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„Das sollte wohl eine Einschüchterung sein“

Pussy Riot-Aktivist Pjotr Wersilow war einem internationalen Publikum unlängst beim Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft aufgefallen. Dort stürmte er das Spielfeld zusammen mit weiteren Aktivistinnen von Pussy Riot – „der Milizionär kommt ins Spiel” nannte sich die Aktion, mit der sie auf Allmacht und Willkür der russischen Polizei hinweisen wollten. 

Am 11. September waren bei Wersilow plötzlich Sehstörungen und andere Symptome aufgetreten, nachdem er den ganzen Tag im Gericht in Moskau verbracht hatte, wo ein Urteil über die beiden Pussy Riot-Aktivistinnen Nika Nikulschina und Diana Dedenko gefällt wurde. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen auch die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde.

Inzwischen ist Wersilow aus dem Krankenhaus entlassen, hält sich aber weiter in Berlin auf. Im Interview mit Iwan Kolpakow, Chefredakteur von Meduza, erklärt er, wen er hinter dem Giftanschlag vermutet. Und weshalb er den Grund dafür nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sieht.
Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden. Sie hatten für das Online-Medium ZUR des Oligarchen Michail Chodorkowski an einem Film über die russische Söldner-Einheit Wagner gearbeitet. Diese Privatarmee wird Jewgeni Prigoshin zugeordnet – genauso wie die Nachrichtengentur RIA FAN. Über deren Mitarbeiter hatten die drei Ermordeten den Fixer Martin gefunden, berichtet Wersilow.

Quelle Meduza

Treffen in einer Berliner Kneipe – Iwan Kolpakow, Pjotr Wersilow und Meduza-Herausgeberin Galina Timtschenko / Foto: privat

Meduza: Wie geht es dir?
Pjotr Wersilow: Im Vergleich zur letzten Woche fühle ich mich insgesamt sehr gut.

Weißt du, wie und wann man dich vergiftet haben könnte?
Die Ärzte haben mich zu diesem Tag, dem 11. September, sehr eingehend befragt. Natürlich ist das kompliziert: Ich habe eine Menge Cafés aufgezählt, wo wir Kaffee getrunken und Sandwichs gekauft haben. Damit kann man schwer arbeiten, weil es eine große Anzahl potentieller Punkte gibt [an denen man Wersilow hätte vergiften können – Meduza]. 

Und zu welcher Version neigst du?
Es ist schwierig, irgendwelche Schlüsse zu ziehen, denn nach dem, was die Ärzte über diese rätselhafte Substanz gesagt haben … Sie sagen: Eine Eigenschaft der Substanz ist, dass die Wirkung sehr plötzlich einsetzt und sich dann weiter entfaltet. Wenn das stimmt, dann ist es irgendwann am 11. September passiert.

Was denkt eigentlich deine Mutter über das, was passiert ist?
Meine Mutter kapiert ganz genau, dass das keine normale Lebensmittelvergiftung war, mit allem, was dann passierte. Meine Mutter glaubt nur nicht an Verschwörungstheorien. 

Auf welcher Ebene wurde entschieden, dich zu vergiften, was meinst du? Ist für dich völlig klar, dass es die Machtelite war?
Außer der russischen Machtelite kommt keiner in Frage. Welche Ebene? Mir scheint, es gibt auf jeden Fall einen gewissen Handlungsrahmen, innerhalb dessen sie tun können, was sie wollen. Und dieser Rahmen ist von höchster Ebene abgesegnet. 

Außer der russischen Machtelite kommt keiner in Frage

Hast du jetzt gerade Angst um dein Leben?
Nicht so richtig.

Wir sind in diesem Restaurant mit deinem deutschen Begleitschutz. Und du denkst trotzdem nicht: „Huch, vielleicht ist mein Leben tatsächlich in Gefahr?“
Nun, ich nehme das schon an. Aber wenn du dich in Russland bewusst entscheidest, so etwas zu machen, dann hast du keinen Anspruch darauf, zu sehr um diese Dinge besorgt zu sein. Sonst solltest du nicht in Russland leben und nicht solche Dinge tun.

