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Abhängig – die Öl-Krankheit

Russland ist der zweitgrößte Erdölexporteur der Welt, dennoch lebt ein großer Teil der Gesellschaft in Armut. Obwohl der Ölpreis seit 2016 relativ hoch ist, sinkt im Land das Realeinkommen. Wie geht das zusammen?

Was auf den ersten Blick unlogisch klingt, ist fast überall zu beobachten: Venezuela, Irak, Nigeria – die Liste der Länder mit reichen Ressourcen und armen Menschen ist lang. Für all diese Länder sind Rohstoffe kein Segen, sondern ein Fluch – ein Ressourcenfluch. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die holländische Krankheit: In den 1960er Jahren wurden in den Niederlanden große Erdgasvorkommen entdeckt. Durch die gestiegenen Exporterlöse ist auch die Landeswährung gestiegen, was die Exporte verteuerte und damit auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit anderer Wirtschaftssektoren schwächte.

In Russland läuft es jedoch anders: Schon 2018 dümpelte der Rubelkurs dahin, während der Ölpreis relativ hoch war – ein Phänomen, das der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew analysierte. 

Woran krankt die russische Wirtschaft? Eine vieldiskutierte Diagnose stellt der russische Historiker Alexander Etkind. In seinem kürzlich erschienen Buch Priroda sla: Syrje i gossudarstwo (dt. Die Natur des Bösen: Rohstoffe und Staat) seziert der Geschichtsprofessor das Wirtschaftssystem Russlands und umreißt dabei ein neues Krankheitsbild: die russische Krankheit. Kommersant-Ogonjok bringt Auszüge aus dem Buch.

Quelle Ogonjok

Rohstoffabhängigkeit – das ist ein gut untersuchtes Phänomen in der Politikwissenschaft. Der wichtigste Schluss, den man aus der reichhaltigen Literatur zum Ressourcenfluch ziehen kann, ist der, dass an dieser Abhängigkeit nichts Fatales ist. Ist man sich erstmal darüber im Klaren, welche Gefahren sie birgt, so kann man diese mit ernsten, konzentrierten Anstrengungen überwinden. Rohstoffabhängigkeit ist eben kein Fluch, sondern eine freie Entscheidung. Je höher die Ölpreise und je weniger produktiv die übrige Volkswirtschaft, umso verführerischer ist die Falle.

Rohstoffabhängigkeit ist eben kein Fluch, sondern eine freie Entscheidung

Der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Michael Ross hat vier Besonderheiten von Einnahmen aus dem Ölgeschäft aufgeführt: Sie sind riesig (die Regierungsapparate in Ölstaaten sind um die Hälfte größer als die ihrer Nachbarn, die über keine Ölvorkommen verfügen); ein großer Teil des Haushalts hängt nicht von den Steuerleistungen der Bürger, sondern von direkten Einnahmen aus Staatsbesitz ab; diese Einnahmen wiederum sind instabil, weil sie vom Ölpreis auf den Weltmärkten und den natürlichen Bedingungen abhängen; und schließlich sind die Einnahmen intransparent und geheim. So kann sich die Elite optimal an Öleinnahmen bereichern. Aufgrund des geringen Arbeitsaufkommens sind Ölstaaten unabhängig von der Bevölkerung: Die wird nicht wirklich gebraucht, solange sie nur bitte keine Unruhe stiftet.

Daher ist für solche Staaten eine Art Stände-Struktur kennzeichnend – die strikte Trennung zwischen einer unabsetzbaren, im Luxus lebenden, wohlbewachten Elite einerseits, und der Bevölkerung andererseits, die erst vor kurzem der Naturalwirtschaft entwachsen ist. 

Die Elite rechtfertigt ihre Existenz stets mit ihren Managerfähigkeiten und ihrer Sorge für die Menschen. Und tatsächlich kann die Elite einen Teil der Mehreinnahmen an die Bevölkerung umverteilen. Da die Empfänger dieser Wohltaten aber keine Möglichkeit haben, auf die Mehreinnahmen einzuwirken, bleiben diese Ausgaben oft unproduktiv. Das politökonomische Prinzip der Demokratie – „no taxation without representation“ – funktioniert in Ölstaaten nicht, weil diese eben nicht von Steuern abhängig sind. Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen. Frühere Formen der Ressourcenabhängigkeit – etwa von Zucker oder Wolle – waren partieller Natur: Die Elite versklavte zwar einen Teil der Bevölkerung, doch der andere Teil blieb frei. Öl versetzt fast alle in Abhängigkeit. Es führt nicht zu totaler Sklaverei, bringt aber auch keine echte Freiheit.

