Die Aufregung war groß, als die Duma vergangene Woche in dritter Lesung dafür gestimmt hat, dass künftig auch einzelne Personen als „ausländische Agenten“ eingestuft werden können. Bislang waren davon nur NGOs und Medien betroffen – als „ausländischer Agent“ sind derzeit zehn Auslandsmedien gelistet, darunter etwa Radio Swoboda (Radio Liberty) und Voice of America. Das neue Gesetz ist so breit formuliert, dass theoretisch jeder, der Inhalte von solchen als „ausländische Agenten“ registrierten Medien öffentlich repostet und außerdem Geld aus dem Ausland erhält – und sei es von seiner Tante –, als „ausländischer Agent“ eingestuft werden kann. Duma-Abgeordnete beeilten sich zu erklären, dass das Gesetz als Antwort auf US-amerikanische Gesetze zu verstehen sei.
Nun müssen sich Mitarbeiter derjeniger Auslandsmedien sorgen, die bereits als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Leonid Lewin, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik und Ko-Autor des Gesetzes, erklärte zudem, wer über Sport oder Musik schreibe, habe nichts zu befürchten – und russische Blogger schon gar nicht.
Solche mündlichen Einschränkungen sind jedoch rechtlich nicht bindend, sie sorgen vielmehr für Unruhe: Es wäre nicht das erste Mediengesetz, das, unklar formuliert, selektiv und willkürlich angewandt wird und gerade so Angst und Selbstzensur schürt. Das Gesetz wurde von der Duma Ende November in dritter Lesung ohne Gegenstimme beschlossen. Damit es in Kraft tritt, fehlt nun noch die Unterschrift Putins, in der Regel eine Formalie.
Maxim Trudoljubow fragt auf Vedomosti, was hinter der Rhetorik und den neuen Maßnahmen eigentlich steht.
In öffentlichen Auftritten russischer Staatsbeamter, Duma-Abgeordneter sowie TV-Moderatoren und selbst in den Gesetzestexten, die die Duma verabschiedet, geht es immer um dasselbe. Alles, was der Staat der Gesellschaft vermitteln will, lässt sich in einem Gedanken zusammenfassen: dass Russland äußere Feinde hat und dass die Feinde Helfershelfer haben innerhalb der Landesgrenzen. Anfangs, mit dem ersten Gesetz über ausländische Agenten, wurden die Feinde als kollektive Gruppe erfasst – es ging um [Nicht-Regierungs-] Organisationen. Nun kann der Staat auch einzelne Bürger als ausländische Agenten einstufen.
Die Gesetze über ausländische Agenten können zivilgesellschaftlichen Organisationen und konkreten Personen unmittelbar Schaden zufügen. Doch die Hauptaufgabe dieser Bestimmungen und überhaupt der gesamten TV-Rhetorik besteht darin, Format und Ton des gesellschaftlichen Diskurses festzulegen oder dessen, was man darunter versteht. Die Repressalien selbst sollen laut Absicht derer, die sie sich ausdenken, nur minimal sein. Doch die Ideen, die über solche Repressalien der Gesellschaft vermittelt werden sollen, sollen Allgemeingut werden. Der Einsatz von Gewalt ist also punktuell, wird aber geistig-gedanklich massenhaft Wirkung haben.
In diesem modellierten Diskurs muss man für bestimmte Ziele nicht mehr kämpferisch aufmarschieren, man muss sie nicht unterschreiben, ja, nicht einmal laut aussprechen. Nirgends wird gesagt, dass Russland einen Krieg führt, aber ausländische Feinde – und ihre Agenten – gibt es. Es ist nicht so ganz klar, wo genau die Front verläuft, aber ein wehrhaftes Hinterland gibt es ganz sicher. Und für jenes Hinterland muss man Einheit demonstrieren und Agenten entlarven. In Friedenszeiten stellen Agenten keine Gefahr dar.
Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich ‚Wahlen‘ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Es ist Dekoration, aber sie wird gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht
In Friedenszeiten wäre das anders, aber aktuell ist – zumindest vorübergehend, angesichts der rauen Kriegszeit – Wachsamkeit gefragt. Darum lasst doch die Wahlen vorerst ruhig Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für politischen Wettbewerb. Ein nicht zugelassener Kandidat bei den Wahlen ist ein Helfer des Feindes. Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich „Wahlen“ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Sie sind Dekoration, aber sie werden gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht. Soll doch ruhig auch die Wirtschaft eher Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für echte Konkurrenz. Niemand glaubt, dass Russlands Wirtschaft ungestüm wächst, aber es gibt dieses schön dekorierte Schaufenster – das Zentrum von Moskau –, das aussieht, als befände sich Russland im Wirtschaftsboom.
Es bleibt die Frage, wo jene Frontlinie verläuft, wegen der all das geschieht und um die der Kreml den gesellschaftlichen Konsens konstruiert. Sie wurde aus dem Diskurs verdrängt, wie auch das Wort „Krieg“. Es ist interessant, dass ausländische Experten (aus jenen Ländern, deren Agenten für Russland so gefährlich sind) in letzter Zeit die Außenpolitik des Kreml loben, vor allem die Erfolge im Nahen Osten. Doch in der Innenpolitik konzentriert sich der Kreml nicht auf diese Siege. Die Politmanager sehen, dass es nicht gut ankommt, den Fokus auf die Außenpolitik zu legen. Zudem kann man auch nicht ernsthaft die gegenwärtige Innenpolitik mit Erfolgen im Nahen Osten rechtfertigen. So wird die Frontlinie zu einer virtuellen. Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt.
Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt
Die Aufgabe der russischen Politmanager ist keine leichte: Sie müssen in einer Situation arbeiten, in der Krieg abgelehnt wird, in der die Nachfrage wächst nach individuellen Rechten, nach einer tatsächlich funktionierenden Wirtschaft, nach steigenden Einkommen und Wohlstand der Bürger. Russland lebt in derselben Zeit wie die ganze übrige Welt: in einer Moderne, in der Grenzen durchlässig und Verhältnisse von Dominanz und Unterwerfung instabil sind. Ein realer, heißer Krieg mit einem richtigen Hinterland – mit dem dazugehörigen Einheitsgefühl und Sonderschichten in den Fabriken – lässt sich in einer solchen Situation nicht durchführen. Darum versucht man, einen imaginären Krieg und ein starkes Hinterland in den Köpfen der Bürger zu formieren.