Das Jahr 2021 stand in Russland im Zeichen zunehmender Repression – gegen die politische Opposition und gegen unabhängige Akteure generell. Das jüngste Vorgehen gegen die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial ist ein Ausdruck davon. Bedeutend stärker betroffen als in den Jahren zuvor sind auch Medien und sogar einzelne Journalisten. Mehr als 80 von ihnen wurden seit April auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Manche Medien – wie VTimes – stellten daraufhin den Betrieb ein, andere – wie Meduza, Republic oder Doshd – versuchen ihre Arbeit dennoch fortzusetzen. Auch einzelne Journalisten gehen unterschiedlich damit um, als „ausländischer Agent“ gelistet zu sein: Manche machen weiter, andere gehen ins Ausland oder suchen einen neuen Beruf. Das Label bedeutet bürokratische Hürden – so muss man zum Beispiel vier Mal im Jahr ein spezielles Meldeformular an das Justizministerium senden, wofür man als juristische Person registriert sein muss. Man ist verpflichtet, den Behörden Daten über Aktivitäten, Einnahmen und Ausgaben zu übermitteln, andernfalls drohen Geld- oder sogar Haftstrafen. „Ausländischer Agent“ zu sein ist aber vor allem ein soziales Stigma.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Entscheidung des Nobelkomitees umso bedeutender, das mit dem Friedensnobelpreis am kommenden Freitag, 10. Dezember, auch Dmitri Muratow auszeichnet. Muratow ist Chefredakteur der Novaya Gazeta, die seit den 1990er Jahren als Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland gilt.
Meduza fragte Journalistinnen und Journalisten, auch solche, die selbst als „ausländischer Agent“ gelistet sind oder für „Agenten-Medien“ arbeiten: Warum arbeiten Sie weiterhin als Journalist? Und spüren Sie sowas wie journalistische Solidarität?
Xenia Mironowa
Korrespondentin von Doshd
Ich weiß nicht, warum ich immer noch Journalismus betreibe. Mein Partner [der Journalist Iwan Safronow] sitzt wegen seiner journalistischen Arbeit seit eineinhalb Jahren in U-Haft [in Lefortowo]. Der Sender Doshd, bei dem ich arbeite, gilt als „ausländischer Agent“. Viele meiner Journalistenfreunde mussten das Land verlassen. Jeder normale Mensch hätte wohl schon längst den Beruf gewechselt. Aber ich kann nichts anderes – und vor allem will ich es gar nicht.
Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird
Es ist schwer, wenn du kein direktes Ergebnis deiner Arbeit siehst. Du rettest keine Menschen aus brennenden Häusern. Hast nicht einmal das Recht, ihnen etwas zu versprechen – Hilfe, oder die Aussicht, dass alles gut wird. Es ist schwer, wenn du siehst, wie deine Interviewpartnerin während des Gesprächs bei lauten Geräuschen zusammenzuckt, weil ihr mit 18 Jahren Drogen untergeschoben wurden und sie statt an die Uni in eine Strafkolonie kam. Und du weißt, dass ihr diese Zeit und ihre Gesundheit niemand je ersetzen können wird. Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird.
Aber wenn du von einer Frau, die ihr Kind verloren hat, eine Nachricht bekommst, in der sie sich überschwänglich bei dir bedankt, dann vergisst du das nie.
Es gibt Fälle, wo es Journalisten gelang, ein Problem zu lösen oder etwas zum Besseren zu wenden. In Russland wird das natürlich mit jedem Monat schwieriger, aber daran sind nicht die Journalisten schuld. Auch im Schach kannst du nur schwer gewinnen, wenn du dich an die Spielregeln hältst, während der Gegner dir das Brett um die Ohren schlägt.
Jelena Kostjutschenko
Korrespondentin der Novaya Gazeta
Ich betreibe weiterhin Journalismus, weil ich das einfach gern mache. Du erlebst ganz Unterschiedliches, triffst unterschiedliche Leute, siehst, was in der Welt passiert. Darüber schreibst du dann und bekommst sogar Geld dafür. Ich finde das super. Eine tolle Arbeit.
