Unabhängige journalistische Arbeit war in Russland schon immer gefährlich: In den 1990er Jahren wurden Dutzende Journalisten während der Ausübung ihres Berufs getötet, seit etwa 2003 pendelt das Land in der Rangliste der Pressefreiheit beständig um die Marke 145 von rund 180. In den vergangenen Jahren haben die Einschränkungen für die Arbeit von Journalisten sukzessive zugenommen, in dieser Woche hat der Druck auf Pressevertreter einen neuen Höhepunkt erreicht.
Gleich drei Fälle versetzen derzeit die Redaktionen unabhängiger Medien in Alarmstimmung: Am Montag wurde die Journalistin Swetlana Prokopjewa wegen angeblicher Rechtfertigung von Terrorismus zu umgerechnet rund 6000 Euro Strafe verurteilt. Am selben Tag wurde auch eine Untersuchung gegen Pjotr Wersilow eingeleitet, den Herausgeber von Mediazona und Aktivisten von Pussy Riot: weil er die Behörden nicht über seine kanadische Staatsbürgerschaft informiert hatte. Nun sorgt der Fall Safronow für Aufsehen: Der ehemalige Journalist soll Landesverrat begangen haben, ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft.
In einer Atmosphäre der Zensur, Einschüchterung und Verfolgung wendet sich die Redaktion von Projekt mit einem Editorial an ihre Leser: Was sind die eigentlichen Gründe für die Verhaftung von Iwan Safronow, und was kann man überhaupt noch tun gegen die fortschreitende Einschränkung der Pressefreiheit?
Journalismus ist kein Verbrechen, sondern Arbeit für das Wohl der Gesellschaft. Doch die russischen Behörden sehen das anders: Eine erneute Bestätigung dafür ist die Verhaftung des ehemaligen Kommersant- und Vedomosti-Journalisten Iwan Safronow. Er wird des Landesverrats verdächtigt. In einem Land, in dem die Behörden vom Syndrom der Belagerten Festung infiziert sind und in jedem denkenden Menschen einen Feind und Spion sehen, ist die erschreckende Häufung von Strafverfahren gegen Journalisten nur folgerichtig. Aber eine Gesellschaft, die sich der Bedeutung echter journalistischer Arbeit bewusst ist, kann die Behörden – manchmal – dazu zwingen, nachzugeben.
Symptomatische Unstimmigkeit
Über den Gegenstand des Verfahrens gegen Safronow ist bisher vor allem aus den Berichten von Silowiki oder anonymen Quellen aus den Strafverfolgungsbehörden etwas bekannt. Es geht um Artikel 275 des Strafgesetzbuches: Landesverrat, bis zu 20 Jahre Haft. „Safronow hat Aufträge eines der Nachrichtendienste der NATO erfüllt, er hat einem ihrer Vertreter Informationen übergeben, die Teil des Staatsgeheimnisses über die militärtechnische Zusammenarbeit, Verteidigung und Sicherheit der Russischen Föderation sind“, erklärte der FSB (zitiert nach: TASS). [Die russische Raumfahrtbehörde – dek] Roskosmos, wo Safronow in den vergangenen zwei Monaten als Berater des Generaldirektors Dimitri Rogosin tätig war, hat bereits erklärt, dass die Vorwürfe gegen Safronow nicht in Zusammenhang mit seiner Arbeit in dem Staatsunternehmen stehen. Präsidentensprecher Dimitri Peskow sagte, die Verhaftung habe – „soweit der Kreml weiß“ (zitiert nach: RIA) – auch nichts mit Safronows journalistischer Arbeit zu tun. Diese Unstimmigkeit ist symptomatisch.
Safronow ist in seinem beruflichen Umfeld ein anerkannter Experte auf den Gebieten Rüstungsindustrie, Raumfahrt und Waffenexporte. Auch sein Vater Iwan Safronow senior war Militärexperte und arbeitete für Kommersant; er verstarb 2007 unter merkwürdigen Umständen, laut offizieller Version beging er Selbstmord.
Heikles Themenfeld
Dies ist ein heikles Themenfeld: 2019 hat Safronow mit seinem Kommersant-Artikel über die Exportpläne russischer Su-35-Kampfflugzeuge nach Ägypten einen Skandal provoziert. Der Artikel wurde von der Website genommen, Kommersant drohte eine Klage wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen, Rosoboronexport [ein staatliches Unternehmen für den Export von Rüstungsgütern – dek] dementierte den Vertrag, das US-Außenministerium drohte Ägypten mit Sanktionen. Journalisten, die mit Safronow zusammengearbeitet haben, halten die Vorwürfe des Landesverrats für absurd und bezeichnen ihn als ehrlichen und prinzipientreuen Mann, als Patrioten seines Landes und seiner Sache.
