Wer Geld aus dem Ausland bezieht oder bei wem nur der Verdacht besteht, mit ausländischen Geldgebern im Zusammenhang zu stehen, dem droht in Russland der Status des „ausländischen Agenten“. Die Gesetzgebung dazu gibt es bereits seit zehn Jahren, sie wurde immer mehr ausgeweitet und erfährt willkürliche Anwendung auf unliebsame Stimmen. Das russische Justizministerium gibt üblicherweise freitags bekannt, wer diesmal mit dem Label „ausländischer Agent“ als Spion im eigenen Land gebrandmarkt wird – seien es NGOs, Medien(schaffende), Forschende oder Künstler. Der Status bringt Einschränkungen und Schikanen für die Betroffenen mit sich. Viele von ihnen sind nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ins Ausland geflohen. Denn der Status zeigt an: Man ist im Visier der Sicherheitsorgane.
Zum 1. Dezember 2022 tritt nun eine Gesetzesänderung in Kraft, wonach nun allein die Feststellung eines „ausländischen Einflusses“ für diese Einstufung ausreichen kann. Auf der Webseite der Staatsduma verkündet deren Vorsitzender Wjatscheslaw Wolodin dazu: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen. Überall gibt es Haftstrafen dafür, Freiheitsentzug und anderes mehr [...]“. Der russische Präsident Putin argumentierte ähnlich, als er das Vorhaben im Sommer unterschrieben hat.
„Die anderen machen es genauso, sogar noch schlimmer“ – das Magazin Holod fragt, was sich hinter einer solchen Rhetorik verbirgt, die sich sinngemäß durch viele offizielle Verlautbarungen in Russland zieht, in allen möglichen Bereichen. Gemeinsam mit der russischen Politologin Ekaterina Schulmann analysiert Holod diese Taktik, die aus dem Repertoire sowjetischer Propaganda schöpft. Längst ist sie auch aus sozialen Medien bekannt: als Whataboutism.
Am 14. Juli unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz zur „Kontrolle der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“. Darunter fallen alle in Bezug auf „ausländische Agenten“ existierenden Normen. Die wichtigste Neuerung ist, dass der Staat ab jetzt jeden zum „ausländischen Agenten“ erklären kann, der „unter ausländischem Einfluss steht“ (eine Erläuterung dieser schwammigen Formulierung bleibt das Justizministerium bislang schuldig).
Bei der Debatte zum Gesetzentwurf verwies der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin auf die Erfahrung anderer Länder und betonte die „Liberalität“ des russischen Gesetzes: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen.“
Damit setzt er die Rhetorik von Wladimir Putin fort: Der russische Präsident erzählt seit 2012 von der „ausländischen Erfahrung“ in Bezug auf „ausländische Agenten“. Damals hatte die Staatsduma Änderungen des Gesetzes „Über Non-Profit-Organisationen“ verabschiedet, woraufhin die ersten russischen Non-Profit-Organisationen den Status von „ausländischen Agenten“ erhielten. Und damals hatte er erstmals auf das in den USA geltende Gesetz zur Registrierung von ausländischen Agenten FARA verwiesen: „Ich finde, wir können in Russland auch ein Gesetz haben, das in den USA bereits 1938 verabschiedet wurde und immer noch in Kraft ist. Damit schützen sie sich gegen Einfluss aus dem Ausland und wenden das Gesetz schon seit Jahrzehnten an, warum soll Russland das nicht auch tun?“
Offizielle Repräsentanten der USA hatten Putin daraufhin mehrfach widersprochen, dass nämlich FARA vornehmlich auf Lobbyisten abziele, die für ausländische Regierungen arbeiten; auch russische Journalisten und Politologen kritisierten den Vergleich mit FARA.
Ekaterina Schulmann, Politologin und Stipendiatin der Berliner Robert-Bosch-Academy erklärt: „Der wichtigste Unterschied ist, dass es in der russischen Gesetzgebung zu ‚ausländischen Agenten‘ keinen Auftraggeber gibt, das heißt jemanden, in dessen Interesse der ‚Agent‘ letztlich tätig ist. Wenn das Justizministerium eine Organisation oder eine Einzelperson zum ‚ausländischen Agenten‘ erklärt, muss es zum Beispiel keinen Zusammenhang nachweisen zwischen dem Erhalt eines Honorars für einen Artikel und der öffentlichen Tätigkeit, die das Justizministerium für politisch hält. Zudem betrifft das FARA-Gesetz im Wesentlichen kommerzielle Strukturen wie Lobby- oder Consulting-Unternehmen sowie Medien, die von Regierungen und politischen Parteien finanziert werden, aber nicht Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler oder regionale Abgeordnete“, sagt Schulmann.