Du sagtest bereits, du hast zwei Erklärungen [weshalb du vergiftet wurdest – dek]. Die eine hängt zusammen mit den Recherchen zur Zentralafrikanischen Republik, bei der anderen geht es um eine Rache für die Aktion Der Milizionär kommt ins Spiel. Zu welcher Version tendierst du eher?
Natürlich ist die [erste – dek] Version mit dem GRU deutlich realistischer. Denn die Moskauer Polizei [die die Aktion von Pussy Riot beim WM-Finale nicht verhindern konnte – Meduza], das ist einfach nicht die richtige Organisation dafür. Die haben nicht das professionelle Rüstzeug für solche Sachen, das ist nicht deren Kompetenzbereich. Es ist äußerst zweifelhaft, dass die Moskauer Polizei eine solch heftige Geste wie diese Vergiftung hätte zulassen können.

Es ist äußerst zweifelhaft, dass die Moskauer Polizei eine solche Vergiftung hätte zulassen können

Lass uns über das Afrika-Thema sprechen. Das ist der rätselhafteste Teil der ganzen Geschichte. Frage Nummer eins: Stimmt es, dass du mit Rastorgujew in die Zentralafrikanische Republik fahren wolltest?
Ja, das stimmt. Sascha [Rastorgujew] und ich haben in letzter Zeit an vielen unterschiedlichen Projekten gearbeitet, alten wie neuen. Er erzählte, dass sie diese Idee haben – [in die Zentralafrikanische Republik – Meduza] zu fahren. Ich hab quasi von mir aus angeboten mitzukommen. Es ist bekannt, auf wessen Kosten sie gefahren sind [die Reise wurde organisiert vom Kontrollzentrum für Investigatives ZUR, das Michail Chodorkowski gehört – Meduza]. Ich hatte von mir aus angeboten, mit ihnen aufzubrechen …

Warst du mit Rastorgujew befreundet?
Ja. Sascha war ein ziemlich enger Freund. Wir kannten uns gut, über viele Jahre. Seit 2012 oder sogar 2011.

Woher kam die Idee mit der Zentralafrikanischen Republik?
Von Rastorgujew.

Was hat er dir gesagt?
Wir saßen im Café, er erzählte: Ich will ein Projekt machen, die Aktivitäten von Wagner untersuchen in der Zentralafrikanischen Republik, im Sudan und in Syrien.

Was hatte Rastorgujew davon? Ich versteh das nicht. Wagner, die Zentralafrikanische Republik – sowas ist doch überhaupt nicht seins.
Sascha hatte viele solcher interessanten Geschichten. Er hat das alles völlig bewusst gemacht … Er hat erzählt, dass er vorhat, in den Sudan zu fahren, nach Syrien und so weiter. Obwohl er sowas nie zuvor gemacht hatte, war er voller Enthusiasmus und Interesse.

Glaubst du, er wollte einfach an einen Ort, wo die Hölle auf Erden ist?
Nein, nicht in die Hölle auf Erden. Aber in seinem Kopf formte sich tatsächlich ein schöpferisches Narrativ, dass es interessant wäre, auch solches Material aufzunehmen und damit zu arbeiten.
Auf Facebook und sonstwo gab es zahlreiche Kommentare wie: „Der arme Sascha wurde aus Geldnot gezwungen in die Zentralafrikanische Republik zu fahren, von Michail Borissowitsch Chodorkowski persönlich.“ Das ist völliger Käse. Sascha war tatsächlich dazu bereit, er war daran interessiert. Niemand hat ihn gezwungen zu fahren, er hat sich nicht aus irgendeiner schlimmen Geldnot heraus dazu bereit erklärt.

Niemand hat Sascha gezwungen zu fahren, er hat sich nicht aus irgendeiner Geldnot heraus dazu bereit erklärt

Mit den Finanzen war alles in Ordnung bei ihm?
Vielleicht war nicht alles völlig in Ordnung, aber es war für ihn nicht der entscheidende Punkt, eindeutig.

Warum hast du entschieden, dass du auch dahin fahren musst?     
So albern das klingt, aber in erster Linie wollten wir dort über verschiedene zukünftige Projekte sprechen.

Das heißt, du hast dir das vorgestellt wie eine Urlaubsreise?
Naja, nicht wie eine Urlaubsreise. Als ich hörte, was er erzählte, hab ich einfach gesagt, dass ich auch interessiert sei, mit ihnen zu fahren.

