Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die offiziellen Hochrechnungen nach der Dumawahl 2021 sind wenig überraschend: Demnach erhielt die Regierungspartei Einiges Russland rund 50 Prozent der Stimmen bei der Listenwahl und 88 Prozent der Direktmandate, die kommunistische KPRF liegt mit rund 20 und vier Prozent auf Platz 2 dahinter.
Der Wahl ging eine massive Unterdrückung der Opposition voraus – vor allem seit den Solidaritätsprotesten für den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr 2021. Im Vorfeld der Wahl hatten etwa die internationalen IT-Unternehmen Apple und Google Nawalnys App für das „kluge Wählen“ für User des Runet gelöscht – dem war unter anderem vorausgegangen, dass Strafverfahren gegen das Personal der beiden Techgiganten in Russland angedroht wurden.
Allein aufgrund der Tatsache, dass die Wahl über drei Tage abgehalten wurde und in sieben Regionen auch online abgestimmt werden konnte, war die Beobachtung sehr schwierig (s. dazu unser FAQ zur Dumawahl). Die unabhängige Wahlbeobachtungs-NGO Golos (die als sogenannter „ausländischer Agent“ gelistet ist) berichtet von knapp 2000 Beschwerden allein am Sonntag, dem dritten Wahltag. Zudem seien viele der Wählerinnen und Wähler sogenannte Bjudshetniki, also Mitarbeiter staatlicher oder staatsnaher Institutionen und Unternehmen, die vom Arbeitgeber zur Wahl gedrängt werden. Ähnliche Berichte finden sich in zahlreichen unabhängigen russischen, aber auch deutschen Medien (ausführlich zur Wahl etwa Spiegel Online).
Nach der Wahl ist vor der Wahl? Vor allem habe die Dumawahl 2021 gezeigt, welch große Rolle das Internet inzwischen spielt – und wie massiv die Überwachung und Zensur inzwischen sind, meint Kirill Martynow in der Novaya Gazeta. Er sieht die Dumawahl 2021 als massiven Einschnitt – nämlich als Beginn eines „chinesischen Szenarios" in Russland.
(Eine Fußnote: Die Novaya Gazeta selbst wurde am Sonntag Opfer heftiger DDoS-Attacken, die Seite war lange Zeit nicht aufrufbar.)
In der Nacht auf den 16. September geschah etwas Historisches im russischen Internet (Runet): Große Provider fingen mit einem Mal an, GoogleDocs zu blockieren, eines der in Russland meistgenutzten Werkzeuge für die Arbeit mit Dokumenten. Millionen von Menschen in modernen Tätigkeitsfeldern – vom Marketing bis zur Bildungsbranche – nutzen es. Das Vergehen von Google bestand darin, dass Nawalnys Anhänger auf eben dieser Plattform die Liste zum „klugen Wählen“ veröffentlicht hatten: Empfehlungen zur Protestwahl.
Ein Gesetz, das der Staatsmacht die Grundlage einer solchen Sperrung liefern würde, gibt es nicht, doch das beunruhigt unterdessen niemanden mehr: Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren.
Zusammen mit Empfehlungen der Regierung an russische Internetanbieter, große DNS-Dienste nicht mehr zu nutzen, wirkt der Zuwachs an „Souveränität” im Runet wahrlich beeindruckend: Das Sperren von GoogleDocs war einerseits Angstmache und gleichzeitig eine Demonstration der neuen [Filter-]Fähigkeiten mittels Deep Traffic Inspection (DPI) der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor.
Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren
Den gesamten GoogleDocs-Content wegen eines einzigen Dokuments zu sperren – das ist eindeutig konträr zur Ideologie des modernen Internet, wo Unternehmen ihren Nutzern ermöglichen, von verschiedenen Orten aus gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Dieses besondere Feature der Plattform, Materialien einer unbegrenzten Menge von Nutzern zur Verfügung zu stellen, mussten die Anhänger Nawalnys nutzen, nachdem Roskomnadsor auf Googles Web-App-Plattform appspot.com den Zugang zu ihrer Seite gesperrt hatte.
