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Great Firewall of Russia?

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die offiziellen Hochrechnungen nach der Dumawahl 2021 sind wenig überraschend: Demnach erhielt die Regierungspartei Einiges Russland rund 50 Prozent der Stimmen bei der Listenwahl und 88 Prozent der Direktmandate, die kommunistische KPRF liegt mit rund 20 und vier Prozent auf Platz 2 dahinter. 

Der Wahl ging eine massive Unterdrückung der Opposition voraus – vor allem seit den Solidaritätsprotesten für den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr 2021. Im Vorfeld der Wahl hatten etwa die internationalen IT-Unternehmen Apple und Google Nawalnys App für das „kluge Wählen“ für User des Runet gelöscht – dem war unter anderem vorausgegangen, dass Strafverfahren gegen das Personal der beiden Techgiganten in Russland angedroht wurden. 

Allein aufgrund der Tatsache, dass die Wahl über drei Tage abgehalten wurde und in sieben Regionen auch online abgestimmt werden konnte, war die Beobachtung sehr schwierig (s. dazu unser FAQ zur Dumawahl). Die unabhängige Wahlbeobachtungs-NGO Golos (die als sogenannter „ausländischer Agent“ gelistet ist) berichtet von knapp 2000 Beschwerden allein am Sonntag, dem dritten Wahltag. Zudem seien viele der Wählerinnen und Wähler sogenannte Bjudshetniki, also Mitarbeiter staatlicher oder staatsnaher Institutionen und Unternehmen, die vom Arbeitgeber zur Wahl gedrängt werden. Ähnliche Berichte finden sich in zahlreichen unabhängigen russischen, aber auch deutschen Medien (ausführlich zur Wahl etwa Spiegel Online). 

Nach der Wahl ist vor der Wahl? Vor allem habe die Dumawahl 2021 gezeigt, welch große Rolle das Internet inzwischen spielt – und wie massiv die Überwachung und Zensur inzwischen sind, meint Kirill Martynow in der Novaya Gazeta. Er sieht die Dumawahl 2021 als massiven Einschnitt – nämlich als Beginn eines „chinesischen Szenarios" in Russland.

(Eine Fußnote: Die Novaya Gazeta selbst wurde am Sonntag Opfer heftiger DDoS-Attacken, die Seite war lange Zeit nicht aufrufbar.)

Quelle Novaya Gazeta

In der Nacht auf den 16. September geschah etwas Historisches im russischen Internet (Runet): Große Provider fingen mit einem Mal an, GoogleDocs zu blockieren, eines der in Russland meistgenutzten Werkzeuge für die Arbeit mit Dokumenten. Millionen von Menschen in modernen Tätigkeitsfeldern – vom Marketing bis zur Bildungsbranche – nutzen es. Das Vergehen von Google bestand darin, dass Nawalnys Anhänger auf eben dieser Plattform die Liste zum „klugen Wählen“ veröffentlicht hatten: Empfehlungen zur Protestwahl.

Ein Gesetz, das der Staatsmacht die Grundlage einer solchen Sperrung liefern würde, gibt es nicht, doch das beunruhigt unterdessen niemanden mehr: Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren. 

Zusammen mit Empfehlungen der Regierung an russische Internetanbieter, große DNS-Dienste nicht mehr zu nutzen, wirkt der Zuwachs an „Souveränität” im Runet wahrlich beeindruckend: Das Sperren von GoogleDocs war einerseits Angstmache und gleichzeitig eine Demonstration der neuen [Filter-]Fähigkeiten mittels Deep Traffic Inspection (DPI) der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor.

Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren

Den gesamten GoogleDocs-Content wegen eines einzigen Dokuments zu sperren – das ist eindeutig konträr zur Ideologie des modernen Internet, wo Unternehmen ihren Nutzern ermöglichen, von verschiedenen Orten aus gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Dieses besondere Feature der Plattform, Materialien einer unbegrenzten Menge von Nutzern zur Verfügung zu stellen, mussten die Anhänger Nawalnys nutzen, nachdem Roskomnadsor auf Googles Web-App-Plattform appspot.com den Zugang zu ihrer Seite gesperrt hatte.