Und die Bedrängnis, mit der wir konfrontiert sind, macht die Arbeit nicht weniger toll. Nur leider steigt der Preis. Ich bin bereit, diesen Preis zu zahlen. Noch dazu arbeite ich bei der Novaya Gazeta, bei uns war es immer schon ***** [schwierig//hart]. Wir hatten nie diese friedliche Zeit wie die Journalisten anderer Medien.
Ich sehe den Beweis, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert
Bei der Novaya Gazeta, wurden immer wieder Kollegen umgebracht. Zwei Frauen wurden getötet, die über Tschetschenien schrieben – direkt hintereinander: Zuerst Anna Politkowskaja, woraufhin Natalja Estemirowa das Thema übernahm, bis sie ebenfalls getötet wurde. Jetzt hat Elena Milashina ihren Job übernommen. Dass sie noch am Leben ist, sehe ich als Beweis dafür, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert.
Journalistische Solidarität sieht bestimmt ziemlich radikal aus. Wenn ein Kollege getötet, inhaftiert oder sonstwie an seiner Arbeit gehindert wird, muss man seinen Platz einnehmen und das, was er gemacht hat, weiterführen. Auf diese Art zeigen wir den Leuten und den staatlichen Strukturen, die uns Journalisten am Arbeiten hindern wollen, dass es keinen Sinn hat, uns zu töten, Zeitungen zu schließen oder uns das Label „ausländischer Agent“ anzuhängen.
Iwan Golunow
Korrespondent von Meduza
Warum sollte man 2021 keinen Journalismus betreiben? Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort.
Eigentlich hat es immer Leute gegeben, die etwas gegen Journalisten haben. Denen nicht gefällt, wie sie schreiben und was sie schreiben. Das war immer schon so und wird immer so sein. Zu manchen Zeiten führt das zu mehr Repressionen, und manchmal ist der Druck geringer. Alle erinnern sich gern an die schönen 1990er Jahre, als angeblich Pressefreiheit herrschte, wie es aus heutiger Perspektive scheint. Man darf aber nicht vergessen, dass auch die Geschichten mit [den Morden an den Journalisten] Dimitri Cholodow, Larissa Judina und etlichen anderen in diese Zeit fallen.
Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich es jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort
Es gab also immer Leute, die irgendwie Einfluss auf die Medien nehmen wollten. Was soll man da machen? 25 Jahre warten? Ist doch auch blöd. Man muss tun, was man kann, soweit es die Situation erlaubt.
Was mir 2019 passiert ist, war ein wunderbares Beispiel für journalistische Solidarität. Damals haben sich alle Journalisten zusammengetan, egal, für welche Medien sie tätig waren – für unabhängige oder staatliche. [Ähnliches] geschieht mit der Haft von Iwan Safronow, da gibt es in den Regionen viele lokale Initiativen. Ich glaube an die journalistische Solidarität. Und an die Solidarität der Leser mit den Journalisten. Ich glaube sogar an die Solidarität der Personen, über die geschrieben wird, mit den Journalisten, weil ich das alles am eigenen Leib erfahren habe.
Maria Shelesnowa
Redakteurin, die zum „Medium, das als ausländischer Agent fungiert“, erklärt wurde
Warum ich immer noch als Journalistin tätig bin – eine schwierige Frage. Ich glaube, darauf kann ich jetzt keine hundertprozentig rationale Antwort geben. Wenn man logisch überlegt, wäre es wohl vernünftiger, was anderes zu machen.
Ich kann wahrscheinlich schwer auf etwas verzichten, was ich viele Jahre lang gemacht habe und sehr gerne mache. In meiner ganzen Zeit als Journalistin habe ich nie – freiwillig und ernsthaft – an einen anderen Beruf gedacht. Nichts anderes ist mir je so organisch vorgekommen – obwohl ich mir nach der Erklärung zum „ausländischen Agenten“ schon die Jobanzeigen für Supermarkt-Kassiererinnen angesehen habe. Sagen wir so, ich wollte mir und meinem Beruf noch eine Chance geben.
Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, den Mut nicht zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen
Ich war als Journalistin nie besonders heroisch – ich war nie Kriegsreporterin, habe keine Korruptionsfälle aufgedeckt, die in ihrem Zynismus ungeheuerlich sind, habe mich nicht Hals über Kopf in den undurchdringlichen Unbilden unseres Lebens vergraben und so weiter. Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, nicht den Mut zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen, Euphemismen zu meiden und die Dinge beim Namen zu nennen.
Wenn ich aber doch an konkrete Dinge denke, dann waren meine unfreiwilligen Kündigungen das Schwerste. Wenn dir klar wird, dass das, was du tust und wofür du in diese Redaktion gekommen bist, aufgrund von Umständen, die außerhalb deiner Macht stehen, völlig unmöglich wird, und dir nichts anderes übrig bleibt, als deinen letzten Text abzugeben und zu kündigen. Und auch wenn du weißt, dass das die einzig richtige Entscheidung war, ist es trotzdem schwer, und dieses Gefühl trägst du lange mit dir herum. Ich glaube nicht, dass ich mit meiner Erfahrung allein bin, aber in den letzten zehn Jahren musste ich zweimal so vorgehen. Das letzte Mal 2020, als die Vedomosti, bei der ich gearbeitet habe, einen neuen Inhaber und einen neuen Chefredakteur bekam – und klar wurde, dass das jetzt eine ganz andere Zeitung wird.
Insgesamt hatte ich in zehn Jahren drei verschiedene Arbeitsplätze. Zweimal habe ich schweren Herzens selbst gekündigt, das Dritte war Projekt, dessen Tätigkeit unser Staat als „unerwünscht“ betitelte und kurzerhand dichtmachte. Tja, mein Resümee ist ein bisschen düster.
Ilja Asar
Korrespondent der Novaya Gazeta
Vor ein paar Tagen habe ich Material über den 15-jährigen Jaroslaw Inosemzew gesammelt, der beschuldigt wird, in einer Wolgograder Schule einen Terroranschlag vorbereitet zu haben. Ich schreibe dieses Jahr schon zum zweiten Mal über ihn. Nach dem ersten Bericht wurde Jaroslaw aus der Psychiatrie (wohin er aus der U-Haft überstellt worden war) nach Hause entlassen. Ich hoffte (naiv, wie ich war!), dass die Sache im Sand verlaufen würde, aber drei Monate später warfen sie ihn wieder in den Knast. Jaroslaws Mutter hat mir geschrieben, dass die Richterin nach dem – in meinen Augen absolut unmenschlichen – Hafturteil in ihrem Dienstzimmer saß und heulte.
Seit einer ganzen Weile schon geht mir das Bild dieser weinenden Frau in der Robe nicht aus dem Kopf, die einen Schüler in den Knast steckt (der niemandem etwas getan hat und es höchstwahrscheinlich auch nicht vorhatte), einfach weil der FSB so tun muss, als würde er Shootings vereiteln.
Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk
Wir können über solche Dinge nicht schweigen – und erst nicht über Folter in Strafkolonien oder dem stalinistischen Regime in Tschetschenien und dergleichen. Wir müssen darüber schreiben. Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk. Und ich sage das nicht um des Pathos’ willen – es ist leider die Wahrheit. Und man darf sich nicht einfach umdrehen, den Laptop zuklappen, weggehen und vergessen.
Deswegen habe ich die Frage „Warum betreibst du weiterhin Journalismus“, die mir Meduza gestellt hat, zehn Mal gelesen – und ihren Sinn nicht verstanden. Das ist doch absurd. Wieso „Warum“? Was denn sonst? Klar, wenn wir mit Kollegen bis nach Mitternacht in der Kneipe hocken, dann jammern wir gern über Erschöpfung und Burnout, über die unerträgliche Belastung durch fremdes Leid, über die Sinnlosigkeit unserer Arbeit, über die eigene Unzulänglichkeit und zu guter Letzt das mickrige Einkommen.
Aber alles hinschmeißen und aufhören? Im Ernst? Und was dann? In die PR, ins Politconsulting, ins Business? Nein, wenn ich genauer überlege, habe ich diese Option nie ernsthaft in Betracht gezogen. Und je schwerer die Zeiten, desto höher die Motivation weiterzumachen.