Was hat er erzählt? Was hat er gesagt? „Wir fahren dahin und machen …“ – machen was?
„Wir machen einen Film über Wagner.“

Glaubst du auch, dass die Reise [von Rastorgujew, Dshemal und Radtschenko in die Zentralafrikanische Republik – Meduza] im Prinzip gut vorbereitet war? 
Nein, ich glaube, dass die Reise absolut greulich vorbereitet war. Das ist vor allem Saschas Schuld, nicht die der anderen. Denn er hat eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die die Leute vom ZUR nicht ausreichend hinterfragt haben. Und diese Entscheidungen haben sie wir alle wissen wohin geführt …

Was für Entscheidungen?
Die Entscheidung, sich dieser Gestalt namens Martin anzuvertrauen, der wahrscheinlich auch gar nicht in Afrika war.

Dass sie über den RIA FAN-Mitarbeiter Romanowski einen Fixer gefunden haben, gehört deiner Meinung nach auch zu diesen Entscheidungen?
Ja. Das ist absolut irre, denn eigentlich liegt es auch an Romanowski, dass die Jungs tot sind. So stellt sich mir das Bild dar.

Sie hätten sich nie dieser Gestalt namens Martin anvertrauen dürfen, der wahrscheinlich auch gar nicht in Afrika war

Du verknüpfst ihre Ermordung damit, dass sie ihren Fixer über eine Person gefunden haben, die bei RIA FAN arbeitet? Habe ich das richtig so akzentuiert?
Ja, genau genau genau. Absolut.

Aber zu dem Zeitpunkt, als sie vorhatten zu fahren, wusstest du nicht, wo sie diesen Fixer aufgetrieben haben?
Nein. Als wir begonnen hatten, unsere [WM-Pussy Riot-]Aktion vorzubereiten, habe ich ihre täglichen Angelegenheiten etwas weniger verfolgt. Es fehlte einfach die Zeit. Unsere Aktion hatte von Anfang an Priorität für mich. 

Wenn man annimmt, dass ihr Fixer Martin derjenige war, der den Hinterhalt auf sie koordiniert hat, scheint es bedeutungslos, wie die Reise organisiert war.
Ich stimme dir völlig zu, dass da auch zehn Jeeps mit Begleitschutz hätten sein können. Ob nun zehn Jeeps oder nur eine Person – das spielt überhaupt keine Rolle.

Gab es einen Moment, in dem du auch nur eine Sekunde in Erwägung gezogen hast, dass es einfach ein Raubüberfall war?
In den ersten Tagen war tatsächlich alles unklar und die Version eines Raubüberfalls schien möglich. Aber dann haben mir verschiedene Leute, mit denen ich gesprochen habe, gesagt, dass ein Mord an einem Weißen in der Zentralafrikanischen Republik etwas komplett Ungewöhnliches ist. Das letzte Mal starb dort eine französische Journalistin bei einem zufälligen, aber realen kriegerischen Schusswechsel vor vier Jahren. Es gibt da keine Tradition, weiße Menschen umzubringen.

In allen Beiträgen, die auf den Tod von Sascha, Orchan und Kirill folgten, wurde behauptet, dass sie zunächst nach Syrien fahren wollten und dann irgendwann ihren Plan geändert und entschieden haben, mit der Zentralafrikanischen Republik zu beginnen, weil sich das mit Syrien nicht ergeben hat. 
Völlig richtig, genau. Sascha hat eine Freundin in Berlin, die Romanowski bei irgendeiner Krankheit geholfen hat. Also waren sie in Kontakt. Diese Freundin hat Sascha gesagt, dass es einen Typen gibt, der viel in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik und anderswo arbeitet: „Sprecht mal mit dem, vielleicht versteht ihr euch.“
Sascha ist mit Romanowski in Kontakt getreten. Und darauf bauen alle weiteren Glieder der Kette auf.

