mehr als 1500 Verstöße.
Und dennoch gibt es Überraschungen: Ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl verzeichneten oppositionelle und unabhängige Kandidaten landesweit Achtungserfolge. Besonders sichtbar sind diese Erfolge in Moskau, wo die Opposition, vor allem die Wahl-Koalition rund um Dimitri Gudkow, in 62 Bezirken der Stadt insgesamt 266 Sitze holte – von insgesamt 1502 Sitzen in 125 Bezirken. Zwar sind Einfluss und Machtfülle der Bezirksabgeordneten eher gering. Gleichwohl haben sie in begrenztem Rahmen dennoch die Möglichkeit, Druck aufzubauen.
Die System-Opposition dagegen verlor so viele Sitze, dass einige Beobachter schon von einer Krise innerhalb des Systems Putin sprechen. Manche sehen in lokalen Wahlsiegern wie Gudkow oder dem Solidarnost-Politiker Ilja Jaschin gar eine oppositionelle Alternative zu Oppositionspolitiker Alexej Nawalny – der Gudkow nicht einmal gratuliert hatte.
All dies, meint Politologe Alexander Kynew auf Vedomosti, sagt eine Menge aus über die gesellschaftliche Stimmung und den Zustand des politischen Systems – ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen. Kynew identifiziert drei wichtige Punkte:
Die Ergebnisse der Wahlen vom 10. September waren vor allem eines – ein Indikator für die Stimmungen in der Gesellschaft. Sie zeigten auch, wie die Gesellschaft auf die Polittechnologien reagiert, die von der Regierung eingesetzt werden. Darüber hinaus sagen die Ergebnisse eine Menge über den Zustand des politischen Systems aus und über den Zustand des Parteiensystems. Und sie stecken für eine Reihe konkreter Führungsfiguren die Optionen für die Zukunft ab.
Punkt eins. Der Ausgang der Wahlen zeigt vor allem einen Triumph derjenigen Kräfte, die nicht von dem politischen Parteiensystem abhängen.
Die wichtigsten und unerwarteten Wahlsieger waren unabhängige Kandidaten: So bei den Wahlen zur Stadtduma in Bolschoi Kamen (Region Primorje) – hier setzten sich 18 freie Kandidaten durch, außerdem zwei von Einiges Russland sowie jeweils einer von den Kommunisten und von Gerechtes Russland. Oder bei den Kommunalwahlen in Moskau, wo eine Vielzahl von Aktivisten Erfolge feierten.
Kandidaten des Wandels
Es stimmt zwar, dass viele von ihnen in Moskau für Jabloko angetreten waren, doch die Marke „Jabloko“ spielte im Wahlkampf bei kaum einem Kandidaten eine Rolle. Sehr viel wichtiger waren die Marken „Jaschins Team“, „Russakowas Team“ oder „Galjaminas Team“. Einige der Teams traten formal gar für unterschiedliche Parteien an. Sie präsentierten sich als Kandidaten des Wandels und als Gegner der Stadtregierung. Und dass die Parteizugehörigkeit nur bedingt etwas bedeutet, war jedermann klar.
Im Gegensatz dazu fielen die Ergebnisse der im Parlament vertretenen Parteien der System-Opposition höchst bescheiden aus. Sie werden von den progressiveren und gebildeteren Moskauer Wählern vielfach nicht mehr als echte Opposition wahrgenommen.
Punkt zwei. Die Wahlen haben erneut gezeigt, dass sich ein Wahltermin Anfang September zerstörerisch auf die Qualität des Wahlkampfes und die gesellschaftliche Legitimität der Wahlen auswirkt.
Die Strategie, die Wahlbeteiligung erodieren zu lassen, ist eine Sackgasse. Versuche, die niedrige Wahlbeteiligung mit Administrativen Ressourcen zu kompensieren oder Wähler mit Gewinnspielen und Lotterien förmlich zu bestechen, sind ins Leere gelaufen. Im Endeffekt erscheinen so nur die Leute, die auch dorthin beordert werden. Die tatsächliche Wählerschaft nimmt dadurch kaum zu. Das ist wenig überraschend: Die Bereitschaft, auf Anordnung zu wählen, und die Bereitschaft, für einen Lottoschein zur Wahl zu gehen, zeigen schlicht, dass es an einer eigenen staatsbürgerlichen Haltung mangelt und die Wähler sich des Werts ihrer eigenen Stimme nicht bewusst sind.
Sobald da, wo es von Fakes nur so wimmelt und viele nur zum Schein antreten, jemand Echtes auftaucht, jemand, der in der Lage ist, mit einer guten Kampagne die Wähler zu mobilisieren, entgleist das ganze System. Wählerbestechung mit Hilfe von Lotterien führt lediglich dazu, dass Wahlen als Institution diskreditiert werden. Hierbei ist es unwichtig, welche Position die Regierung vertritt. In den Augen der Leute ist es Bestechung, sind das Almosen – und Versuche der Rechtfertigung diskreditieren denjenigen, der sie unternimmt. Ganz zu schweigen von den Fällen, in denen mit Hilfe mobiler Wahlurnen oder vorzeitiger Stimmabgabe an den Wahlergebnissen geschraubt wird.
Die so gewonnenen Stimmenanteile erzeugen weder Vertrauen noch verleihen sie Autorität. Diese „Lotto-Legitimität“ ist genauso ein Bonbon-Papier wie ein Lottoschein. Der einzige annehmbare Ausweg, über den sowohl die Wahlen selbst als auch das Parteiensystem saniert werden könnten, wäre ein für Wähler und Kandidaten günstiger Wahltermin. Die Regierung muss lernen, normale Wahlkämpfe zu führen – das käme auch der eigenen Qualität zugute.
Punkt drei. Die Wahlergebnisse zeigen ausgeprägte regionale Unterschiede, besonders wichtig in Moskau.
Mit ihrer Unterstützung verschiedener Oppositionskandidaten machen die Wähler eindeutig ihrer Unzufriedenheit Luft. Schließlich weiß kaum jemand in Moskau, wie überhaupt der Leiter dieser oder jener Bezirksverwaltung heißt; aber jeder kennt den Bürgermeister und dessen Mannschaft.
Die Moskauer Protestwahl vom 10. September ist vor allem ein Protest der Wähler gegen Sergej Sobjanin und dessen Politik. Die Wahlergebnisse haben die psychologische Atmosphäre in der Stadt verändert und der gesellschaftlichen Bewegung neuen Schwung und neue Energie verliehen.
Unter diesen Umständen ist nur schwer vorstellbar, wie Sergej Sobjanin ohne Lärm und Skandale überhaupt noch die direkten Bürgermeisterwahlen gewinnen soll. So muss die Zentralregierung die Bürgermeisterwahlen entweder ganz absagen (was Skandal und Risiko bedeuten würde) oder sie muss sich irgendeine andere Lösung einfallen lassen.
In Moskau geht es jetzt erst los.