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Alles auf Autopilot

Autoritär und dennoch stabil? In Teilen der Autoritarismusforschung gab es lange eine Art Grundsatz, dass die Stabilität einer politischen Herrschaft ihre demokratische Legitimität voraussetzt. Tatsächlich muss Legitimität allerdings nicht immer demokratisch begründet sein: Schon der Soziologe Max Weber schrieb, dass die politische Herrschaft auch vom Legitimitätsglauben abhängt, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. 

Bei der Frage, wie man Menschen zu einem solchen Glauben bringen kann, nennt die Autoritarismusforschung viele Beispiele: Etablierung von Feindbildern etwa, Betreiben von Personenkult, oder generell Propaganda. Auch die gezielte Steuerung von Diskursen, das Stiften von Symbolen, Sinnangeboten oder Ideologien gehört demnach zum Arsenal autoritärer Technologien zur Herstellung von Legitimitätsglauben. 

Was aber, wenn all das weitgehend wegfällt und nur noch Repressionen bleiben? Diese Frage – und Diagnose – stellt die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja kurz vor der Dumawahl im September auf Republic.

Quelle Republic
Putin beim Besuch des Internationalen Luft- und Raumfahrtsalons MAKS-2021 / Foto © kremlin.ru unter CC BY-SA 4.0

2015, als das Land auf die anstehende Dumawahl vorbereitet wurde, hatte Wjatscheslaw Wolodin, der damalige innenpolitische Chefstratege, drei Prioritäten für den Wahlkampf genannt: Legitimität, Transparenz und Wettbewerbscharakter. Der Kreml hatte dazu aufgerufen, die Konkurrenz nicht „in den Würgegriff zu nehmen“, und zu Deals der Partei der Macht [Einiges Russland – dek] mit der Systemopposition ermuntert. Von all so etwas kann heute keine Rede sein: Die Vorbereitung auf die Wahlen läuft mechanisch. Niemand befasst sich mit der Suche nach Sinnangeboten. Legitimität scheint voreingestellt, selbstverständlich, ja automatisch gegeben. Intransparenz ist niemandem peinlich, und der gesteuerte Wettbewerb mit der Systemopposition steht unter dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

Es sind die ersten Wahlen, bei denen sich die Frage der Legitimität für die Präsidialadministration eigentlich nicht stellt. Man ist dort vielmehr überzeugt, das gewünschte Resultat ohne sonderliches Aufsehen und Kampagnengetöse erzielen zu können.

Legitimität der neuen Art

Im Grunde ist die Krim an allem schuld. Just nach dem Angliederung der Halbinsel hat die russische Staatsmacht – und in vielerlei Hinsicht auch Putin persönlich – ein neues Verständnis für ihre Legitimität entwickelt. 

Hier sei – etwas vereinfacht – an die Typologie legitimer Herrschaft bei Max Weber erinnert: die traditionelle Herrschaft basiert auf Vertrauen in die Monarchie, die rational-legale Herrschaft auf Vertrauen in demokratische Prozesse und Gesetze und die charismatische Herrschaft auf Vertrauen in einen autoritären Führer. 

Während der ersten beiden Amtszeiten Putins basierte die Legitimität des Regimes auf einer Mischung aus rational-legalem und charismatischem Herrschaftstyp. Damals gründete das neue System mit seiner machtvollen Vertikale auf der charismatischen Legitimität Wladimir Putins. Dieses neue System bestand darin, die reale Opposition vorsichtig (nach heutigen Maßstäben sanft) hinauszudrängen in den außersystemischen Bereich, die Gouverneure ihrer Autonomie zu berauben und die Oligarchen politisch zu kastrieren. Der Präsident erlaubte sich zudem ein begleitendes juristisches „Tuning“ der gesamten Parteien- und Wahlgesetzgebung, der Beziehungen zwischen den verschiedenen Haushaltsbereichen sowie der Regeln für öffentliches, politisches Engagement.

Generalüberholung des Regimes

Bis 2020 waren die Möglichkeiten dieses Tunings dann allerdings ausgeschöpft: Anstelle des ständigen Nachbesserns erfolgte nun eine Generalüberholung. Das „Putinsche Regime“ wurde „verfassungsmäßig“ verankert. Und zwar sowohl im Gesetzestext (der dem Präsidenten große Machtbefugnisse verleiht, der die Gewaltenteilung verschwimmen lässt und der traditionelle Werte gesetzlich festschreibt) als auch im Geiste: Nawalny wurde vergiftet und dann ins Gefängnis geworfen, die außersystemische Opposition ist zerschlagen und die unabhängigen Medien werden mundtot gemacht.

