Ruslan Boschirow, Tatverdächtiger im Fall Skripal, soll ein Agent des Geheimdienst GRU sein und mit bürgerlichem Namen Anatoli Wladimirowitsch Tschepiga heißen. Das ergaben Recherchen von Bellingcat und The Insider. Demnach ist Tschepiga ein hoher GRU-Offizier und sogar als „Held der Russländischen Föderation“ ausgezeichnet worden. Er soll am 5. April 1979 in Nikolajewka, in der Oblast Amur im Fernen Osten Russlands geboren sein, die Militärhochschule in Blagoweschtschensk besucht und in Chabarowsk in einer der Elitebrigade einer GRU-Sondereinheit gedient haben. Den Decknamen Ruslan Boschirow hat er demnach bei seiner Versetzung nach Moskau erhalten, 2014 soll er möglicherweise auch in der Ukraine eingesetzt gewesen sein.
Die russische Regierung beharrt trotz der neuesten Recherchen darauf, dass es sich bei Ruslan Boschirow um einen zivilen Touristen handle, der Salisbury rein privat besucht habe.
Kommersant dagegen nahm diese Untersuchungen zum Anlass, im Dorf Berjosowka, wo die Familie Tschepiga lange lebte, nach Bekannten der Familie zu suchen. Die Dorfbewohner baten darum, anonym zu bleiben, auch aus Angst vor Problemen mit dem FSB. Kommersant veröffentlichte den Text bislang nur online, nicht in der Printausgabe.
Quelle
„Das ist er, Tolja!“, bekräftigt eine Gesprächspartnerin, die zu Schulzeiten engen Kontakt mit Herrn Tschepiga hatte. „Das ist er hundertprozentig. Die fast schwarzen Haare und die Stimme sind seine“, bestätigt sie Kommersant. „Im Jahr 1996 hat er in Berjosowka die Schule abgeschlossen und ist dann an die Militärhochschule DWOKU gegangen. Ein sehr kluger, guter Junge, scharfsinnig, wortgewandt, war ein guter Schüler. Über ihn können alle nur Positives berichten. Hat nicht getrunken, nicht geraucht, war nie in irgendwelche schlechten Kreise geraten. Ich erinnere mich genau, dass er Anfang April Geburtstag hat. Seine Schwester Galja war etwas älter.“ Die Gesprächspartnerin des Kommersant gibt an, dass sie Anatoli Tschepiga in allen veröffentlichten Materialien wiedererkennt.
Anatoli Tschepigas Vater, Wladimir Maximowitsch, war in den 1990ern Direktor der Baufirma Iwanowskaja in Berjosowka, danach arbeitete er für die Armee. Nach Angaben von kartoteka.ru war Wladimir Maximowitsch Tschepiga Mitbegründer der Baufirma Iwanowskaja in der Oblast Amur mit einem Anteil von 5,61 Prozent (sein Anteil am Stammkapital: 3.300 Rubel). Tschepigas Mutter arbeitete als Buchhalterin in einem der Unternehmen.
An die Familie Tschepiga erinnert man sich gut im Dorf, obwohl sie vor einigen Jahren nach Blagoweschtschensk gezogen ist. Anatoli Tschepiga wurde nach Abschluss der Militärhochschule neuen Standortеn zugewiesen. Den Dorfbewohnern zufolge ist er verheiratet und hat zwei Kinder. Vor nicht allzu langer Zeit wurde im Dorf die Neuigkeit diskutiert, seine Familie habe angeblich eine Vierzimmerwohnung in Moskau bekommen.
„Wir wussten, dass er in geheimer Mission an Brennpunkten eingesetzt ist. Seine Mutter weinte: Selbst die Familie war nicht darüber informiert, wo genau er sich befindet“, erzählt eine Einwohnerin aus Berjosowka. „Seine Frau wohnte in Chabarowsk, wartete. Ich hab ihn das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen, als er seine Verwandten besuchte.“
„Er war schon fast kahl, nicht so wie auf dem Foto, er hatte einen offenen Blick, aber der auf dem Foto sieht finster drein. Obwohl, die Augen sind auch braun“, sagt sie.
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Eröffnungsfeier der WM 2018 in Moskau
Was heute die Stadien erfüllt, ertönte im Jahr 2000 zum ersten Mal im Kremlpalast – als neue Hymne der Russischen Föderation. Neu ist sie aber nur bedingt: Die majestätische Hymne in C-Dur mit dem markant punktierten Rhythmus komponierte Alexander Alexandrow bereits in den 1940er Jahren. Sie diente über 50 Jahre lang als Hymne der UdSSR. Untermalt mit den Worten des Schriftstellers Sergej Michalkow besang sie die „unzerbrechliche Union freier Republiken“ und die Partei Lenins, die das sowjetische Volk „zum Triumph des Kommunismus führt“. Die pompöse Melodie kommt mit neuem Text daher. Dieser stammt jedoch vom gleichen Autor wie in der Originalversion. Anstelle der UdSSR wird nun Russland als „unser freies Vaterland“ gepriesen. Die Hymne leitet damit fast nahtlos vom Sowjetstaat zum heutigen Russland über.
Zurück in die Vergangenheit
Der Wiedereinzug der Hymne in das Reservoir russischer Staatssymbole war eine der ersten Amtshandlungen des frischgekürten Präsidenten Putin. Mit dieser akustischen Rolle rückwärts setzte Wladimir Putin eines der ersten Signale seiner Amtszeit. Die sowjetische Vergangenheit betrachtete er nicht länger als aufzuarbeitende, abgeschlossene Epoche, sondern als historisches Erbe und sinnstiftendes Element für die Herrschaftsinszenierung in der Russländischen Föderation der Gegenwart. Damit untermauerte Putin einen neuen Kurs: Nach den wilden 1990ern unter Boris Jelzin sollte eine neue, alte Ära der Stabilität und Größe angestrebt werden.