Sascha ist mit Romanowski von RIA FAN in Kontakt getreten. Darauf bauen alle weiteren Glieder der Kette auf

Glaubst du nicht, dass das trotz allem eine ziemlich merkwürdige Sache ist? Jemand möchte an einen schrecklichen Ort fahren und ihm ist es gleich, ob nach Syrien oder in die Zentralafrikanische Republik.
Das erklärt sich durch gewisse psychologische Besonderheiten von Sascha. Er hat die Verantwortung übernommen für eine Reise genau in diesem Stil. Außerdem war da Orchan, dessen Vorstellungen darüber, wie man sich an Brennpunkten zu verhalten hat, bekannt sind. Diese explosive Mischung von Rastorgujew und Orchan hatte zweifellos ihren Einfluss auf alles.

Was dachtest du, als du erfahren hast, dass sie umgebracht wurden?
Ich habe natürlich Schmerz über Sascha empfunden. Das ist ein ganzes Spektrum von persönlichen Gefühlen, denn Sascha war schließlich nicht einfach nur ein Freund. Wir hatten so viele unmittelbar gemeinsame kreative Pläne … Darum war das ein Schlag für mich. 

Hattest du nicht das Gefühl, dass du dort hättest sein müssen? Dass du dich gedrückt hast?
Doch, das Gefühl hatte ich.

Und Schuldgefühle? Dass du das hättest verhindern können?
Ende Juni, als ich etwas hätte machen können, hatten sie noch überhaupt nichts fertig. Da konnte man noch nichts verbessern und herausfinden.

Was passierte nach den Morden in der Zentralafrikanischen Republik?
Wir wurden entlassen, und ich habe dann genauestens recherchiert, was da passiert war – und wer welche Untersuchungen durchführen kann. Um zu verstehen, was da vor sich geht. Als klar wurde, dass nicht besonders viel unternommen wird, haben wir ein kleines Team zusammengestellt …

Hast du Mediazona [dessen Herausgeber Wersilow ist – dek] vorgeschlagen, es zu machen?
Nein. Journalisten sind dort komplett schutzlos. Wir brauchten Leute, die die Region sehr gut kennen, dort viele Jahre waren und eine Vorstellung haben, wie man in solchen Angelegenheiten recherchiert.

Und du hast ein solches Team zusammengestellt?
Ja. Rund vier Tage nach den Morden.

Hast du die Arbeit geleitet?
Eher koordiniert. Die Aufgaben haben die Jungs [das von Wersilow koordinierte Rechercheteam – dek] selbst festgelegt. Wir hatten ein gemeinsames Ziel: alles zu sammeln, was auch nur die geringste Bedeutung für das Geschehene haben könnte.
Jetzt haben wir in gewissem Sinne die erste Etappe der Recherchen hinter uns. Sie überlegen, in welche Richtung man gehen kann, um die zweite Etappe zu starten.

Stimmt es, dass du am Tag deiner Vergiftung den ersten Bericht erhalten hast, den dein Team zusammengestellt hat?
Das war schon ein paar Tage vorher.

Hattet ihr beschlossen, ihn zu veröffentlichen?
Das hängt mit der zweiten Etappe der Recherchen zusammen. Uns ist wichtig sicherzustellen, dass die Veröffentlichung unserer Ergebnisse der zweiten Etappe nicht schadet.

Was kannst du erzählen von dem, was im ersten Bericht steht?
Der Bericht zieht einen völlig sicheren, in Beton gegossenen Schluss: Das war eine professionelle, auf sehr hohem Niveau organisierte Operation. 

Als die Jungs angefangen haben, die Figur Martin eingehender zu untersuchen, kam heraus, dass sein Anrufregister aus dem inneren System des Zentralafrikanischen Mobilfunkbetreibers gelöscht worden war. Es gibt keine Spuren von ihm in der Stadt, wohin die Jungs auch fuhren. 

Das war eine professionelle, auf sehr hohem Niveau organisierte Operation

Unsere Jungs wurden, wahrscheinlich, in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli ermordet. Genau 20 Minuten, nachdem der Fall öffentlich erwähnt worden war, hat Martin aufgehört zu antworten. Darüber hinaus hat er alle Apps, alle Chats, in denen Nachrichten mit ihm ausgetauscht worden waren, gelöscht und ist komplett verschwunden. Seine digitale Spur wurde sehr sorgfältig gesäubert.