Über die Sperrungen des Roskomnadsor wurde eigentlich immer gelacht, aber was die Politik für die Massen angeht, sind sie wirkungsvoll: Der Durchschnittsnutzer versteht vielleicht einfach nicht, wo er trotz des Sperrens ganzer Sektoren wichtige Informationen finden und wie der das Internet so nutzen kann, dass er diese Sperren umschifft.
Der massive Funktionsausfall von GoogleDocs hat durchaus für Unmut gesorgt. Wie auch immer, noch am selben Tag wurde der Versuch, GoogleDocs stillzulegen, abgebrochen – der Dienst ist momentan ohne VPN verfügbar.
Parallel zu diesen Ereignissen fand eine Sitzung der Kommission des Föderationsrates zum Schutz der staatlichen Souveränität statt, an der auch Vertreter von Google und Apple teilnahmen. Die Veröffentlichung russischer Wahlinformationen auf internationalen Websites wurde von Parlamentariern rund um den berüchtigten Andrej Klimow als „ausländische Wahleinmischung” bezeichnet, und die US-Unternehmen wurden aufgefordert, für den Kreml sensible Informationen über das „kluge Wählen” für Nutzer zu sperren.
Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen
Die US-amerikanischen IT-Giganten waren und blieben während der letzten Jahre die wichtigsten Institutionen der freien Meinungsäußerung in Russland – es entsprach einfach ihren kommerziellen Interessen. Diesmal jedoch verliefen die Verhandlungen der Kommission erfolgreich: Google löschte die Nawalny-App aus seinem Store, Apple tat das gleiche und entfernte in Russland außerdem sein eigenes VPN-Pendant Private Relay, eine Funktion, mit der sich Roskomnadsor-Sperren umgehen lassen. Letzteres ist symbolisch bedeutsam: Zuvor hatte der Konzern Private Relay bereits für Nutzer in China entfernt.
Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen. Für die Großkonzerne ist es in totalitären Ländern zu gefährlich, auf Seiten der Nutzer zu sein, darum schränken sie dort die Funktionalität ihrer Produkte ein.
Laut der New York Times hat Google die Nawalny-App unter direkter Androhung von strafrechtlichen Verfahren gegen Google-Mitarbeiter in Russland aus seinem Play Store gelöscht. In dem Fall hat der Staat faktisch Vertreter des Unternehmens als Geiseln genommen – was dazu führen könnte, dass Google in Zukunft seine Präsenz in Russland auf ein Minimum reduziert.
„Etwas Größeres retten“ – nämlich den russischen Markt
Google ist auch noch in ganz anderer Hinsicht von der russischen Staatsmacht abhängig: Über ganz Russland sind Server der Infrastruktur Google Global Cache verteilt, welche unter anderem dafür sorgen, dass YouTube-Nutzer Videos ohne Verzögerung und in bester Qualität schauen können.
Der Versuch, mit der Regierung einen Kompromiss zu schließen, könnte für Google und Apple bedeuten, „dadurch etwas Größeres zu retten” – nämlich den russischen Markt (wir erinnern uns, dass Google den chinesischen Markt verlassen musste, jedoch eine Rückkehr versuchte). In diesem Sinne ist der Verlust einer konkreten App nicht so schlimm, denn die Nutzer hatten ja andere Möglichkeiten, um an die sie interessierenden Informationen zu kommen.
Doch der Präzedenzfall ist geschaffen. Indem die amerikanischen Konzerne begonnen haben, das Krokodil aus der Hand zu füttern, werfen sie sich ihm allmählich in Gänze zum Fraß vor, wie es scheint. Am 18. September, dem zweiten Wahltag, veröffentlichte Nawalnys Team ein Schreiben von Google, in dem das Unternehmen fordert, Dokumente [mit Wahlempfehlungen – dek] zum „klugen Wählen“ zu löschen, wegen einer offiziellen Anfrage des Roskomnadsor. Unser lustiges Runet, in dem man die Obrigkeit beschimpfen konnte (weil sie dort nicht unterwegs ist), steht vor dem Aus.