Das patriotische Lied
Die 1990er Jahre klangen noch ganz anders. Zu Beginn des Jahrzehnts – als die Auflösung der „sicheren Festung der Völkerfreundschaft“ (UdSSR) denkbar wurde – standen die Erbverwalter des Imperiums in Moskau und Leningrad vor einem handfesten Problem: Die Russische Sowjetrepublik (RSFSR) war die einzige Nation der Sowjetunion gewesen, der es im Vielvölkergebilde neben der übergeordneten Sowjethymne an einer eigenen mangelte. Als „Großer Bruder“ der Völkerfamilie und unbestrittener primus inter pares war es den Staatslenkern in Moskau bisher nicht nötig erschienen, eine eigene Staatssymbolik für Russland zu propagieren. 1990 trat dann das Patriotische Lied, eine lang vergessene Komposition Michail Glinkas (1804–1857), der als Ahnherr der russischen Musik gilt, in Erscheinung.
Während einer Sitzung des Obersten Sowjets der RSFSR spielte ein Blasorchester die kurz zuvor entdeckte Komposition, die Glinka mutmaßlich als Hymne für das Zarenreich seiner Zeit angedacht, jedoch letztendlich nie vollendet und publiziert hatte. Weil das Musikstück dem beisitzenden Jelzin so gut gefiel, bat er das Orchester, das Stück erneut vorzutragen. Wie es normalerweise nur bei Nationalhymnen üblich ist, erhoben sich einige der Anwesenden zu den Klängen von Glinkas Patriotischem Lied, woraufhin dessen Status als Nationalhymne besiegelt schien.1
Im Jahr 1993, als die Sowjetunion bereits aufgelöst worden und die RSFSR zur Russischen Föderation übergegangen war, griff Jelzin bei der Auswahl der Hymne auf eben jene Komposition zurück und entschied Glinkas Patriotisches Lied per Dekret zur Hymne der jungen Nation.
Die stummen 1990er
Dies sollte nun eine doppelte Leerstelle füllen: Auf der einen Seite führte es zur musikalischen (Re-)Nationalisierung Russlands im postsowjetischen Raum, auf der anderen Seite sollte das Werk angesichts der in Abwicklung begriffenen Sowjetunion neue Sinninhalte stiften. In den 1990er Jahren hatte das Patriotische Lied jedoch einen schweren Stand. Es wurde unfreiwillig zum Soundtrack von Turbokapitalismus und Hyperinflation, die vielen ehemaligen Sowjetbürgern den wirtschaftlichen und moralischen Boden unter den Füßen wegzogen. Außerdem fehlte es der Hymne an einem entscheidenden Detail: Glinka selbst hatte das Klavierstück instrumental komponiert und nicht mit Text unterlegt. Wer in die Melodie einstimmen wollte, dem blieb also nur das Mitsummen. Sehr spät, im Jahr 1999, suchte ein Wettbewerb nach Worten zur Melodie. Viktor Radugin gewann mit seinem Vorschlag Slawsja Rossija (dt. „Ruhm dir, Russland“), die Zeilen des Textes wurden jedoch letztendlich nicht zur Hymne hinzugefügt.
In den 1990er Jahren lauschten russische Fußballspieler der Hymne schweigend
Als Wladimir Putin im Mai 2000 das Präsidentenamt übernahm, vergingen nur ein paar Wochen, bis sich Athletinnen und Athleten angesichts der Olympischen Sommerspiele in Sydney an den neuen Machthaber wandten. Sie gaben zu Protokoll, wie sehr es sie gekränkt habe, im Gegensatz zu ihren Mitstreitern nicht ihre Hymne mitsingen zu können. Das Ersuchen nahm Putin als Steilvorlage, um mit der Einsetzung der neuen Hymne ein erstes Zeichen zu setzen.
Politik mit Tönen
Putin verzeichnete mit der Einführung der „neuen alten“ Hymne einen wichtigen Erfolg. Sie war ein kulturelles Vorzeichen für die in den folgenden Jahren dominante Erinnerungspolitik, die den Stolz auf das sowjetische Erbe über- und die Schattenseiten der eigenen Vergangenheit unterbetonte. Die Aneignung der Hymne in den folgenden Jahren machte jedoch auch die Widersprüchlichkeit dieser besonderen „akustischen Politik“ deutlich. Nicht wenigen dürfte das Erklingen der Hymne zur Beerdigung von Boris Jelzin im Jahr 2007 merkwürdig erschienen sein. Eine Umfrage aus dem Jahr 2009 behauptete, dass 56 Prozent der Befragten „stolz“ seien, wenn sie die Nationalhymne hörten. Gleichzeitig war es damals weniger als der Hälfte der Befragten möglich, die erste Zeile des Textes zu zitieren.2 Zehn Jahre später wird vielen jungen Menschen in den Stadien des eigenen Landes der sowjetische Kontext der Hymne kaum mehr präsent erscheinen. Als musikalischer Zeitsprung verknüpft sie jedoch bis heute russische Gegenwart unmittelbar mit sowjetischer Vergangenheit.
Weiterführende Literatur:
Frolova-Walker, M. (2004): Music of the soul?, in Franklin, S. & Widdis, E. (Hrsg.): National Identity in Russian Culture: An Introduction, Cambridge, S. 116-131
De Keghel, Isabelle (2008): Die Staatsymbolik des neuen Russland: Tradition – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse, Münster
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