Öl versetzt fast alle in Abhängigkeit. Es führt nicht zu totaler Sklaverei, bringt aber auch keine echte Freiheit

Nach UNO-Angaben ist die Ausbeutung von Bodenschätzen weltweit – neben der Rüstungsindustrie – derjenige Wirtschaftssektor mit der stärksten Gender-Ungleichheit. Zu dem einen Prozent der Bevölkerung, das in der Öl- und Gasindustrie beschäftigt ist, muss man weitere rund fünf Prozent hinzurechnen, die die Pipelines, Geldströme und Oligarchen bewachen. All diese Soldaten, Offiziere und Wachleute sind ebenfalls Männer. Die politökonomischen und die genderpsychologischen Merkmale dieses Menschentyps lassen sich mit dem Begriff „Öl-Macho“ zusammenfassen. 
Dann ist da noch die große Gruppe der Juristen (in Russland sind das ein Prozent der Bevölkerung, vier Mal so viel wie in Deutschland), die damit beschäftigt ist, Konflikte zu klären. Ihre Hauptaufgabe ist nicht Kapital zu generieren, sondern zu schützen, die Banken und Pipelines zu bewachen, die Grenzen gegen Feinde zu verteidigen und die Elite vor der Bevölkerung zu schützen. 

Insgesamt entstehen so zwei Klassen von Bürgern: Eine privilegierte Minderheit, die die kostbare Ressource fördert, schützt und mit ihr handelt – und alle anderen, deren Existenz von der Umverteilung der Rente aus diesem Handel abhängt. Diese Situation schafft starre, fast schon ständische Strukturen. 

Starre, fast schon ständische Strukturen

So wie der Schutz vor Piraten eine Schlüsselaufgabe zu Zeiten des Tabak- und Zuckerhandels war, nimmt auch in der ölabhängigen Volkswirtschaft das Sicherheitspersonal eine herausgehobene Stellung ein. Der kritische Punkt ist nicht die Förderung, sondern der Transport, besonders dessen Sicherheit. Daher stehen an der Spitze ölfördernder Länder nur selten Ölindustrielle – sondern eher Militärs oder Geheimdienstler, also Fachleute für Sicherheitsfragen.

Im idealtypischen Fall verwandelt sich das Land in einen Öl- und Gaskonzern, der externen Verbrauchern direkt die Rohstoffe liefert und für die Sicherheit der Förderung, des Transports und des Exports sorgt. [In Russland – dek] gelingt das aber nicht. Hier leben viele, die eine solche Konstruktion stören. Zwei Drittel des in Russland geförderten Gases und ein Viertel des Erdöls werden im Lande selbst gebraucht. Die Regierung sucht nach Wegen, diesen Verbrauch zu senken. 

Aus der Sicht eines Staates, der vom Ölexport lebt, ist die Bevölkerung überflüssig. Das heißt nicht, dass die Menschen leiden und sterben müssen. Der Staat kümmert sich um sie, aber nur soweit, wie es dem Staat genehm ist. Statt selbst zur Quelle des Volksvermögens zu werden, verwandelt sich die Bevölkerung in ein empfangendes Objekt der Wohltätigkeit, die von Seiten des Staates gewährt wird.

Statt selbst zur Quelle des Volksvermögens zu werden, verwandelt sich die Bevölkerung in ein empfangendes Objekt der Wohltätigkeit, die von Seiten des Staates gewährt wird

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich die Entwicklung weltweit beschleunigt – außer in den OPEC-Staaten, wo das jährliche Wirtschaftswachstum negativ war. Nach 1973 hat sich die Produktion der OPEC-Staaten kaum verändert, während andere ölfördernde Staaten ihre Produktion vervierfachten. Die politischen Prozesse unterschieden sich zwar, doch zeugen die Zahlen von Kapitalflucht, zunehmender Ungleichheit, patriarchalen Strukturen und von Ineffizienz – also den typischen Merkmalen von Ölnationen.