Sind neben Martin irgendwelche neuen Beteiligten aufgetaucht?
Ja, es gibt einen Protagonisten, über den ich nicht sprechen kann. Er war wahrscheinlich der Koordinator zwischen Martin, dem Fahrer und allen anderen. Ein Afrikaner.

Glaubst du, dass das [die Ermordung der russischen Journalisten – dek] von der Zentralafrikanischen Regierung organisiert wurde?
Die Regierung Zentralafrikas, das sind dankbare Welpen, die ganz glücklich darüber sind, dass Wladimir Wladimirowitsch zugestimmt hat, sich ein wenig mit ihrer Region zu beschäftigen. Es wäre verrückt anzunehmen, dass diese Regierung entscheiden könnte, wie mit russischen Journalisten zu verfahren ist, die irgendwas recherchieren. Das ist eine komplett unwahrscheinliche Version.

Es wäre verrückt anzunehmen, dass die Zentralafrikanische Regierung entscheiden könnte, wie mit russischen Journalisten zu verfahren ist

Das heißt, deiner Meinung nach wurde die Entscheidung in Russland getroffen?
Ja.

Und wer hier könnte dies entschieden haben?
Ich halte nichts davon, immer die höchste Ebene zu beschuldigen, aber so wie ich die Psychologie des Geschehens hierzulande verstehe, sind solche Dinge ohne die Zustimmung der ersten Person nicht wirklich zulässig. Oder zumindest unter Beachtung einer allgemeinen Linie.

Eine Stammtisch-Reaktion darauf ist: Weshalb sollten Journalisten in Zentralafrika ermordet werden, wenn das sofort die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was die Russen dort machen?
Viele ähnliche Fälle – wie etwa der der Skripals – haben einen ziemlich demonstrativen Charakter. Wenn ihr das tut, tun wir jenes. Stellt euch darauf ein, dass ihr alle ermordet werdet.

Viele Fälle haben einen ziemlich demonstrativen Charakter: Wenn ihr das tut, tun wir jenes. Stellt euch darauf ein, dass ihr alle ermordet werdet

Das, was mit dir passiert ist, gehört für dich in diese Logik?
Bei mir ist überhaupt nicht klar, was sie damit wollten. Aber, anscheinend, ja.

Und du glaubst, dass man dich umbringen wollte?
Darüber würde ich am liebsten nicht sprechen. Glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass man mich umbringen wollte. Am ehesten, wenn man so darüber fantasiert, war das wohl ein Akt der Einschüchterung, oder so.

Hast du nach dem, was passiert ist, vor, in die Zentralafrikanische Republik zu reisen?
Nach dem Vorfall haben wir sofort überlegt, ob eine [mögliche] Reise unsererseits, unsere Anwesenheit irgendeinen Nutzen haben könnte. Und haben dann entschieden, dass das nur zu einer höllischen Aufregung und einem seltsamem Hin und Her führen würde. Es würde nichts Konstruktives bei rauskommen. Die Aufgabe besteht darin, dass die Leute, die sowas professionell machen können, die Möglichkeit bekommen zu arbeiten.

Und wann wird euer Bericht über die Zentralafrikanische Republik veröffentlicht?
Schwer zu sagen, wann der Moment gekommen sein wird, das seriös und öffentlichkeitswirksam zu tun. Wir müssen weiter graben.

Afrika ist einerseits ein Faß ohne Boden, andererseits nehmen die Leute dort die Ereignisse ganz anders auf; das könnte uns in die Hände spielen. 
Ich denke nicht, dass die Gruppe, die die Jungs ermordet hat, einfach so aus dem Tschad eingefallen und auf Kriegskamelen wieder in den Tschad zurückgaloppiert ist. Das sind wahrscheinliche Einheimische, die eine Verbindung zu irgendwelchen einheimischen Silowiki haben. Vielleicht sogar unter Kontrolle von Leuten von hier. Es gibt immer die Hoffnung, das mittels Recherchen noch Erkenntnisse darüber auftauchen, dass irgendwer ein Held Russlands ist. 

Hast du vor nach Moskau zurückzukehren?
Klar, auf jeden Fall.

Wann?
Ich denke, in etwas mehr als einer Woche, irgendwie so. Vielleicht auch etwas später. Ist noch nicht klar.