Die russischen Behörden haben jedoch ihre eigenen Vorstellungen von Patriotismus und auch von Journalismus: Sie trauen den Bürgern nicht – und insbesondere nicht den Journalisten. In Reportagen über heikle Themen, in Recherchen zu Korruption und in kritischen Kolumnen sehen sie Bedrohung, Provokation und Rechtfertigung von Terrorismus. Der Spionagewahn hat die gesamte Vertikale von der Spitze an befallen: So sagte Nikolaj Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrats, im Juni erneut, dass „der Westen (und allen voran die USA und die NATO) Russland als Feind betrachtet, [...] regelmäßig die kontrollierten Medien und das Internet nutzt, um die Führung unseres Landes, die Institutionen der Staatsmacht und die patriotischen politischen Leader zu diskreditieren [...] Ständig werden die Aktivitäten zur Destabilisierung der soziopolitischen Lage in unserem Land intensiviert“. In einer solchen Atmosphäre laufen Journalisten Gefahr, als Erste getroffen zu werden – zumal der Staat viele Möglichkeiten hat, Druck auszuüben und einzuschüchtern.
Landesverrat bietet sich vor diesem Hintergrund an als passender Artikel aus dem Strafgesetzbuch. Die Definition von Landesverrat ist sehr weit gefasst, die Ermittlungen finden in der Regel genauso unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt wie der Gerichtsprozess selbst. Die Argumente der Verteidigung und die Aussagen der Angeklagten können der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben, wenn Anwälte zu Stillschweigen verpflichtet werden.
Niemand mag Spione und Verräter
Landesverrat ist auch ethisch ein toxischer Artikel: Niemand mag Spione und Verräter, und ob es Beweise für ihr Verbrechen gibt – wer weiß das schon. Für normale Menschen wird es schwierig sein, sich mit dem mutmaßlichen Landesverräter zu solidarisieren: Landesverrat erscheint ihnen als etwas, das unendlich weit von ihrem Leben entfernt ist, als etwas aus der Welt der Diplomaten, großer Wissenschaftler oder hoher Militärs.
In Wirklichkeit kann aber jeder einfache Mensch des Landesverrats beschuldigt werden.
Denken Sie an den Fall Swetlana Dawydowa – eine Hausfrau aus Wjasma. 2015 wurde sie des Landesverrats angeklagt, weil sie die ukrainische Botschaft angerufen hatte und darüber berichtete, dass ein Standort des Militärgeheimdienstes GRU neben ihrer Wohnung teilweise verlassen sei. Dawydowa vermutete, dass das Militär in die Ukraine geschickt worden ist.
Denken Sie an den Fall Oxana Sewastidi, eine Verkäuferin aus Sotschi: 2008 hatte sie eine Textnachricht über Züge voll mit russischer Militärausrüstung an einen Bekannten in Georgien geschickt – und ist dafür zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Sewastidi wurde vom Präsidenten begnadigt, und der Fall Dawydowa wurde mangels eines Straftatbestands eingestellt. In beiden Fällen reagierten die Behörden erst nach umfassenden öffentlichen Protesten, provoziert durch die Absurdität der Anschuldigungen.
Wie die Geschichte des Journalisten Iwan Golunow aus dem vergangenen Jahr zeigt, ist eine massive öffentliche Resonanz auf absurde Ermittlungsverfahren eine der wenigen wirksamen Möglichkeiten für den Widerstand gegen die Walze der Herrschaftsmaschine, die sowohl unbequeme Journalisten als auch normale Menschen überrollen kann. Im Sommer 2019 wurde Golunow nach einer Reihe von Artikeln zum Thema Korruption des versuchten Drogenhandels beschuldigt. Viele Menschen sind damals für den Journalisten eingetreten. Wenige Tage später wurde die Anklage fallen gelassen, mehrere an der Konstruktion des Strafverfahrens beteiligte Vollzugsbeamte wurden entlassen. Jetzt verhandelt ein Moskauer Gericht den Fall derjenigen, die Golunow Drogen untergejubelt haben.
Kurz nach der Nachricht von der Verhaftung Safronows gab es in Moskau Einzelpikets zu seiner Unterstützung, die Protestierenden wurden fast sofort verhaftet. Doch bisher scheinen nur Journalisten unter ihnen zu sein.