1977 beschrieb The Economist die holländische Krankheit, den wirtschaftlichen Rückgang, der in den Niederlanden erfolgte, nachdem in der Nordsee unweit von Groningen Gasvorkommen entdeckt worden waren. Selbst in diesem entwickelten Land hatte das Entstehen eines mehr als gewinnträchtigen Wirtschaftssektors dazu führen können, dass andere Branchen unterdrückt wurden. 

Allein das Öl vermag es, Finanzströme zu generieren, die den Steuereinnahmen ganzer Staaten entsprechen / Foto © Acodered/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Trotzdem haben die Niederlande, und nach ihnen Norwegen, Kanada und Australien die Probleme mit Rohstoffexporten überwunden. Man hatte gelernt, die holländische Krankheit dadurch zu heilen, dass die Öldollars in Staatsfonds flossen – grundlegend neue staatlich-gelenkte Institutionen.
In Russland, im Iran, in Venezuela und Nigeria können wir einen Teufelskreis der Rohstoffabhängigkeit beobachten. Diese Staaten zerstören Humankapital, weil sie Rohstoffe fördern und dabei keine vernünftige Verwendung von Rohstoffeinnahmen auf die Beine stellen. Wenn sie sich dann mit mangelnder Kompetenz, schrumpfender Produktivität und kaputten Institutionen konfrontiert sehen, werden sie noch abhängiger von den natürlichen Ressourcen. Diese Gesellschaften kommen von einer Krise in die nächste und verschmutzen dabei die Umwelt. Folge dieser umgekehrten Entwicklung ist eine Entmodernisierung, der Verlust des bereits erreichten Bildungs- und Gleichheitsniveaus, die zunehmende Lähmung der Gesellschaft und die Willkür des Staates. 

Ein Musterbeispiel hierfür ist Russland mit seinem Ressourcenreichtum, seinem ungesicherten Recht auf Eigentum, seinem politischen Autoritarismus und seinen Rekorden, was das Thema Ungleichheit angeht.

Die holländische Krankheit ist eine Kombination aus Ressourcenabhängigkeit und guten oder wenigstens passablen Institutionen. Folglich können wir also die Kombination aus Rohstoffabhängigkeit und schlechten Institutionen als „russische Krankheit“ bezeichnen.

Die Kombination aus Rohstoffabhängigkeit und schlechten Institutionen können wir als ,russische Krankheit‘ bezeichnen

Russland hat in den vergangenen 18 Jahren aufgrund des Öl- und Gasexports im Schnitt zehn Prozent mehr exportiert als importiert. Das ergibt in der Summe weitaus mehr als die 200 Prozent kumulativen Wirtschaftswachstums. Allerdings sind die dabei berücksichtigten Vermögensposten, staatliche wie private, sehr viel langsamer gewachsen. Grund hierfür war die Kapitalflucht

Das Offshore-Vermögen in russischen Händen beläuft sich auf 800 Milliarden US-Dollar oder 75 Prozent des jährlichen Nationaleinkommens. Das Vermögen im Ausland ist genauso groß wie sämtliche Vermögen innerhalb Russlands. Mit anderen Worten: Die aktiven Wirtschaftseinheiten (einschließlich Regierung, Unternehmen und Bürger) haben ihr Kapital zur einen Hälfte im Ausland und zur anderen Hälfte in Russland. Diese Kapitalausfuhr wird durch den Charakter der russischen Einnahmen begünstigt: Von allen Bereichen der Weltwirtschaft ist der Ölsektor weltweit der intransparenteste. Einmal ausgeführt, nimmt dieses Kapital – eine umgewandelte Energieform – an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Qualitäten an: in der Schweiz die eines Bankkontos, in Frankreich die eines Chalets, in Deutschland die eines Unternehmens, in den USA die von Aktien. 