Über die Sperrungen des Roskomnadsor wurde eigentlich immer gelacht, aber was die Politik für die Massen angeht, sind sie wirkungsvoll: Der Durchschnittsnutzer versteht vielleicht einfach nicht, wo er trotz des Sperrens ganzer Sektoren wichtige Informationen finden und wie der das Internet so nutzen kann, dass er diese Sperren umschifft.

Illustration © Pjotr Saruchanow/Novaya Gazeta

Der massive Funktionsausfall von GoogleDocs hat durchaus für Unmut gesorgt. Wie auch immer, noch am selben Tag wurde der Versuch, GoogleDocs stillzulegen, abgebrochen – der Dienst ist momentan ohne VPN verfügbar.

Parallel zu diesen Ereignissen fand eine Sitzung der Kommission des Föderationsrates zum Schutz der staatlichen Souveränität statt, an der auch Vertreter von Google und Apple teilnahmen. Die Veröffentlichung russischer Wahlinformationen auf internationalen Websites wurde von Parlamentariern rund um den berüchtigten Andrej Klimow als „ausländische Wahleinmischung” bezeichnet, und die US-Unternehmen wurden aufgefordert, für den Kreml sensible Informationen über das „kluge Wählen” für Nutzer zu sperren. 

Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen

Die US-amerikanischen IT-Giganten waren und blieben während der letzten Jahre die wichtigsten Institutionen der freien Meinungsäußerung in Russland – es entsprach einfach ihren kommerziellen Interessen. Diesmal jedoch verliefen die Verhandlungen der Kommission erfolgreich: Google löschte die Nawalny-App aus seinem Store, Apple tat das gleiche und entfernte in Russland außerdem sein eigenes VPN-Pendant Private Relay, eine Funktion, mit der sich Roskomnadsor-Sperren umgehen lassen. Letzteres ist symbolisch bedeutsam: Zuvor hatte der Konzern Private Relay bereits für Nutzer in China entfernt.

Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen. Für die Großkonzerne ist es in totalitären Ländern zu gefährlich, auf Seiten der Nutzer zu sein, darum schränken sie dort die Funktionalität ihrer Produkte ein. 

Laut der New York Times hat Google die Nawalny-App unter direkter Androhung von strafrechtlichen Verfahren gegen Google-Mitarbeiter in Russland aus seinem Play Store gelöscht. In dem Fall hat der Staat faktisch Vertreter des Unternehmens als Geiseln genommen – was dazu führen könnte, dass Google in Zukunft seine Präsenz in Russland auf ein Minimum reduziert. 

„Etwas Größeres retten“ – nämlich den russischen Markt 

Google ist auch noch in ganz anderer Hinsicht von der russischen Staatsmacht abhängig: Über ganz Russland sind Server der Infrastruktur Google Global Cache verteilt, welche unter anderem dafür sorgen, dass YouTube-Nutzer Videos ohne Verzögerung und in bester Qualität schauen können.  

Der Versuch, mit der Regierung einen Kompromiss zu schließen, könnte für Google und Apple bedeuten, „dadurch etwas Größeres zu retten” – nämlich den russischen Markt (wir erinnern uns, dass Google den chinesischen Markt verlassen musste, jedoch eine Rückkehr versuchte). In diesem Sinne ist der Verlust einer konkreten App nicht so schlimm, denn die Nutzer hatten ja andere Möglichkeiten, um an die sie interessierenden Informationen zu kommen.