Putin erklärte 2013, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische
Die russische Gesetzgebung ist seither immer repressiver geworden: Zu ausländischen Agenten können nun auch Medien und Privatpersonen erklärt werden. Dabei verweist der Präsident ständig auf die Erfahrungen der USA. 2013 erklärte er – genau wie später Wolodin –, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische.
Unter zahlreichen Meldungen der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zum Gesetz über ausländische Agenten findet sich der Hinweis, das russische Gesetz sei eine „notgedrungene Reaktion auf die Unterdrückung der russischen Medien in den USA“.
Wolodin erzählt natürlich nicht deshalb von der Ähnlichkeit der russischen Gesetzgebung und dem amerikanischen FARA, weil man sich die besten juristischen Entscheidungen der USA abgucken will. „Etwa seit 2012 beobachten wir Aussagen eines neuen Typs – eine Reaktion auf Kritik. Wenn man etwa fragt, warum sie schon wieder den nächsten kannibalischen Gesetzesentwurf durchwinken, kriegt man zu hören, im Westen würde man dafür gehängt, das Gesetz sei dort knallhart, und überhaupt sei alles viel schlimmer. Das heißt, es werden nicht die Vorteile des Gesetzes benannt, sondern seine Mängel gerechtfertigt – dass es woanders genauso oder noch viel schlimmer sei, dass niemand besser ist, sondern alle gleich“, erklärt Schulmann.
Die Ursprünge des Whataboutism
1974 schrieb der irische Geschichtslehrer Sean O’Connell eine Kolumne für The Irish Times, in der er die Unterstützer der IRA kritisierte, die in ihrem Kampf für die Unabhängigkeit Nordirlands unter anderem Terroranschläge verübte. Seine Gegner nannte er Whatabouts (vom englischen „What about …?“ – „Und was ist mit …?“), denn auf jede Kritik an der IRA antworteten sie genau mit diesem Argument und verwiesen auf ein noch größeres moralisches Vergehen des Feindes.
Später benutzten auch andere Journalisten diesen Terminus. Breit gefasst bedeutet er die Rechtfertigung einer historischen Ungerechtigkeit durch eine andere Ungerechtigkeit.
1978 verwendete der australische Journalist Michael Bernard in einem Artikel für [die australische Zeitung] The Age den Begriff Whataboutism zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Sowjetunion. Seine Kritik richtete sich gegen jene, die behaupteten, dass man dem Kreml nichts vorwerfen könne, weil andere Länder die Menschenrechte ja genauso verletzen würden.
Die Sowjetunion war in der Anwendung dieser Methode, die russische Diplomaten nachgewiesenermaßen bereits seit 1880er Jahren des Russischen Reiches beherrschen, bemerkenswert erfolgreich. Die sowjetischen Journalisten berichteten fleißig über Rassendiskriminierung, Finanzkrisen und die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten.
Die Renaissance der Whataboutismen im heutigen Russland
Während des Kalten Krieges fanden die Whataboutismen immer häufiger und aktiver Verwendung – und verloren vielleicht auch deshalb an Überzeugungskraft, wurden zu Memes. Das bekannteste ist wahrscheinlich dieser Radio-Jerewan-Witz: Auf die Frage nach dem Durchschnittslohn eines sowjetischen Ingenieurs denken sie beim armenischen Radio Jerewan drei Tage lang nach und antworten dann: „Bei euch werden dafür Schwarze gelyncht!“
Laut Ekaterina Schulmann war diese Art von Argumenten zwar häufiger in der Presse zu finden, aber sie war nicht Teil des offiziellen Diskurses – wenn man offizielle Vertreter der UdSSR etwa für die Erschießung von Arbeitern in Nowotscherkassk verantwortlich machte, verwiesen sie nicht auf das Lynchen von Schwarzen.