Juristisch blieben diese Vermögenswerte zwar umstritten, doch Streitereien waren jeweils schnell beendet, da das in jeder Hinsicht beträchtliche Kapital auch der Empfängerseite nützt: Eine Schweizer Bank erhält Gebühren, Londoner Immobilien steigen im Wert und neue Unternehmen bringen den Ländern, in denen sie ihren Sitz haben, Steuereinnahmen. 
 
Betrachten wir also einmal eine typische Situation in den internationalen Beziehungen, nämlich den Handel zwischen zwei Staaten: einem ressourcenabhängigen und einem, der auf Arbeitskraft setzt. Das ist ein Spiel zu zweit, bei dem der eine kostbare Ressourcen verkauft, der andere sie einkauft und sie dann in ein Produkt der Arbeitsleistung seiner Bevölkerung umwandelt. Die klassische Politökonomie mit ihrer Arbeitswerttheorie bezieht sich nur auf eine der beteiligten Seiten, nämlich den Staat, der auf Arbeitskraft setzt, und beschreibt nicht die Probleme des ressourcenabhängigen Staates. 

Die Politökonomie lehrt, dass ein Staat, der auf Arbeitskraft setzt, aus Sorge um seine Effizienz die innere Konkurrenz, Eigentumsrechte und das öffentliche Wohl stärkt sowie technischen Fortschritt und soziale Mobilität gewährleistet. Das alles bleibt in einem ressourcenabhängigen Staat aus, weil die Herrschenden es für ihr staatliches Gewerbe nicht benötigen. In einem solchen Land existieren das Öl und die Ölindustrie und die (bei der Förderung überflüssige) Bevölkerung jeweils für sich. Das alles ist hinlänglich als Ressourcenfluch bekannt: Die Institutionen entwickeln sich nicht, die Natur degeneriert, die Bevölkerung verkümmert. Das ist aber noch nicht alles.

Die Institutionen entwickeln sich nicht, die Natur degeneriert, die Bevölkerung verkümmert. Das ist aber noch nicht alles

Da die Herrscher des Ressourcenstaates die Eigentumsrechte in ihrem Land nicht sicherstellen, sind sie auch nicht in der Lage, sich auf ihr eigenes Kapital zu verlassen, dieses im Land zu halten und es an ihre Kinder weiterzugeben. Die Herrschenden leiden gemeinsam mit ihren Untertanen unter dem Mangel an öffentlichen Gütern – wie etwa fairen Gerichten oder sauberer Luft.

So erfolgt der nächste Schritt: Die Elite des ressourcenabhängigen Staates hortet ihre Guthaben in Staaten, die auf Arbeitskraft setzen. Selbst wenn diese Gelder dort nach unten durchsickern und den Armen und Kranken zugutekommen, so geschieht das nicht am Ort ihrer Herkunft, sondern an ihrem Aufenthaltsort. Das ist auch der Ort, wo die Elite ihre Konflikte löst, ihre Häuser kauft und wo ihre Familien leben. Auf paradoxe, wenn auch nachvollziehbare Weise investiert diese Elite in genau jene Institutionen, die sie bei sich zu Hause ignoriert oder sogar zerstört: in faire Gerichte, gute Universitäten und saubere Parks.

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Erdöl – kulturhistorische Aspekte

„Grund Ihres Aufenthalts?“
„Ich bin auf ethnographischer Expedition.“
„Verstehe. Suchen Sie Erdöl?“
„Nicht ganz. Ich suche Folklore.“

Diesen Dialog führen der Protagonist – ein Student, der für Feldstudien in den Kaukasus gekommen ist – und der Empfangschef eines Hotels in der berühmten sowjetischen Filmkomödie Kawkaskaja plenniza (Entführung im Kaukasus, 1966, Regie: Leonid Gaidai).
Der Dialog ist schon für sich genommen komisch. Er zeigt jedoch als typischer Dialog der Kulturen auf ironische Art auch feste Koordinaten, die das Verhältnis zwischen den Metropolen und Peripherien des Landes im Zarenreich bestimmten: Das Zentrum ist dabei nicht nur der Mittelpunkt der politischen Macht, sondern bündelt vielmehr auch das Wissen über die Peripherien. Die Peripherien wiederum sehen sich selbst als Quelle von Bodenschätzen, die für das Zentrum interessant sind. 
Allerdings ist in diesem Dialog nicht nur der koloniale Aspekt interessant, sondern auch ein gleichsam zufällig entstehender, Komik bergender Sinn-Rhythmus zwischen Erdöl und Folklore, zwischen natürlichen Ressourcen und der kulturellen Reflexion darüber.