Doch der Präzedenzfall ist geschaffen. Indem die amerikanischen Konzerne begonnen haben, das Krokodil aus der Hand zu füttern, werfen sie sich ihm allmählich in Gänze zum Fraß vor, wie es scheint. Am 18. September, dem zweiten Wahltag, veröffentlichte Nawalnys Team ein Schreiben von Google, in dem das Unternehmen fordert, Dokumente [mit Wahlempfehlungen – dek] zum „klugen Wählen“ zu löschen, wegen einer offiziellen Anfrage des Roskomnadsor. Unser lustiges Runet, in dem man die Obrigkeit beschimpfen konnte (weil sie dort nicht unterwegs ist), steht vor dem Aus.  

Et tu, Telegram?

Dass die amerikanischen Konzerne mit dem Kreml kooperieren, war für viele wohl keine große Überraschung (schließlich gilt: Business ist Business). Doch was viele russische Nutzer mitten ins Herz traf, war Pawel Durows Entscheidung, in der Nacht auf den 18. September den Telegram-Bot zum „klugen Wählen“ zu sperren. Seit 2018 wahrte sich Telegram den Ruf, eine Art libertäres U-Boot zu sein, das tapfer den Angriffen der Staatszensur ausweicht in den neutralen Gewässern der Netzprotokolle.    

Das blinde Vertrauen gegenüber Durow ist ein interessantes Forschungsobjekt für Psychologen. Telegram ist ein höchst verschlossenes Business mit Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus Russland. Die Server des Projektes laufen auf proprietärem Code, der potentiell beliebige Backdoors und Sicherheitslücken beinhalten könnte. Institutionell sind das sehr schlechte Ausgangsbedingungen, um Telegram überhaupt irgendeine sensible Information anzuvertrauen.

Außerdem sind die Pläne zur Monetarisierung von Durows Unternehmen gescheitert. Also wird es möglicherweise nicht nur durch die Peitsche des Kreml eingeschüchtert (es besteht kein Zweifel daran, dass die neuen Möglichkeiten von Roskomnadsor Telegram das Leben schwer machen könnten), sondern es wird vielleicht auch durch das Zuckerbrot des Kreml gelockt: Durow hat bereits Erfahrung mit dem Verkauf von VKontakte an Staatsoligarchen, nun hat er gezeigt, dass er wieder in Kontakt mit den russischen Behörden steht und bereit ist, deren Forderungen zu erfüllen.

Fairerweise muss man erwähnen, dass es bisher keine anderen Hinweise auf eine Zusammenarbeit zwischen Durow und dem Kreml oder den russischen Geheimdiensten gab. Sollten letztere tatsächlich direkten Zugriff auf die Messenger-Kommunikation von Telegram erhalten, würde dies sofort publik, weil sie als Beweismittel in Strafprozessen verwertet würde. Dies würde zum Niedergang von Durows Unternehmen auf den internationalen Märkten führen. 

Vielleicht hat sich Durow noch nicht festgelegt, auf welcher Seite er steht, wenn er herzzerreißende Texte darüber schreibt, dass er den Bot für das „kluge Wählen“ gesperrt hat, weil in Russland vor der Wahl angeblich Tage der „Stille“ anbrechen (tatsächlich war das in diesem Jahr nicht der Fall) und dass für ihn „dieses Vorgehen legitim“ und „die Zukunft nebelig“ ist. Telegram legt seinen Status als Kämpfer für Meinungsfreiheit in Russland ab, und man kann mit den Menschen nur mitfühlen, die so an die „libertären Kräfte des Guten“ geglaubt hatten. 

Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps

Tatsächlich ist die Zukunft klar und sie ist bereits angebrochen. Das souveräne Runet ist mit der Dumawahl Wirklichkeit geworden und wir müssen nun damit leben. Hier sind alle Arten willkürlicher Sperren möglich, die sofortige Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps auf Geheiß von Behörden, – und die US-Konzerne liefern ein Rückzugsgefecht zum Schutz ihrer Geschäftsinteressen.
Die westliche Presse wird Google unter Druck setzen, die Börsen werden die Bereitschaft des Unternehmens, den russischen Behörden zu helfen, wahrscheinlich auch nicht zu schätzen wissen.

