In unserer Zeit, heißt es, sei die Natur (wenn nicht die ganze Welt) entzaubert. Für diese Menschen gilt das sicher nicht: Die Mari aus der russischen Teilrepublik Mari El.
Die Mari leben seit mindestens zweitausend Jahren am Flusssystem der mittleren Wolga und am Ural. Sie gehören zur Volksgruppe der Wolga-Finnen: Möglicherweise teilen sie ihre Ursprünge mit denen der baltischen Finnen, ihre Sprache, die zur finno-ugrischen Familie gehört, weist jedenfalls darauf hin.
Das Leben der Mari ist noch heute durchdrungen von einer altertümlichen Volksreligion, die das Leben in Einklang mit der Natur lehrt. Die Mari bezeichnen sich selbst oft als die letzten Heiden Russlands oder gar die letzten Heiden Europas. Wobei das nur mit Einschränkungen zutrifft, denn die meisten der ungefähr 650.000 Mari, die heute in Russland leben, sind getauft und Mitglieder der russisch-orthodoxen Kirche. Ihre Traditionen haben sie sich aber in der Tat bewahrt und sie sowohl gegen die Einflüsse des Christentums wie auch des sowjetischen Atheismus aufrecht erhalten.
Die Mari nennen sich selbst die „kleinen Leute“, sie gelten als scheu, bescheiden und außerordentlich höflich. In ihrer Religion wird die Natur als belebt verstanden und niemals ausgebeutet, erst ihre Gaben machen das Dasein der Menschen möglich. Vielleicht war es die marische Strategie der Nicht-Konfrontation, des Ausweichens, die dem Volk das Überleben bis in die heutige Zeit ermöglicht hat: Der marische Begriff Ju kommt nach Ansicht einiger Forscher der Idee des chinesischen Dao oder dem Brahma der Hindu nahe.
In heiligen Hainen werden die Götter verehrt, deren höchster der Große Weiße Gott ist: Osh Kugu Yumo. Unter den geringeren Göttern finden sich solche des Feuers und des Windes und zahlreiche Mischwesen aus Gott und Mensch. Die marischen Kultstätten sind meist in Waldgebieten und an Flussufern gelegen. In der Sowjetzeit wurden sie vernachlässigt oder gar zerstört. Seit der Perestroika hat die Kultur der Mari jedoch einen Aufschwung erlebt, heute werden an die 400 heilige Haine von den Mari wieder für ihre Zeremonien genutzt.
Unsere Fotostrecke, aufgenommen von Oleg Ponomarev während mehrerer Reisen in ein marisches Dorf in den Jahren 2014–2015, zeigt zunächst Szenen aus dem alltäglichen Leben, dann Bilder von der großen alljährlichen Gebetszeremonie. Im Unterschied zur christlichen Religionen werden bei den Mari den Göttern auch Opfergaben dargebracht. Es folgen Aufnahmen vom Fest des Sommerbeginns – in der marischen Kultur ein Anlass, um der Toten zu gedenken. Den Abschluss bildet die Feier der Wintersonnenwende, Shory Kyol. Die Bewohner der Dörfer ziehen in Tiermasken durch die Häuser und bitten um Verköstigung: Nur wenn die Bedürfnisse der Tiere gestillt sind, kann auch der Mensch seiner natürlichen Bestimmung gemäß leben.
Oleg Ponomarev ist 1988 in St. Petersburg (zu dieser Zeit noch Leningrad) geboren. Er hat an der Abteilung für Fotojournalismus der St. Petersburger Journalistenvereinigung studiert, außerdem an der Fotoschule Zekh von Sergey Maksimishin. Seine Arbeiten wurden in verschiedenen russischen Städten gezeigt, demnächst erscheint in National Geographic eine Fotoserie, in der Ponomarev durchleuchtete Gepäckstücke aus St. Petersburger Metrostationen präsentiert – mitsamt der in ihnen gefundenen, nicht immer für Metrofahrten prädestinierten Gegenstände.
Fotos: Oleg Ponomarev
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs