Im Runet hat dieser Auftritt für viel Spott und Häme gesorgt: Kaum hatte der britische Geheimdienst Fotos von den beiden Verdächtigen im Fall Skripal veröffentlicht, gaben die beiden RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan ein Interview. Sie seien nur russische Touristen, versicherten sie, die die „englischen Gotik genießen“, die „berühmte Kathedrale von Salisbury“ besichtigen wollten. Ruslan Boschirow und Alexander Petrow seien ihre richtigen Namen.
Es waren vor allem russische Medien, The Insider und Fontanka, die weiter recherchierten: Demzufolge sind die beiden tatsächlich Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes GRU, die mit bürgerlichen Namen Anatoli Tschepiga und Alexander Mischkin heißen sollen. The Insider arbeitete dabei eng zusammen mit dem investigativen Recherchenetzwerk Bellingcat.
Wie genau sind die russischen Journalisten bei ihren Recherchen vorgegangen?
Und: Die Ergebnisse dürften dem Kreml kaum gefallen haben – fürchten sie jetzt nicht um ihre Sicherheit?
Diese und andere Fragen stellt Meduza dem Chefredakteur von The Insider Roman Dobrochotow.
Update: Am 23. Juli 2021 wurde The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.
Meduza: Dies ist nicht Ihre erste gemeinsame Recherche mit Bellingcat. Da gab es im letzten Jahr die Nachforschungen zur Verbindung Russlands mit dem Umsturzversuch in Montenegro und die Geschichte mit dem GRU-General, den Sie als Verantwortlichen für den Abschuss der Boeing MH-17 über dem Donbass nennen. Wie hat Ihre Zusammenarbeit angefangen?
Roman Dobrochotow: Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob die ukrainische oder montenegrinische Untersuchung zuerst war. Irgendwann im Jahr 2016 machte ich Bekanntschaft mit einem der führenden Investigativjournalisten von Bellingcat, Christo Grozev, der unter dem Pseudonym Moris Rakuschizki publiziert.
Und dann war ich im selben Jahr zu einem Training von Bellingcat in Tbilissi und lernte dort einen weiteren Investigativjournalisten, Aric Toler, kennen. Mit denen arbeiten wir hauptsächlich zusammen, den Gründer von Bellingcat Eliot Higgins kenne ich kaum.
Wir sind immer bereit, mit Rechercheorganisationen zusammenzuarbeiten. Aber im vorliegenden Fall war die Zusammenarbeit besonders produktiv, weil sie in Russland dringend einen Partner brauchten. Es gibt vieles, was für russische Journalisten einfacher ist.
In Loiga [wo Alexander Mischkin, also Petrow, geboren wurde] gaben Einheimische unserem Korrespondenten gerne und bereitwillig Auskunft. Es ist richtig, dass die Bewohner auch mit Ausländern sprechen, nur insgesamt ist es für Leute von Bellingcat in Russland schwierig, denn niemand weiß, was hier womöglich mit ihnen passiert.
In all Ihren Untersuchungen kommen Mitarbeiter des russischen Militärnachrichtendienstes GRU vor. Ist das Zufall?
Anfangs war ich auch überrascht. Noch vor der Zusammenarbeit mit Bellingcat machten wir Recherchen über russische Hacker, die in den Briefwechsel von Emmanuel Macron eingedrungen sind. Das waren die gleichen Leute [vom GRU]. Es gelang uns zu beweisen, dass Fancy Bear, der auf amerikanische Server eindrang, mit dem GRU in Zusammenhang stand. Wir haben sogar die genaue Militäreinheit ausgemacht. Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte.
Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte
Eigentlich ist das durchaus verständlich. Denn uns wie auch Bellingcat interessieren die lauten Themen: Ukraine, Hacker, Skripal. Diese sind, sagen wir, mit der russischen Aggression nach außen verbunden, die seit 2014 zugenommen hat. Und es gibt nur diese eine Organisation, die sich mit der Annexion von Gebieten in Nachbarstaaten, Hackerangriffen und Giftanschlägen beschäftigt. Der FSB ist für Innenpolitik verantwortlich und der SWR für Spionage und Informationsbeschaffung.
Was war der Anhaltspunkt bei den Recherchen über Petrow und Boschirow? Das Interview der beiden mit Margarita Simonjan?
Nein, wir haben uns bereits früher für das Thema interessiert. Und zwar, als das britische Fernsehen die zwei Fotos zeigte, und der britische Geheimdienst MI-6 mitteilte, sie würden die richtigen Namen kennen, die Beweise jedoch würden fehlen.