Der Schlüssel zur Zukunft liegt jedoch bei den russischen Bürgern, die dem Staat einen Schritt voraus sein und sich vor der Zensur schützen müssen. Junge Menschen posten dieser Tage die Listen des „klugen Wählens“ als Rezension des Videospiels Civilization V auf Steam oder als Fan-Fiction auf Ficbook.

Der aktuelle Slogan lautet: Proletarier, hier ist dein VPN, nächster Halt ist das dezentralisierte Web.

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Philologe und Programmierer, Internet-Unternehmer und Verteidiger des Rechts auf Privatsphäre: Pawel Durow forderte mit seinem abhörsicheren Messenger Telegram die russische Politik heraus und zieht daraus symbolischen wie realen Gewinn.

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Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

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Pawel Durow

Philologe und Programmierer, Internet-Unternehmer und Verteidiger des Rechts auf Privatsphäre: Pawel Durow forderte mit seinem abhörsicheren Messenger Telegram die russische Politik heraus und zieht daraus symbolischen wie realen Gewinn. Es erinnerte an den Wettlauf zwischen Hase und Igel: Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hatte im April 2018 versucht, den Messengerdienst zu blockieren, mit mäßigem Erfolg und hohen Kollateralschäden. Nun schickt sich Durow, der außer Landes lebende bekennende Weltbürger, mit einer Initiative im Bereich der Kryptowährungen an, die globale digitale Ordnung zu revolutionieren. Und wird damit auch zum role model für die Jugend der Putin-Ära.

Pawel Durow ist ein weltweit erfolgreicher und angesichts seiner exzentrischen Persönlichkeit umstrittener russischer Internet-Unternehmer, der derzeit außer Landes lebt. Er stammt aus einer Intellektuellen-Familie mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Der Vater, ein renommierter Altphilologe, arbeitete zur Zeit der Perestroika an der Universität im italienischen Turin, wo Durow seine Kinderjahre verbrachte. Nach der Rückkehr der Familie nach St. Petersburg und dem Schulabschluss auf einem Elite-Gymnasium absolvierte auch der angehende Programmierer zunächst ein geisteswissenschaftliches Studium, nämlich der Anglistik. Der hochbegabte Student erhielt zahlreiche offizielle Förderungen, darunter auch ein Stipendium der Präsidialadministration. 
Im Jahr 2006, zur Zeit des ersten Booms der sozialen Netzwerke, gründet Pawel Durow gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaj die Plattform VKontakte (dt. „InKontakt“). Das eingängige Logo in Blau-Weiß will der Jungunternehmer in der ihm typischen Unbescheidenheit in nur wenigen Minuten selbst entworfen haben. 
VKontakte entwickelt sich exponentiell und überholt in der Gunst der russischsprachigen Nutzer*innen bald den heimischen Konkurrenten Odnoklassniki (dt. „Schulkameraden“) sowie – wichtiger noch – das amerikanische Vorbild Facebook. Grund für den Erfolg ist neben der einfachen Bedienbarkeit eine laxe Copyright-Politik. VKontakte wird neben seiner Funktion als Medium privater und öffentlicher Kommunikation zu einer Tauschbörse für Kinofilme und Videospiele. Entsprechend ist die Erfolgsgeschichte der Plattform von Beginn an durch Kontroversen und gerichtliche Auseinandersetzungen um die Verletzung von Autorenrechten begleitet.1 Kritische Stimmen werfen Durow selbst Diebstahl geistigen Eigentums vor, habe er doch das erfolgreiche Zuckerbergsche Facebook-Modell einfach übernommen und russifiziert. VKontakte ist auch in russischsprachigen, ehemals sowjetischen Republiken wie der Ukraine oder Kasachstan populär.

Im Zuge der Politisierung des russischsprachigen Internets verschieben sich die Kontroversen vom Copyright zum Datenschutz. Bei den sogenannten Bolotnaja-Protesten 2011/12 spielen die sozialen Netzwerke eine zentrale Rolle, darunter auch VKontakte. Dasselbe gilt ein Jahr später für die ukrainische Euromaidan-Revolution 2014 und den Sturz des kremlnahen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. 
Durow lehnt die Forderungen des FSB ab, persönliche Daten von Teilnehmern der russischen und ukrainischen Proteste preiszugeben.2 Das in der russischen Verfassung verbürgte Recht auf Schutz der Privatsphäre stehe über den Sicherheitsinteressen des Staats. Zudem fielen die ukrainischen Nutzer nicht unter die russische Gesetzgebung. Seine Position vertritt Durow gewohnt kaltschnäuzig: Er publiziert das Schreiben des FSB auf seinem VKontakte-Account zusammen mit dem Bild eines Hundes im Hoodie, dem typischen Hacker-Fashion-Accessoire. 

Screenshot ausVKontakteParallel zu den Konflikten mit der Staatsmacht spitzen sich Auseinandersetzungen unter den Aktionären von VKontakte zu, darunter auch staatlich dominierten Akteuren des russischen Medienmarkts wie mail.ru. Durow gerät zunehmend unter Druck, zumal gegen ihn auch strafrechtlich ermittelt wird. Der vorgeblich bekennende Fußgänger und Metrofahrer soll einen Polizisten angefahren und danach Fahrerflucht begangen haben.3 
Im Frühjahr 2014 verkauft Durow seinen Aktienanteil, tritt von seinem Chefposten bei VKontakte zurück und verlässt Russland. Die Bedingungen für digitales Unternehmertum seien nicht mehr gegeben.4 Seine Kritiker sehen den Grund für die ‚Emigration‘ in den wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den Aktionären sowie einer Anklage wegen Beamtenbeleidigung.

Telegram: Vom privaten Messenger zum digitalen Massenmedium

Die Fortsetzung des digitalen Siegeszugs des Pawel Durow vollzieht sich also außerhalb Russlands. Der Unternehmer-Nomade und seine Mitstreiter bringen 2013 einen Kurznachrichtendienst namens Telegram auf den Markt. Neben einer Reihe von hübschen Gadgets zeichnet sich dieser durch die Möglichkeit der Verschlüsselung privater Chats aus, im Unterschied zum Produkt Whatsapp des ewig-epischen Gegners Facebook. Der Dienst wird ob dieser Qualität weltweit populär bei Nutzern, für die Privatsphäre und Datenschutz zentral sind, bei Protestgruppen und NGOs etwa. Telegram wird aber auch von terroristischen Gruppierungen aller Couleur genutzt, in Russland (beim Anschlag auf die Petersburger Metro 2015) wie in Deutschland (beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016). Die tatsächliche Effizienz der Verschlüsselung ist dabei nach wie vor umstritten. Von einem privaten Messenger entwickelte sich der Dienst seit 2015 auch zu einem neuen massenmedialen Kommunikationsformat, über dessen öffentliche Kanäle hunderttausende Nutzer gezielt informiert werden können. Auch der Kreml nutzte diese Option gerne, bevor die Auseinandersetzungen mit dem Durowschen, auf Datenschutz setzenden Geschäftsmodell erneut eskalieren. 

Im Zuge der erwähnten, verstärkt auf Kontrolle setzenden Medienpolitik geraten Verschlüsselungstechnologien zunehmend unter Druck, in Russland wie weltweit. Argument ist der Kampf gegen den Terrorismus. Aktivisten und Regierungsgegner befürchten hingegen eine gesteigerte Überwachung unliebsamer politischer Aktivitäten. Und so entfaltet sich der zweite Akt im Drama Durow gegen den FSB, der ultimativ die Aushändigung der Verschlüsselungscodes verlangt. Der Telegram-Gründer aber bleibt bei seiner kompromisslosen Haltung. Der Messenger wird daraufhin im April 2018 von der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor auf den Index gesetzt und blockiert. Die Blockade zieht eine Reihe von Kollateralschäden nach sich. Im Zuge des Hase- und Igel-Rennens zwischen den Kontrahenten waren populäre Мedienangebote und Cloud-Services, auch von ausländischen Firmen wie Amazon oder Google, in Russland unzugänglich. Im Herbst 2018 ist Telegram in Russland mit Einschränkungen weiter nutzbar.5 