Was machst du hauptsächlich?
Das gleiche wie immer.

Allerlei Schandtaten?
Tatsächlich würde ich wirklich sehr gerne irgendeinen Durchbruch bei den Recherchen zum Geschehen in Zentralafrika erreichen.

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Pussy Riot

Pussy Riot ist eine Gruppe von Kunstaktivistinnen. Ab Herbst 2011 traten Frauen in Sturmhauben und bunten Kleidern moskauweit an öffentlichen Orten mit feministisch motivierten Punkperformances auf. Den Höhepunkt bildete im Frühjahr 2012 der Auftritt mit dem Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Für zwei der Mitglieder endete der anschließende Prozess mit Haft im Straflager. 

Am 7. November 2011 kam es an öffentlichen Orten in Moskau zu wilden Spektakeln. Auf einmal standen da drei Frauen mit grellbunten Kleidern und Sturmmasken auf einer Arbeitsbühne in einer Metrostation und später auf dem Dach eines Trolleybusses. Zu Punk-Klängen aus einem portablen Abspielgerät brüllte die eine in ein Mikrophon, die andere krachte auf einer E-Gitarre, alle drei sprangen wild herum. Die Schaulustigen dürften den vorgetragenen Text wohl kaum verstanden haben. Auf dem Blog von Pussy Riot war jedoch bald das Musikvideo zu sehen, zu dessen Produktion die Konzerte gedient hatten – Leg das Pflaster frei!  war der erste Hit von Pussy Riot, gesungen über das geloopte Riff eines Oi-Punk-Klassikers.

Als nur vier Monate später dieselben drei Frauen für ihren Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale verhaftet worden waren, bezeichnete man sie in den Medien häufig als Punkband. Zwar waren die jungen Frauen sicherlich begeistert von der rohen, negativen Energie des Punk, sie ließen jedoch auch keinen Zweifel daran, dass sie ihn in den Dienst einer Kunstaktion stellten. Kenner der Aktionskunst wie der Veteran des Moskauer Aktionismus der 1990er Jahre Anatoli Osmolowski, erkannten daher auch intuitiv: Die eigentlichen Vorläufer von Pussy Riot waren weniger im Riot Grrrl Movement, der weiblichen Aneignung des Hardcore in den 1990er Jahren zu suchen, als in Künstlerinnen-Gruppen wie den Guerilla Girls. Deren Gorillamasken erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Sturmhauben von Pussy Riot: Sie anonymisieren den weiblichen Protest. Der Blog von Pussy Riot listete etwa ein Dutzend Pseudonyme von Aktivistinnen auf.

 

 

Wie die Künstlergruppe Woina, in der zwei der später verhafteten Aktivistinnen, Nadeshda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch, tätig gewesen waren, war Pussy Riot exzentrische Weggefährtin der russischen Oppositionsbewegung, deren Demonstrationstätigkeit um den Jahreswechsel 2011/2012 ihren Höhepunkt erreichte. Im Dezember traten sie mit dem Song Tod dem Gefängnis, Freiheit dem Protest! auf. Sie sangen auf einem Schuppen vor einem Moskauer Untersuchungsgefängnis, in dem verhaftete Demonstranten festgehalten wurden, im gleichen Monat sangen sie auf dem Roten Platz Revolte in Russland – Putin hat sich eingepisst. Auch dies war noch nicht strafwürdig, erst die Aktion in der Kathedrale führte zur Anklage von Tolokonnikowa, Samuzewitsch und Maria Aljochina.

Obwohl die Anklage im Prozess das erste Mal den 2007 verschärften Chuliganstwo-Artikel (Störung der öffentlichen Ordnung)1 bemühte, gehört der Prozess aufgrund des zugeschriebenen Motivs der „Verletzung religiöser Gefühle“ in eine Reihe mit den Kunstgerichtsprozessen gegen die Ausstellungen Achtung, Religion! und Verbotene Kunst. Zwar hatten sich die Frauen in ihrem Punkgebet ja gerade an die Gottesmutter gewandt, sie möge doch Putin verjagen, doch wurden die Frauen nicht wie politische Aktivistinnen, sondern wie diabolische Junghexen behandelt. Jede politische, künstlerische oder auch nur kulturelle Facette ihrer angeblich blasphemischen Handlungen sollte ausgeblendet werden. Ihr aus der Punk-Szene übernommener Pogo-Tanz wurde so zum Veitstanz umgedeutet. Zeugen der Verteidigung wie die Theologieprofessorin Jelena Wolkowa oder der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurden nicht zugelassen, kirchliche Kodizes durchziehen die Urteilsbegründung – für Tolokonnikowa und Aljochina endete der Prozess mit Straflager, Samuzewitsch erhielt eine Bewährungsstrafe.