Jetzt wussten wir, wonach wir suchen mussten. Wir begriffen, dass es sich um GRU-Spione handeln musste, wenn das sogar der britische Geheimdienst verlauten ließ. Die Namen waren gefälscht, irgendwo mussten die richtigen sein. Wir kannten die Täter der Story also bereits und mussten jetzt Informationen zu ihnen finden.
Als die beiden bei Simonjan auftraten, war sofort klar, dass man der russischen Bevölkerung nicht würde beweisen müssen, was von diesen beiden Liebhabern gotischer Architektur zu halten war. Wir mussten trotzdem Beweisdokumente finden. Wir fanden Passauszüge, und das war sehr wichtig.
Erzählen Sie, wie war die Aufgabenteilung. Soviel ich weiß, arbeiteten Sie mit offenen Quellen. Was den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken betrifft, wie zum Beispiel die der russischen Pässe, war das Bellingcats Aufgabe. Wie kommt das?
Den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken hatte Bellingcat erhalten. Wir arbeiteten mit offenen Datenbanken, wie zum Beispiel Rosrejestr. Bei offenen Quellen und Sozialen Netzwerken arbeiteten wir zusammen, und alles, was mit Anrufen und Reisen zu tun hatte, erledigten wir.
Warum aber hat ausgerechnet Bellingcat mit den nicht öffentlichen Datenbanken gearbeitet?
Da kamen zwei Dinge zusammen. Erstens wollten wir die Journalisten nicht zum illegalen Handeln ermuntern. Zweitens haben wir in der Tat keinen Zugang [zu Leuten mit Zugriff auf nicht öffentliche Datenbanken]. Und Bellingcat hat ihn. Also mussten wir nicht mal diskutieren: Sie kamen an die Informationen heran, mit denen wir dann wiederum weiterarbeiteten.
Gab es irgendwelche Quellen außer den öffentlichen Daten oder offiziellen Datenbanken? Zum Beispiel Informanten?
Es gab Leute, die uns Expertentipps gaben, zum Beispiel darüber, wo die Mitglieder des Militärgeheimdienstes ausgebildet werden. Aber das spielte keine so große Rolle.
Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß
Der schwierigste Teil einer solchen Arbeit ist das Festlegen des Untersuchungs-Designs, wie Wissenschaftler es nennen. In diesem Fall war es das Recherche-Design. Sich ausdenken, wie man nach Informationen suchen wird: Da haben Sie also den Namen von jemandem, einen gefälschten Namen. Und jetzt? Wie suchen Sie den echten? Sie haben alle Datenbanken der Welt. Wo ist der kürzeste Weg von Punkt A nach Punkt B? Hier ist kreatives Denken gefragt.
Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Sherlock Holmes war mein erstes Buch, das ich von vorne bis hinten gelesen habe. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß.
In Ihren Artikeln werden die Recherchen Schritt für Schritt aufgezeigt. Dabei ist nicht immer klar, was hinter den Kulissen bleibt.
Zum Beispiel die Geschichte mit Petrow, der Mischkin ist. Die Hypothese war folgende: Angenommen, er hat nur den Familiennamen gewechselt und alle anderen Daten sind unverändert geblieben. Das war doch die erste Hypothese, die dann auch gleich stimmte, oder doch nicht?
Das war nicht die erste Hypothese, davor gab es andere, die nicht stimmten. Wäre uns dieser Geistesblitz gleich gekommen, dass ein Mitglied des Militärgeheimdienstes wie bei früheren Recherchen, zum Beispiel über Montenegro, nur den Familiennamen ändert, hätte uns das die Sache sehr vereinfacht, und die Recherche wäre viel früher publiziert worden.
Wir haben ziemlich lange dies und das probiert, angefangen mit der Suche nach dem Foto auf den Sozialen Netzwerken. Mir brannten die Augen, weil ich pro Tag tausende von Fotos von Absolventen der Militärgeheimdienstschulen in den Sozialen Netzwerken anschauen musste.
Mir brannten die Augen, weil ich einen ganzen Tag tausende von Fotos in den sozialen Netzwerken anschauen musste
Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert. Doch nach ungefähr einer Woche kam uns der Gedanke, wir könnten ganz einfach stumpf die Datenbanken durchkämmen nach Familiennamen, Vatersnamen und Geburtsdatum. Wir wurden sofort fündig. Schon der erste Auszug aus St. Petersburger Daten gab uns den Namen Mischkin.