Meritokratische Legitimität

2020 wurde zum Jahr der verfassungsrechtlichen Neuaufstellung des Post-Krim-Russland, in dem sich Legitimität nicht mehr aus dem Vertrauen der Gesellschaft speist, sondern aus dem, was Putin persönlich als seine historischen Verdienste erachtet. Das könnte man als neuen Typus von Legitimität bezeichnen, als meritokratische Legitimität: Das Vertrauen der Menschen in die Staatsmacht verliert dabei seinen objektiven Wert, es wird zu etwas rein Subjektivem, zu einem Spiegelbild dessen, wie sich das Volk in der Vorstellung der Staatsmacht selbstverständlich zu verhalten hat. Es erfolgt eine Art „Selbstheroisierung“ des Leaders, für den das Vertrauen in ihn nurmehr ein Begleiteffekt seiner exklusiven Verdienste ist – und die Krim war da nur der Anfang. Nach der Krim folgten weitere für Putin bedeutende Verdienste wie der Feldzug in Syrien (und überhaupt die Außenpolitik im Nahen Osten), die Modernisierung der Armee und neue Waffensysteme, die geänderte Verfassung und sogar der Impfstoff Sputnik V.

Durch die Selbstheroisierung ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte

Durch die Selbstheroisierung und das Messiastum ergibt sich eine Verantwortung nicht gegenüber dem Volk, sondern vor der Geschichte. Und durch seine Verdienste sieht der Präsident die Möglichkeit, jedwede unpopuläre Entscheidung zu rechtfertigen und gesellschaftliche Stimmungen als politisch unreif und kurzsichtig zu missachten. Ist es etwa Zufall, dass Putin praktisch aufgehört hat, strategische, für das Land wichtige Entscheidungen öffentlich zu erörtern (nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich)? Das, was ihm wichtig erscheint, wird von ihm im Spezialeinsatz erledigt. Alles andere wird der entpolitisierten Regierung überlassen. Putin kommuniziert mit der Bevölkerung und mit Journalisten nicht mal wie mit Jugendlichen, sondern eher auf Kindergarten-Niveau („Was man sagt, das ist man selber“ beziehungsweise die Vergleiche mit Shir Khan und dem Schakal Tabaqui aus dem Dschungelbuch).

Die Krim-Euphorie als psychologische Falle

Das Problem ist, dass die Putinsche meritokratische Legitimität ab einem bestimmten Punkt ein Eigenleben entwickelte und die legale beziehungsweise charismatische Legitimität, die mit ihr vereinbar ist und sie ergänzte, begann zusammen mit dem schwindenden Post-Krim-Konsolidierungseffekt dahinzuwelken. Kurz gesagt: Das Volk hat von der Krim-Euphorie wieder auf seine gewohnten sozialen und wirtschaftlichen Probleme umgeschaltet (und wünschte sich dasselbe auch von den Machthabern), während Putin in der psychologischen Falle der Jahre 2014 bis 2016 feststeckt, verhaftet in der Krim-Euphorie und berauscht vom Konzert in Palmyra. 

Der erste heftige Störfall war die Rentenreform [2018], die die Zustimmungswerte für das Regime um 15 Prozentpunkte abstürzen ließ. Eine Erhöhung des Rentenalters ist in jedem Land der Welt eine unpopuläre Maßnahme, doch hier ging es darum, wie sie umgesetzt wurde. Sie kam aus heiterem Himmel, noch dazu kurz nach der Präsidentschaftswahl, so dass sich die Menschen doppelt betrogen fühlen mussten – eine direkte Folge des Widerspruchs zwischen den beiden Legitimitäten. In diesem Zusammenhang frappierend war Putins Auftritt im August 2018, als er sich in Verteidigung der Rentenreform persönlich an die Bevölkerung wandte und es so klang, als ginge es darum, die Schulden für die Krim, für gesellschaftlichen Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität einzutreiben. 

Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert Schritt für Schritt an Bedeutung

Putin scherte sich dabei nicht im Geringsten um den Schaden für seine Zustimmungswerte – schließlich hängen Verdienste nicht von Zustimmungswerten ab! – und sprach damals zur Bevölkerung wie zu lebenslangen Schuldnern, die es in ihrem Leben nicht schaffen würden, ihre Schuld für die großartigen historischen Errungenschaften Putins zu begleichen. Es wurde erwartet, dass die Rentenreform als alternativlos akzeptiert würde. Hier sammelte das Regime erste Erfahrungen damit, seine Entscheidungen einfach durchzudrücken, da es das eigene Vorgehen als „selbstverständlich legitim“ auffasste. Überhaupt wurde Legitimität nun als etwas verstanden, das automatisch funktioniert, das systemimmanent ist, als ein stabiler und integraler Bestandteil. Als eine Art politische Konstante und natürliche Komponente des Putinschen Regimes nach der Annexion der Krim.

„Wählbarkeit“, Zustimmungswerte, Erkennbarkeit, Sympathien und gesellschaftliche Prioritäten – all dies verliert für das Wahlprogramm der Machthaber Schritt für Schritt an Bedeutung. Jüngstes Beispiel sind die Spitzenkandidaten auf der Parteiliste von Einiges Russland bei der Dumawahl: Lawrow und Schoigu – Außenpolitik beziehungsweise Verteidigung sind Symbole für die persönlichen Errungenschaften Putins. Für die Gesellschaft jedoch rangieren geopolitische Themen auf der Prioritätenliste derzeit ganz unten (ganz oben stehen Inflation und Armut).