Aktuell ist der Dollar-Milliardär6 Durow dabei, Telegram zu einer umfassenden, auf Blockchain-Technologie beruhenden Dienstleistungsplattform auszubauen. Diese soll auch eine neue Kryptowährung namens Gram und damit ein verlässliches und bequemes Mittel des digitalen Bezahlverkehrs anbieten. Anfang 2018 akquirierte das Unternehmen für diesen Zweck knapp zwei Milliarden Dollar von Investoren7, ohne dass bereits Genaueres über die angekündigte revolutionäre Technologie bekannt wäre. Der russische Markt, so Experten, ist für Durow und Telegram zu klein geworden, weshalb sich der Unternehmer den Konflikt mit seinem Heimatland und dem Nachrichtendienst FSB leisten kann.8 Ein Vertrauensverlust angesichts der Preisgabe von Nutzerdaten an nationale Sicherheitsdienste würde die Marke Telegram/Durow stärker schädigen als der temporäre Verlust eines regionalen Marktes. Telegram selbst macht im Übrigen bis dato keinen Gewinn und wird von seinem Gründer aus den VKontakte-Aktienverkäufen quersubventioniert.
Unterstützt wird Durow maßgeblich von seinem Bruder Nikolaj, der als das eigentliche Programmier-Genie an seiner Seite gilt, aber hinter der exzentrischen Persönlichkeit seines Bruders zurücksteht. 

Weltbürger und Provokateur: Durow, das Mem

Die Internet-Unternehmer der digitalen Ära sind zu popkulturellen Figuren geworden, deren Biographien teils noch zu Lebzeiten verfilmt werden, wie etwa im Fall des amerikanischen Social-Media-Wunderkinds Mark Zuckerberg (Verfilmung The Social Network, 2011). Dies gilt erst recht für den exzentrischen Dollar-Milliardär Durow. In seinem charakteristischen Outfit in schwarzer Kleidung mit Kapuze scheint er selbst dem antiutopischen Film Matrix um den Hacker Neo entsprungen zu sein, dessen Physiognomie er sogar nachahmt.     
Durow charakterisiert sich seit seiner Ausreise aus Russland als Weltbürger. Versehen mit einem Pass des Inselstaats St. Kitts und Nevis reist er mit seinem Bruder und seinem Team von Programmierern durch die Welt und lebt immer nur begrenzte Zeit an einem Ort, aktuell in Dubai. Der bekennende Vegetarier ist ebenso bekennender Libertarier und lehnt Nationen ab, ganz im Sinne der grenzenlosen digitalen Welt, innerhalb derer er sich bewegt. Seine asketischen Lebensregeln mit Verzicht auf Alkohol, Kaffee, Fleisch und Fernsehen und vorgeblich auch materiellen Besitz, rufen auch amüsierte Reaktionen hervor. Kritiker seiner exzentrischen Persönlichkeit verweisen auf eine Episode in seinem Leben, die in absolut jeder Darstellung seiner Biographie zwangsläufige Erwähnung findet: 2012 wirft Durow Geldscheine im Wert von einigen Tausend Rubel als Papierflieger aus den Fenstern der Konzernzentrale an der Petersburger Promeniermeile Newski-Prospekt. Und das gerade am Tag des Sieges, an dem die gesamte russische Nation des Großen Vaterländischen Krieges gedenkt.9 Seinen Kritikern gilt dies als Beleg für seine zynisch-abgehobene Entfremdung von den eigenen Landsleuten. 
Bezeichnenderweise hat der programmierende Philologe diese Episode zu seinen Gunsten gewendet und sogar in sein Markenzeichen verwandelt: Der Papierflieger wurde zum Telegram-Logo, aber auch zum Symbol der Proteste gegen die Blockade des Messengers sowie der restriktiven russischen Medienpolitik im Allgemeinen10