РУССКАЯ ВЕРСИЯ

Als ein für die Weltwirtschaft im 20. und 21. Jahrhundert grundlegender Rohstoff wurde Erdöl zu einem zentralen Gegenstand in Kunst und Kultur. Der westliche Diskurs über Erdöl ist in der Regel katastrophistisch: Erdöl wird zum Inbegriff menschlicher Habgier und führt perspektivisch zu einer ökologischen Katastrophe. Diese Tradition, die mit dem Roman Petroleum (1927) von Upton Sinclair begründet wurde, ist bis heute lebendig und hat nicht nur Schriftsteller und Filmemacher1 inspiriert, sondern auch Umweltaktivisten und Sozialwissenschaftler, die sich mit den Beziehungen zwischen transnationalen Konzernen und kleinen Völkern beschäftigen, die in den Ölfördergebieten leben.2

Der nationale Diskurs über Erdöl

Der nationale Diskurs über Erdöl in Russland zeigt ein ganz anderes Bild, und das nicht nur auf der offiziellen Ebene. Eine Besonderheit ist dabei, dass über das Phänomen Erdöl in Russland vor allem positiv reflektiert wird. Von den fettigen, dickflüssigen Erdölströmen sind bis auf wenige Ausnahmen auch jene fasziniert, die die Bedeutung des Öls für die russische Geschichte im letzten Jahrhundert kritisieren.

Erdöl war die Grundlage der Wirtschaft in der UdSSR und ist es im heutigen Russland immer noch. Metaphorisch auch als „Blut der Erde“ oder „Schwarzes Gold“ bezeichnet, gilt es nicht nur als wichtigste Energiequelle, sondern auch als Motor der Geschichte insgesamt, als Ressource für die Umsetzung eines nationalen Programms und als Materie, mit der man das sich leerende Reservoir für eine nationale Idee wieder auffüllen kann. 

So entstand seit Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre ein ganzer Korpus an literarischen Texten und Kinofilmen, die sich zwar in ihrer Poetik voneinander unterscheiden, jedoch alle die Problematik von Bodenschätzen und Naturressourcen mythologisieren (besonders erwähnenswert sind dabei unter anderem das Poem Erdöl [1998] von Alexej Parschtschikow; die Romane Der Perser [2009] von Alexander Ilitschewski; Der Tag des Opritschniks [2006], Der Zuckerkreml [2008] und Telluria [2013] von Vladimir Sorokin; Die mazedonische Kritik französischen Denkens [2003], Das Heilige Buch der Werwölfe [2004] und Das fünfte Imperium [2006] von Viktor Pelewin). Diese symbolischen Interventionen haben eine lange Vorgeschichte. 

Aus der Welt der Geologie in die Welt der Geschichte

Anfang der 1930er Jahre wurde das Problem der Energieressourcen zur Schlüsselfrage der sowjetischen Industrialisierung und der Fünfjahresplanung. Neben Steinkohle wurde Erdöl zu einer der wichtigsten Energiequellen. 1930 wurden in Moskau das Erdölinstitut und der Staatliche wissenschaftlich-technische Erdölverlag gegründet. Zwei Jahre später erschien ein Übersichtswerk des Institutsgründers Iwan Gubkin unter dem eher alchimistisch-metaphysischen und weniger naturwissenschaftlichen Titel Studium des Erdöls (russ. Utschenije o nefti). In diesem Buch wurden nicht nur geologische Fragen der Erkundung und Erschließung von Erdölvorkommen behandelt, sondern auch detailliert Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von Erdöl beschrieben. Gubkin zufolge ist die Genealogie des Erdöls ein Teil der allgemeinen Evolutionsprozesse – der Übergang vom Organischen (Pflanzen und Mikroorganismen) zum Anorganischen (chemische Verbindungen und Erdöl), das dann zum Sozialen umgewandelt werden muss und somit zur energetischen Grundlage für den Aufbau des Sozialismus wird. 
Erdöl stellt hier nicht nur eine der wichtigsten mineralischen Ressourcen dar, sondern auch einen symbolischen Shifter, der Prozesse der prähistorischen Naturentwicklung dialektisch in den Lauf der Geschichte  einfügt.3 Im Endeffekt wurde nun begonnen, über Erdöl in der Sprache des historischen Materialismus zu sprechen, und so gab es einen Sprung aus der Welt der Geologie in die Welt der Geschichte.