Das System erblindet

So erodiert die legal-rationale und charismatische Legitimität in schnellen Schritten, während die meritokratische Legitimität Putins einen immer dominanteren Ausdruck findet. Die Bevölkerung ist niedergeschlagen und versinkt in politischer Depression. Im öffentlichen Raum verdrängen hurrapatriotische Huldigungen an das Regime und die Logik einer „belagerten Festung“ die negative sozialökonomische Realität, wobei das Gefühl eines drohenden Krieges permanent genährt wird. Die Verärgerung gegenüber der Partei der Macht wächst. In Reaktion darauf muss der Kreml immer neue Stützen und Mechanismen finden, um die jetzige „selbstverständliche“ Legitimität in den Autopilot-Modus zu überführen.

Im Laufe eines Jahres wurde in dieser Richtung viel getan: Die echte Opposition wurde vollständig vernichtet (das Instrumentarium ist dabei unglaublich breit gefächert: „ausländische Agenten“, Extremisten, unerwünschte Organisationen oder einfach Verbrecher); es gibt strenge Hürden für „falsche“ Kandidaten bei der Wahl; denn für den politischen Raum gilt das Prinzip: „Was nicht von der Präsidialadministration genehmigt wurde, ist verboten“; und die Medien wurden gesäubert.

An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten

Praktisch die gesamte Systemopposition, außer der Kommunistischen Partei, steht unter dem Einfluss und der Kontrolle durch die „Kuratoren“ der Innenpolitik. Ideen für eine gemäßigte Modernisierung von Einiges Russland wurden wieder verworfen. Ernsthafte Spielereien mit neuen Parteiprojekten sind beendet. Putin gefällt alles so, wie es ist: Es gibt eine starke Machtpartei [Einiges Russland – dek] und eine konstruktive parlamentarische Opposition. Selbst handgesteuerte neue, synthetische Parteiprojekte wie die Neuen Menschen erscheinen dem Präsidenten da nur als überflüssige Ansammlungen mit trüber Perspektive. An die Stelle zaghafter Regenerierungsversuche sind Versuche zur Mumifizierung des Systems getreten, so dass das lebende Sterbliche zum ewig Toten wird.

Die selbstverständliche Legitimität geht über in den Autopilot-Modus: Das Regime reproduziert sich automatisch selbst, ohne Beteiligung der Gesellschaft oder komplizierte Sinnkonstruktionen. Eine Stimmabgabe für die Systemopposition ist gleichbedeutend mit einer Stimme für Putins Regime. Und jeder Versuch, das Vorgehen des Regimes in Zweifel zu ziehen, bringt „das Boot ins Wanken“ und wird zu einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“. 

Im Autopilot-Modus

Die gesamte Innenpolitik besteht aus zwei großen Bereichen: Der erste – eine Art Personalabteilung – ist der Wettbewerb Russlands Führungskräfte von der Organisation Russland – Land der Möglichkeiten, über den die „richtigen“, „technokratischen“ Kandidaten rekrutiert, die Spielregeln für alles Systemrelevante festgelegt sowie Wort und Tat penibel und bis ins Detail reglementiert werden. 

Der zweite Bereich sind die politischen Sicherheitsorgane, die nicht nur das außersystemische Feld vollständig beherrschen, sondern auch jedwede gegen das Regime gerichtete Aktivität unterbinden sollen: sei es eine Beteiligung an Protestaktionen oder das Reposten politisch inkorrekter Inhalte in den sozialen Medien.

In dieser Situation der immer stärkeren Kontrolle spielen weder Zustimmungswerte noch der gesellschaftliche Unmut irgendeine Rolle, weder Parteipräferenzen noch die Wahlbeteiligung oder die Proteststimmung – sondern Putin braucht schlicht einen lautlosen Urnengang, ein überzeugendes Ergebnis, ein sauberes Prozedere. Live-Übertragungen aus den Wahllokalen wird es diesmal nicht geben, und zwar nicht, weil dort geschummelt wird (die größten Wahlfälschungen erfolgen schließlich jenseits des überwachbaren Bereichs), sondern um einen Aufschrei zu verhindern. Das größte Problem dieser selbstverständlichen Legitimität im Autopilot-Modus besteht darin, dass sie das System absolut blind und gefühlstaub dafür macht, wie sehr ihm die Gesellschaft tatsächlich überhaupt noch vertraut. Und das ist nicht mehr bloß ein Autopilot, sondern ein unbemannter Hochgeschwindigkeitstrip in eine ungewisse Richtung.

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Wlast

Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiertLeviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

„Das Volk bleibt stumm“

Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

Historismus und Historiosophie

Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

„Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

„Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

Allgegenwärtig und unsichtbar

Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


1.vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva
2.vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123
3.vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50)
4.vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137
5.Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25
6.vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22
7.vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7
8.Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“,  S. 6-22, hier S. 8
9.Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f.
10.zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69
11.vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f.
12.zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31
13.zit. nach: stoletie.ru:  „Cerkov’ vsegda byla s narodom“
14.vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica
15.Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii
16.YouTube: V. Putin o russkoj duše
17.vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit
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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

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