Et tu, Telegram?
Dass die amerikanischen Konzerne mit dem Kreml kooperieren, war für viele wohl keine große Überraschung (schließlich gilt: Business ist Business). Doch was viele russische Nutzer mitten ins Herz traf, war Pawel Durows Entscheidung, in der Nacht auf den 18. September den Telegram-Bot zum „klugen Wählen“ zu sperren. Seit 2018 wahrte sich Telegram den Ruf, eine Art libertäres U-Boot zu sein, das tapfer den Angriffen der Staatszensur ausweicht in den neutralen Gewässern der Netzprotokolle.
Das blinde Vertrauen gegenüber Durow ist ein interessantes Forschungsobjekt für Psychologen. Telegram ist ein höchst verschlossenes Business mit Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus Russland. Die Server des Projektes laufen auf proprietärem Code, der potentiell beliebige Backdoors und Sicherheitslücken beinhalten könnte. Institutionell sind das sehr schlechte Ausgangsbedingungen, um Telegram überhaupt irgendeine sensible Information anzuvertrauen.
Außerdem sind die Pläne zur Monetarisierung von Durows Unternehmen gescheitert. Also wird es möglicherweise nicht nur durch die Peitsche des Kreml eingeschüchtert (es besteht kein Zweifel daran, dass die neuen Möglichkeiten von Roskomnadsor Telegram das Leben schwer machen könnten), sondern es wird vielleicht auch durch das Zuckerbrot des Kreml gelockt: Durow hat bereits Erfahrung mit dem Verkauf von VKontakte an Staatsoligarchen, nun hat er gezeigt, dass er wieder in Kontakt mit den russischen Behörden steht und bereit ist, deren Forderungen zu erfüllen.
Fairerweise muss man erwähnen, dass es bisher keine anderen Hinweise auf eine Zusammenarbeit zwischen Durow und dem Kreml oder den russischen Geheimdiensten gab. Sollten letztere tatsächlich direkten Zugriff auf die Messenger-Kommunikation von Telegram erhalten, würde dies sofort publik, weil sie als Beweismittel in Strafprozessen verwertet würde. Dies würde zum Niedergang von Durows Unternehmen auf den internationalen Märkten führen.
Vielleicht hat sich Durow noch nicht festgelegt, auf welcher Seite er steht, wenn er herzzerreißende Texte darüber schreibt, dass er den Bot für das „kluge Wählen“ gesperrt hat, weil in Russland vor der Wahl angeblich Tage der „Stille“ anbrechen (tatsächlich war das in diesem Jahr nicht der Fall) und dass für ihn „dieses Vorgehen legitim“ und „die Zukunft nebelig“ ist. Telegram legt seinen Status als Kämpfer für Meinungsfreiheit in Russland ab, und man kann mit den Menschen nur mitfühlen, die so an die „libertären Kräfte des Guten“ geglaubt hatten.
Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps
Tatsächlich ist die Zukunft klar und sie ist bereits angebrochen. Das souveräne Runet ist mit der Dumawahl Wirklichkeit geworden und wir müssen nun damit leben. Hier sind alle Arten willkürlicher Sperren möglich, die sofortige Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps auf Geheiß von Behörden, – und die US-Konzerne liefern ein Rückzugsgefecht zum Schutz ihrer Geschäftsinteressen.
Die westliche Presse wird Google unter Druck setzen, die Börsen werden die Bereitschaft des Unternehmens, den russischen Behörden zu helfen, wahrscheinlich auch nicht zu schätzen wissen.
Der Schlüssel zur Zukunft liegt jedoch bei den russischen Bürgern, die dem Staat einen Schritt voraus sein und sich vor der Zensur schützen müssen. Junge Menschen posten dieser Tage die Listen des „klugen Wählens“ als Rezension des Videospiels Civilization V auf Steam oder als Fan-Fiction auf Ficbook.
Der aktuelle Slogan lautet: Proletarier, hier ist dein VPN, nächster Halt ist das dezentralisierte Web.