Screenshot von Durows „Instagram“-Account

Durow versteht sich also nicht nur auf die technische Seite des Programmierens, sondern auch auf die Kunst der Steuerung der Netzöffentlichkeit durch virale Strategien. Putin persönlich challengt er auf seinem Instagram-Account mit Bildern, die ihn in der präsidialen Freizeitpose mit durchtrainiertem freien Oberkörper zeigen: #PutinShirthlessChallenge.11 Und verwandelt sich dabei sukzessive selbst in ein Mem. 
Gleichzeitig, so Soziologen, entwickelt sich der bei aller Exzentrik prinzipientreue Durow zu einem alternativen role model12 für die Jugend der Putin-Ära.13 Der PR-Stratege Aleksej Firsow sieht in ihm einen neuen Typus des russischen Unternehmers jenseits der etablierten oligarchischen Strukturen. Der erklärte Unwille Durows, sich im direkten Sinne politisch zu betätigen, fördere angesichts der weit verbreiteten Elitenmüdigkeit seine Glaubwürdigkeit und Popularität nur noch.14 


1.Forbes: «Vedomosti» ušli iz «VKontakte» iz-za konflikta vokrug avtorskich prav 
2.vk.com: Post von Pavel Durov vom 16. April 2014 
3.Novaya Gazeta: VKontakte s DPS 
4.Moskowski Komsomolez: Osnovatel' VKontakte: «Rossija nesovmestima c internet-biznesom» 
5.Ria Nowosti: Jurist ozenil vozmožnost' sotrudničestva meždu vlastjami i Telegram 
6.Forbes: Tektoničeskaja platforma: Forbes priznal Pavla Durova dollarovym milliarderom 
7.zeit online: Der Traum von einem neuen Internet 
8.Forbes: Bol'šaja igra: Počemu Pavel Durov ne boitsja FSB 
9.Neue Zürcher Zeitung: Der Telegram-Gründer nimmt es auch mit dem russischen Geheimdienst auf 
10.Instagram: #digitalresistance 
11.Instagram: Post von Pavel Durov vom 14. August 2017 
12.Meduza: Blocking Telegram is a blow to Russia's future 
13.Memepedia: Golyj tors i Digital Resistance: Kak Pavel Durov stal simvolom svobodny i geroem pokolenija 
14.Forbes: Čelovek c charizmoj: možet li Pavel Durov stat' političeskim liderom 
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Lenta.ru ist ein Online-Nachrichtenportal, das Newsticker, Themen-Artikel und Meinungsbeiträge kombiniert. Mit über acht Millionen Besuchern monatlich ist die Ressource eine der populärsten ihrer Art im russischen Internet. Im März 2014 sorgte die Entlassung der Chefredakteurin für Diskussionen über die Ukraine-Berichterstattung und politische Zensur im Internet.

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Facebook-Klon, Facebook-Alternative oder sogar digitaler „Auswanderungsort“: VKontakte (VK) ist das meistgenutzte soziale Netzwerk im postsowjetischen Raum. In der Praxis wirft VK immer wieder Fragen zum Daten- und Minderheitenschutz sowie zur staatlichen Kontrolle der Netzkommunikation auf. Sein Gründer Pawel Durow kam in Russland unter Druck und hat das Land inzwischen verlassen.

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Wenn Alexej Nawalny Präsident wäre, dann wäre Leonid Wolkow der Chef seiner Administration. Jan Matti Dollbaum über den zur Fahndung ausgeschriebenen Exilpolitiker, der Nawalnys Präsidentschaftskampagne geleitet hat.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)