Diente das Erdöl in der Stalin-Zeit als Ressource für die Industrialisierung und den „Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land“, so wurden Erdöl und Erdgas ab Ende der 1950er Jahre zunehmend zu wirtschaftlichen Instrumenten für einen Kurs, mit dem ein geopolitisches sozialistisches Projekt umgesetzt werden sollte. Und eben dieses Erdöl, genauer gesagt der Erdölpreis, wird als einer der wesentlichen Faktoren für das Scheitern eben dieses Projekts betrachtet – und ist  damit verantwortlich für den politischen Zerfall der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks sowie für die Diskreditierung der gesamten sozialistischen Idee.4

Der Erdölpreis wird als einer der wesentliche Faktoren für das Scheitern der Sowjetunion betrachtet / Bild © TomTheHand/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0Mitte der 2000er Jahre verwandelte sich Erdöl dann in eine der Ressourcen für die nostalgische Erinnerung an den verlorenen sozialen Optimismus und die ehemalige politische Größe, die mit der sowjetischen Vergangenheit assoziiert werden.
Aus dieser historischen Perspektive kann man die aktive Entwicklung des Öl- und Gassektors im heutigen Russland sowohl als Versuch der Vergeltung wie auch als Abhängigkeits-Symptom von der jüngsten Vergangenheit verstehen.

Erdöl als nationale Idee

Im heutigen Russland ist die Öl- und Gasgewinnung nicht nur eine der wenigen Einnahmequellen, sie entwickelt sich auch zu einer wichtigen Komponente der nationalen Idee. Vereinfacht gesagt werden dabei natürliche Reichtümer als Beweis für eine nationale Überlegenheit verstanden und so der Anspruch auf eine politische Machtposition begründet. 
Wie in der Vergangenheit bilden natürliche Ressourcen die Grundlage für geopolitische Pläne zum Aufbau einer Supermacht. Aber im Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren kann das Russland der 2000er und 2010er Jahre der Welt keine dem Kommunismus vergleichbare universalistische Idee mehr anbieten. Das Land hat sein gesamtes politisches und ideelles Potenzial in Öl, Gas und die entsprechende Transportinfrastruktur investiert und darauf seine strategischen Hoffnungen gegründet. 
War Erdöl in der sowjetischen Vergangenheit ein Mittel für die Umsetzung eines zukunftsgerichteten ideologischen Programms, ist es in der postsowjetischen Gegenwart zu einem eigentümlichen, das soziale Gewebe stärkenden Enzym geworden, zu einem universellen Schmiermittel, das das Funktionieren sozialer Interaktionen gewährleistet. 
Das System der staatlichen Sozialleistungen funktioniert ausschließlich dank der sogenannten Öl- und Gasrente. So werden die Einnahmen aus dem Verkauf von Energieträgern, die vor allem die Elite reich machen, zumindest teilweise auf alle Bürger der Russischen Föderation verteilt. Aber je weiter eine konkrete Person von der Quelle dieser Rente entfernt ist, desto weniger erhält sie. 
Der bekannte russische Historiker Alexander Etkind beschreibt die Situation folgendermaßen: Die politische Ökonomie eines Rohstoffstaates macht die Elite unabhängig von der Bevölkerung, in dem es ihr möglich ist, ihren eigenen Wohlstand und Stabilität nicht über Steuereinnahmen aufzubauen (die gegenseitige Verpflichtungen voraussetzen), sondern über die Kontrolle des Zugangs zu natürlichen Rohstoffen und über die Verteilung der Einnahmen aus deren Verkauf. Der besondere staatliche Verwaltungstyp, der auf Grundlage dieses politisch-ökonomischen Gebildes entstehen kann, macht aus der Bevölkerung ein redundantes Strukturelement, das lediglich die Effizienz der Öl- und Gaskonzerne beeinträchtigt: „Vom Standpunkt eines Staates aus gesehen, der vom Ölexport lebt, ist die Bevölkerung an sich überflüssig“.6