Während das Urteil im Ausland mit großer Empörung aufgenommen wurde, ging das innenpolitische Kalkül der Kampagne gegen Pussy Riot durchaus auf. Insbesondere die vom Lewada-Zentrum für Meinungsforschung regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Prozess dokumentieren, dass die massenmediale Inszenierung der Ereignisse um Pussy Riot in den kunst- und oppositionsfernen Schichten der russischen Bevölkerung der Regierung Putin merkliche Unterstützung brachte. Und das  in einer Zeit, in der sie durch Vorwürfe der Korruption und Wahlfälschung unter Druck geraten war.

Seit Tolokonnikowa und Aljochina wieder auf freiem Fuß sind, leihen sie ihren politischen Zielen ihre von der Staatsmacht gewaltsam entblößten, medienwirksamen Gesichter. Neben der Gründung einer NGO, die sich für Gefangenenrechte in Russland einsetzt, kam es zu diversen Interaktionen mit big Politics, Musik- und Showbusiness. So traten Pussy Riot in einer Folge der Netflix-Serie House of Cards auf und produzierten für den Abspann mit Johanna Fateman der Riot-Grrrl-Band Le Tigre ein Musikvideo für den Abspann. Auf dem alten Blog von Pussy Riot kritisierten anonym gebliebene Aktivistinnen den „Ausverkauf“ von Pussy Riot scharf. Im Sommer 2015 beging die Frau mit der Sturmmaske virtuellen Selbstmord auf dem ursprünglichen Blog von Pussy Riot. Bemerkt hat diese Auflösung der Ursprungs-Gruppe jedoch kaum jemand.

Zur Fußball-WM 2018 in Russland traten Mitglieder der Gruppe erneut in Erscheinung, als sie zum Endspiel in Polizei-Kostümen auf das Spielfeld rannten, um so auf eingeschränkte Meinungsfreiheit im Gastgeberland aufmerksam zu machen. Sie forderten unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen im Land. Für ihre Aktion wurden vier Mitglieder von Pussy Riot zu 15 Tagen Haft verurteilt. Einer von ihnen, Pjotr Wersilow, kam am 11. September mit plötzlichen Sehstörungen und anderen Symptomen ins Krankenhaus. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde. Nach seiner Entlassung sprach er mit dem russischen Exil-Medium Meduza und sagte, dass er den Grund für die Vergiftung nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei seinen Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sehe. Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden.
Nur zwei Tage nach dem  WM-Finale kam Pussy Riot erneut in die Schlagzeilen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass die Russische Föderation mit ihrem Urteil über das Punk-Gebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale die Menschenrechte der Aktivistinnen verletzt hatte. Russland muss nun Schmerzensgeld und Schadensersatz an die Verurteilten zahlen. Da der Oberste Gerichtshof Russlands schon im April 2018 eine Entscheidung des EGMR mit Schulterzucken quittierte, bleibt es fraglich, ob Russland tatsächlich die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzung gegenüber Pussy Riot-Mitgliedern übernehmen wird.


1.In der Form, in der er zur Anwendung kam, besteht der Artikel seit 2007. Damals hatte eine Gesetzesänderung auch nichtgewaltsame Handlungen unter strafrechtliche Verfolgung gestellt, wenn sie die „öffentliche Ordnung grob verletzen“, indem sie z. B. durch „politischen, ideologischen [...] religiösen“ Hass eine „tiefe Verachtung der Gesellschaft“ deutlich machen. Für einen Überblick über die Gesetzesänderungen siehe Livejournal Rimma Poljak: Kakie izmenenija preterpela pri Putine statʼja 213 UK RF «Chuliganstvo» 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)