Boschirow wurde meines Wissens anhand eines Fotos ausfindig gemacht. Sie haben es gefunden, als Sie den Zeitraum seines möglichen Abgangs von einer Militärgeheimdienstschule, die mit dem GRU zusammenhängt, eingegrenzt haben. Trotzdem mussten Sie wohl tausende oder zehntausende von Namen filtern?
Wären wir der Reihe nach vorgegangen, ja. Aber hier hatten wir sofort Glück.
Erstens war die DWOKU auf der Liste der erstrangigen Schulen, die wir anschauten.
Zweitens war auf einem Absolventen-Foto jemand zu sehen, der uns entfernt an Tschepiga erinnerte – ich weiß bis heute nicht, ob er es war oder nicht.
Da schauten wir uns die DWOKU genauer an. Ich hatte dann noch mal Glück. Wir schauten uns all diese tausend Absolventen an und stießen dabei auf das Foto mit dem Ehrendenkmal und dort aufgelistet die Helden Russlands im Hof dieser Schule. In der DWOKU werden alle vor diesem Ehrendenkmal fotografiert. Und der Name Tschepiga prangte da die ganze Zeit in goldenen Lettern.
Worin unterschied sich gerade dieser Name? Weil es keine Biografie dazu gab?
Um genau zu sein, hatten wir zwei Namen ohne Biografie. Bei dem einen stimmte das Alter nicht. Und Tschepiga passte. Es war also klar, dass es um ein Mitglied des Militärgeheimdienstes mit verdeckter Biografie ging, der irgendeine unglaubliche Heldentat begangen hatte. In der Passdatenbank stießen wir sofort auf ein Foto, was uns eine Menge Mühe ersparte.
Haben Sie irgendwie versucht, die Informationen, die Sie aus den geheimen Datenbanken hatten, zu verifizieren?
Nehmen wir zum Beispiel Mischkin. Es wurde uns klar, dass es nur eine Person mit einer solchen Kombination von Familien- und Vaternamen und Geburtsdatum geben konnte. Wir fanden heraus, dass er an einer Universität studiert hat und nach Moskau gegangen ist. Dass er in der Choroschewskoje Chaussee 76 registriert ist, wo sich das Hauptquartier des GRU befindet. Das allein ist schon ein seltsames Zusammenfallen von Umständen.
Weiter sichteten wir Dutzende andere Datenbanken: Mobiltelefone, Fahrzeugversicherungen, Fahrzeugregistrierung, Pässe und so weiter, und so weiter.
Wir fanden eine große Menge an Informationen, die bestätigten, dass die Person wirklich ein Mitglied des Militärgeheimdienstes war, und seine Biografie passt wie ein Puzzle-Teil zu der von Petrow.
Und später fanden wir in dieser Datenbank einen Scan des Passes und auf dieser Kopie stimmen alle uns bekannten Daten überein. Und wir wussten, dass die Person, die uns den Scan gegeben hat, nicht von sich aus auf uns zugekommen ist und den Scan vorher nachjustieren konnte. Es gibt keine Möglichkeit und keine plausible Hypothese, wie diese Daten hätten manipuliert werden können.
Wie schätzen Sie das Sicherheitsrisiko für die Journalisten ein? Verstehe ich richtig, dass sich Bellingcat freier bewegen kann, weil die russische Regierung nicht an sie herankommen?
Bedingt. Skripal war auch außer Reichweite. Wenn es um einen Mordanschlag geht, tragen alle mehr oder weniger ein Risiko. Ehrlich gesagt scheint mir, dass sich unsere Partner von Bellingcat in größerer Gefahr befinden als ich. Denn sollte mich hier jemand kaltstellen, muss gar keiner erst fragen „Wer hat das getan und warum?“.
Bei einem Mord an einem Investigativjournalisten von Bellingcat im Ausland würden die russischen Behörden immer sagen können, sie hätten nichts damit zu tun, das sei nicht auf ihrem Territorium geschehen.
Gab es für Sie oder andere Journalisten Gefahren?
Naja. Bei unseren Recherchen geht es ja nicht um Tschetschenen oder Banditen, die uns bedrohen oder anzeigen könnten.
Viele machen sich natürlich Sorgen, und in England bekam ich den Rat, unter keinen Umständen nach Russland zurückzukehren. Ich denke aber, solange wir im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sind die politischen Risiken solcher Handlungen, sei es eine Festnahme oder ein Mord, ziemlich hoch. Auch wäre der Gewinn nicht besonders groß, denn die Recherche ist publik.