„Der Westen wurde als aggressiv, verlogen und verfault dargestellt, aber niemand behauptete, dass man bei uns hinter Gitter kommt, wenn man was Falsches sagt, während man im Westen sofort erschossen wird. Das ist ein neues Phänomen, ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie, die unter den Bedingungen einer relativen Informationsfreiheit arbeitet“, sagt Ekaterina Schulmann. „Heute ist die Welt transparenter als zur Zeit der Sowjetherrschaft, die Menschen sehen und erleben zum Teil selbst, wie das Leben woanders ist. Außerdem ist es schwieriger geworden, die eigenen Sünden zu vertuschen: Es ist günstiger, sie einzugestehen und im gleichen Atemzug zu erklären, dass alle anderen noch viel schlimmer sind. Das weckt mehr Vertrauen. Ich finde es wichtig, auf diesen Unterschied zwischen der Sowjetrhetorik und der heutigen Angewohnheit hinzuweisen, herbeifantasierte westliche Gesetze mit den tatsächlich existierenden russischen zu vergleichen.“
Während der Perestroika und nach dem Zerfall der UdSSR nahmen die Whataboutismen in der hiesigen Politik merklich ab. Ihre Renaissance im heutigen Russland datieren Forscher spätestens auf Wladimir Putins Münchner Rede, in der er den Westen mit Anschuldigungen überhäuft – einschließlich der Kritik bezüglich der NATO-Osterweiterung und den Versuchen der USA, anderen Ländern das Konzept einer „unipolaren Welt aufzuzwingen“.
ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie
Im Weiteren benutzte die russische Propaganda solche Bemerkungen als Reaktion auf jegliche Kritik am Vorgehen der russischen Regierung – angefangen bei der Annexion der Krim bis hin zur Kriegserklärung an die Ukraine. Dabei knüpfte man aber durchaus an die Erfahrung aus der Sowjetzeit an: So berichteten die staatstreuen Medien 2014 aktiv über die Ausschreitungen in Ferguson nach dem Mord an einem unbewaffneten schwarzen Jugendlichen durch einen Polizeibeamten. Die Zeitung The Moscow Times sah in diesem Interesse am Thema einen Versuch, die Aufmerksamkeit von den Ereignissen abzulenken, die zur selben Zeit in der Ukraine ihren Lauf nahmen. 2015 warf Igor Korotchenko, Mitglied des Öffentlichen Rates des russischen Verteidigungsministeriums, dem amerikanischen Journalisten Michael Bohm auf Twitter vor, Leute wie er würden „Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwerfen und Schwarze lynchen“. 2017 schlug der russische UNO-Botschafter als Antwort auf die britische Kritik an der Annexion der Krim vor, Großbritannien solle doch erstmal die Falkland Islands und Gibraltar zurückgeben.
„Der moderne russische Whataboutism ist ein Triumph der Emotionen über das logische Denken, des Irrationalen über das Rationale. Dasselbe lässt sich übrigens auch von der russischen Außenpolitik sagen. Schließlich ist Russland, wie es die Entscheidungsträger frei heraus erklären, aktuell damit beschäftigt, die Amerika-zentrische Weltordnung zu zerstören, allerdings ohne sich dabei allzu viele Gedanken darüber zu machen, was an ihre Stelle treten könnte. Aber um etwas zu zerstören, eignen sich primitive Waffen ohnehin viel besser als Hochpräzisionsinstrumente“, schreibt [der Historiker] Iwan Zwetkow.
Ekaterina Schulmann ist der Ansicht, das Ziel der Whataboutism-Rhetoriker sei es, das Verständnis von Tugend und Recht zu verwischen: „Der Gedanke, der auf diese Weise in die Hirne des Publikums eingepflanzt werden soll, ist der, dass alle gleich und wir nicht schlechter sind als die anderen. Es gibt kein Vorbild, an dem man sich orientieren könnte, folglich gibt es auch niemanden, der uns unsere Fehler zum Vorwurf machen könnte. ‚Wer seid ihr überhaupt, dass ihr uns etwas erzählen wollt?‘, ‚Ihr seid keinen Deut besser. Niemand ist besser.‘ Die Politiker wollen zeigen, dass die Tugenden von Recht und Demokratie an sich nicht existieren – es gibt nur diejenigen, die so tun, als würden sie sie besitzen, und die, die gar nicht erst so tun.“