Aber selbst ein solch rohstoffabhängiger Staat kann nicht ausschließlich nach dem Prinzip eines Öl- und Gaskonzerns aufgebaut sein. Er braucht eine nationale Idee. Dabei gewährleistet die Ideologie des Rohstoffstaates nicht nur die symbolische Verschleierung der realen Verhältnisse zwischen Elite und Bevölkerung. Diese Ideologie kaschiert nicht einfach die raue und armselige Realität der Pipelines, sondern sie formatiert das Bewusstsein derer, auf die sie ausgerichtet ist, und sogar derer, die sie entwickeln. 

Nach dieser Logik ist die Welt wie ein Nullsummenspiel aufgebaut, das nicht auf gegenseitiger Vermehrung der Werte gründet, sondern auf dem Kampf um begrenzte Ressourcen. Ein Paradebeispiel für diese Art des Denkens ist eine der Botschaften Wladimir Putins an die Föderationsversammlung. Darin kündigt er den Beginn einer Epoche grundlegender Veränderungen an, die von einer verschärften Konkurrenz um Rohstoffe gekennzeichnet sein wird, „und ich kann Ihnen versichern … : nicht nur um Metalle, Öl und Gas, sondern vor allem um menschliche Ressourcen, um Intelligenz. Wer dabei besteht und wer Outsider bleibt und unweigerlich seine Selbständigkeit verliert, das wird nicht nur vom wirtschaftlichen Potenzial abhängen, sondern vor allem vom Willen einer Nation, von ihrer inneren Energie“.7

Erdöl und Kulturpolitik

Die Wechselbeziehung zwischen Erdöl, der russischen Wirtschaft und dem besonderen Problem der Vergangenheit war wiederholt Thema in Kunst und Kultur. In dem Roman Das Heilige Buch der Werwölfe von Viktor Pelewin gibt es folgende Schlüsselszene: Ein General des FSB, der über die mystischen Eigenschaften eines Werwolfs verfügt, wendet sich an ein eigenartiges Totemtier, an den Geist der russischen Erde, von dem das mit dem Erdöl verbundene Wohlergehen des Staates abhängt: „Bunte Kuh! Hörst Du, bunte Kuh? Ich weiß, man muss seine Scham komplett verloren haben, um nochmal bei Dir um Erdöl zu bitten. … Mir ist doch bekannt, wer Du bist. Du – das sind alle, die vor uns hier gelebt haben. Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, und vorher, vorher … Du bist die Seele all derer, die gestorben sind im Glauben an das Glück, das in der Zukunft kommen wird. Und nun ist sie da. Die Zukunft, in der die Menschen nicht für irgendetwas leben, sondern für sich selbst.“ 
Dieser verzweifelte Ruf eines Vertreters aus dem Machtkern der russischen Elite enthält in kondensierter Form eine ganze Symbolkette: Erdöl – das ist die in einer Energieressource verkörperte Vergangenheit (Vielzahl der Generationen von Vorfahren), die sich die erfolgreichsten und am meisten begünstigten Nachfahren aus eigennützigen Interessen aneignen. 

Der Verweis auf die metaphysische Vergangenheit ist hier offensichtlich kein Zufall. Unter dem Terminus „begrenzte Ressourcen“, zu denen der Zugang im Interesse der nationalen Sicherheit monopolisiert sein muss, subsumiert man im heutigen Russland  auch kulturelle und historische Werte.8 Und wenn im modernen staatlichen Diskurs versucht wird, die Nation im Rückbezug auf die Vergangenheit und durch eine konservative Hinwendung zur Tradition zu formen, dann wird Erdöl, das  wirtschaftlich sowieso eine prioritäre Rolle spielt, nicht nur zu einer materiellen, sondern auch zu einer symbolischen Ressource, die es sich anzueignen gilt. 

Das für die moderne politische Elite in Russland charakteristische Interesse an Öl und Gas ist dem Interesse an der historischen und kulturellen Vergangenheit durchaus ähnlich. Es ist die Vorstellung von einem irgendwo in der Tiefe lagernden Reichtum, der zu Tage gefördert und kapitalisiert werden muss. 
Im Falle der modernen russischen Erinnerungspolitik und einer national-identitären Kulturpolitik haben wir es mit einer Vergangenheit zu tun, die den eigentlichen historischen Sinn verliert und zur Ressource wird, die man ausbeutet, um Patriotismus zu erzeugen (wie es beispielsweise mit der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs geschieht). Im Falle des Erdöls wiederum haben wir es mit der prähistorischen Vergangenheit zu tun – mit organischen Lebensformen, die im Laufe hunderter Millionen Jahre zu Kohlenwasserstoffen zerfallen sind und in sich ein gigantisches Energiepotenzial binden. Somit erweist sich die auf Erdölgewinnung ausgerichtete Rohstoffwirtschaft als eine Wirtschaft, die auf die Ausbeutung der fernen Vergangenheit abzielt und deren Symbol und Substanz eine zähe, klebrige, stark riechende Flüssigkeit ist. In diesem Sinne besteht der verhängnisvolle „Ressourcenfluch“9 nicht allein darin, dass er die Modernisierung der Wirtschaft und die Demokratisierung des politischen Lebens blockiert. Er blockiert vielmehr auch den Beginn der Zukunft, da die Gegenwart zur Verwertung der Vergangenheit herangezogen wird.


1.Upton Sinclairs Roman Petroleum wurde 2007 von Paul Thomas Anderson unter dem Titel There Will Be Blood verfilmt. Der Film erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, darunter zwei Oscars in den Kategorien Bester Hauptdarsteller und Beste Kamera. 
2.Als wichtigste Arbeiten, die entsprechende Ansätze zusammenfassen, sind zu nennen: Barrett, Ross/Worden, Daniel (Hrsg., 2014): Oil Culture, Minneapolis; Wilson, Sheena/Carlson, Adam/Szeman, Imre (Hrsg., 2017): Petrocultures: Oil, Politics, Culture, London, Chicago 
3.„In diesem Buch habe ich versucht, den Prozess der Entstehung von Erdöl und den Prozess der Bildung von Erdöllagerstätten von einem dialektischen Standpunkt zu betrachten, und bin dabei von dem Gedanken ausgegangen, dass es sich bei diesem Prozess um eine der Strömungen im gesamten großen dialektischen Prozess der Entwicklung unserer Erde handelt.“ Gubkin I.M. (1932): Studium des Erdöls, Moskau-Leningrad, S. 6 
4.Der Ölpreis war seit seinem Höchststand 1980 bis 1986 um mehr als das Dreifache gefallen (Mouawad, Jad (2008): Oil Prices Pass Record Set in ’80s, but Then Recede, in: The New York Times, 8 March 2008) 
5.Diese Art nostalgischer Stimmung wird in der Fernsehserie Das große Öl (russ. Bolschaja neft) dargestellt, die unter der Regie von D. Tscherkassow 2010 für den Sender Erster Kanal gedreht wurde. 
6.Etkind, Alexander (2008): «Petromaččo, ili Mechanizmy demodernizacii v resursnom gosudarstve», in: Neprikosnowennyj sapas: Debaty o politike i kulture, 2008, Nr 2 
7.Botschaft des Präsidenten an die Föderationsversammlung am 12. Dezember 2012  
8.Deutlichstes Beispiel dafür ist die Gründung der Kommission zur Verhinderung von Versuchen der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands, die zwar nur von 2009 bis 2012 existierte, aber deren Funktionen später zwischen den Ministerien für Kultur und Bildung, den Historischen und Militärhistorischen Gesellschaften sowie zahlreichen weiteren staatlichen Institutionen von der Akademie der Wissenschaften bis zum Fernsehen aufgeteilt wurden. 
9.Resource curse – ein Begriff in der Wirtschaftstheorie, nach dem in Ländern mit einem großen Reichtum an natürlichen Ressourcen sowohl die Wirtschaft als auch die demokratischen politischen Institutionen weniger entwickelt sind. 
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